34. Trockenübung

Dann war die Rutschpartie urplötzlich vorbei.

Von einer Sekunde zur nächsten lag ich zappelnd auf dem Steinboden des Foyers.

Kein Wasser weit und breit. Kein Reißen und Zerren und vor allem kein Mangel an Sauerstoff, obwohl mein Schädel sich anfühlte, als sei er randvoll mit Blubberbläschen gefüllt.

Das war ja wohl vollkommen verrückt, was eben passiert war! Filippa vor der Tür … mein Vater … der geöffnete Tropfen aus dem Ewigen Ozean … und die Wächterin mittendrin. Mehr gaga geht nicht! Mit aller mir zur Verfügung stehenden Willenskraft unterdrückte ich einen sich ankündigenden Lachanfall. Vermutlich hätte er sowieso in einem Husten geendet, denn mein verkrampfter Brustkorb hatte noch nicht mitbekommen, dass die aus dem Nichts hervorbrechende Flut genauso schnell wieder verschwunden war.

Neben mir rang Jakob nach Luft, wobei er mich weiterhin mit schmerzhafter Entschlossenheit festhielt.

»Papa, du kannst mich loslassen. Alles ist wieder in Ordnung.«

Doch Jakob stand zu sehr unter dem Eindruck des sich unvermittelt auftuenden Strudels, um schon reagieren zu können.

So gut es mit meinem Arm im Schraubstockgriff meines Vaters eben ging, setzte ich mich auf und verschaffte mir einen Überblick. Vom Wasser war nicht die geringste Spur zu entdecken, genau wie von Tammo. Dafür sah ich unter einer hochbeinigen Kommode Filippa, die sich gerade aufrappeln wollte und dann panisch zu schreien anfing, als ihr klar wurde, dass sie eingeklemmt war. Sollte sie ruhig allein zusehen, wie sie aus der Situation herauskam. Die Haustür war geschlossen und ein Kläffen verriet, dass Lutz um Einlass bat. Allem Anschein nach hatte Tammo ihn vorsorglich nach draußen gebracht, was auch richtig war, denn unsere alte Bulldogge konnte Wasser auf den Tod nicht ausstehen und wäre am liebsten über jede Pfütze getragen worden.

Langsam kam mein Vater auf die Knie, wankend, als wäre der Grund unter ihm keineswegs fest, sondern unsteter als Bootsplanken. Mit einem Seufzen zog er mich in seine Arme, die erste herzliche Umarmung seit Jahren. »Geht es dir gut?«, fragte er mit heiserer Stimme. »Wie konnte das nur passieren?«

»Die Phiole …«, bemühte ich mich zu erklären.

Nur war mein Vater allem Anschein nach viel zu geschockt, um jetzt darüber nachzudenken. Stattdessen betrachtete er mein Gesicht mit einer Intensität, die ich nicht von ihm kannte, geradezu als habe er jetzt erst bemerkt, dass es mich gab und ich nicht nur ein Einrichtungsgegenstand war, den meine Mutter ins Haus gebracht hatte.

»Es ist alles meine Schuld, ich hätte dich schon längst von diesem unseligen Ort fortbringen müssen, anstatt darauf zu warten, dass dir etwas zustößt. Ich war so blind … Jetzt wärst du fast ertrunken, während ich außerstande war, dich zu schützen. Und wofür das alles? Jahr für Jahr auszuharren, hat mir weder mein Leben noch Madelin zurückgegeben. Soll sich der Zirkel doch um Tiamat kümmern, darauf lauern sie ohnehin schon seit Jahren. Himmelshoch schenke ich ihnen obendrein.«

Ich stellte mir vor, wie es wäre, woanders von vorn anzufangen, ohne die Bürde, die Tiamat uns auferlegte, ohne Geheimnisse und ohne die ständige Bedrohung durch Besucher oder den Maelstrom. »Nein«, antwortete ich leise, aber bestimmt. »Himmelshoch ist mein Zuhause, mit allem, was es ausmacht. Ich möchte nicht von hier fortgehen, wirklich nicht. Aber falls du es willst, dann würde ich das verstehen. Es ist an der Zeit, dass du die Vergangenheit loslässt, Papa.«

»Was zur Hölle war das?« Filippa war es zu guter Letzt gelungen, sich unter der Kommode rauszuarbeiten. Zerzaust und mit hektisch blinzelnden Lidern versuchte sie, sich aufzurichten, nur um wie eine Betrunkene umzukippen. »Was hat dieser Kerl, dieser Freibaum getan? Er muss unbemerkt am Tor gewesen sein. Verdammt, er hat einen Maelstrom mitten auf dem Trockenen ausgelöst. Das muss es sein! Das Tor unter Himmelshoch stellt eine unwägbare Gefahrenquelle dar, Parson. Ich werde umgehend den Zirkel um Verstärkung anrufen, um Himmelshoch entsprechend zu sichern. Dieses Mal werden Sie sich nicht gegen eine Besetzung stellen – und wenn doch, dann können Sie sich auf was gefasst machen. Und du …« Sie zeigte mit dem Finger auf mich. »Du schuldest mir eine Erklärung und zwar eine verflucht überzeugende. Bis ich die nicht habe, stehst du für mich unter dem Verdacht, hauptverantwortlich für dieses Desaster zu sein, schließlich hast du den Jungen ins Haus gelassen.«

Mein Herz schlug mir bis in die Kehle. Ich hegte keinen Zweifel daran, dass Filippa mich notfalls einmal komplett auseinandernehmen würde, um an ihre Antworten zu gelangen.

»Das wird nicht nötig sein.« Mein Vater streichelte mir über den Kopf, dann stand er auf und trat vor Filippa. »Das, was wir soeben erlebt haben, war nichts anderes als eine ausgesprochen spektakuläre Illusion, hervorgerufen von der Veränderung in der Silberphiole. Sie schafft ein Abbild des Maelstroms in unseren Köpfen, und das ist auch schon alles, was passiert. Oder sehen Sie irgendwo einen Hinweis darauf, dass es den Strudel tatsächlich gegeben hat? Die einzige Frage, die wir Anouk stellen müssen, ist die, wie dieser Bengel ins Haus und an die Phiole gelangt ist.« Mein Vater sah mich streng an, aber es war nicht der typischer Ausdruck, mit dem er mich mein halbes Leben bedacht hatte, sondern ein künstlich aufgesetzter, wie ich verblüfft feststellte. Filippa hingegen bemerkte den Unterschied glücklicherweise nicht. »Auch wenn du keine Ahnung hattest, was es mit der Phiole auf sich hatte, so durftest du sie doch nicht einfach an dich nehmen, meine Liebe. Einmal davon abgesehen, dass du sie sogar verschenkt hast. An diesen Jungen, den du mir noch nicht einmal richtig vorgestellt hast.«

Vollkommen perplex stand ich da und starrte meinen Vater an, der gerade empört mit dem Kopf schüttelte. Nichts an ihm deutete darauf hin, dass er nicht hundertprozentig meinte, was er sagte. Sogar als Schauspieler war Jakob großartig. Ich leider nicht. Meine Lippen bewegten sich, aber außer wirrem Gemurmel brachte ich nichts hervor.

»Jakob, Sie haben diese Veränderung nicht gemeldet, wenn ich mich nicht irre«, bohrte Filippa nach.

Mein Vater zuckte mit den Schultern. »Nun, sie ist relativ neu. Für den ganzen bürokratischen Akt, der mit jeder Veränderung einhergeht, hatte ich bislang noch nicht die Zeit gefunden. Also, Anouk, ich warte auf eine Erklärung, wie die Phiole in die Hände dieses Jungen gelangt ist, der in unserem Haus obendrein nichts zu suchen hatte.«

Obwohl ich es kaum fassen konnte, dass mein Vater in Sekundenschnelle eine perfekte Ausrede erdacht hatte, gelang es mir endlich, auf sein Schmierentheater einzugehen. Wie eine überführte Schuldige ließ ich den Kopf hängen und scharrte mit der Fußspitze. »’Tschuldigung, Papa. Es tut mir schrecklich leid, gegen die Regeln verstoßen zu haben. Aber wegen meiner Krankheit habe ich Tammo ein paar Tage lang nicht gesehen, und du weißt ja, wie das ist, wenn man verliebt ist. Als er dann plötzlich unangemeldet vor der Tür stand, konnte ich ihn unmöglich fortschicken. Auf dem Weg in mein Zimmer hat er nichts von den Veränderungen bemerkt, dafür habe ich gesorgt. Das musst du mir glauben.«

Jakob runzelte die Stirn. »Das tue ich, aber entscheidend ist in diesem Fall die Phiole.«

Ich schlug mir die Hände vors Gesicht, als würde ich mit Tränen kämpfen, um Zeit zu schinden. Eine Geschichte musste her, ganz rasch … Falls ich wegen meiner grottig schlechten Schauspielkünste nicht schon längst aufgeflogen war. »Die Phiole … Die ist so schön«, brachte ich stockend hervor.

Filippa packte mich hart am Handgelenk und zwang mich, sie anzusehen. »Du hast mit deiner Dummheit schon für genug Probleme gesorgt, um die ich mich kümmern muss. Also reiß dich gefälligst zusammen und verschwende nicht unnötig meine Zeit.«

Ich biss meine Zähne, so hart es ging, aufeinander und ignorierte den Schmerz an meinem Handgelenk. Andernfalls stand zu befürchten, dass Jakob sich einmischen würde – und das wollte ich nicht. Filippa hatte recht, meine Probleme nahmen von Minute zu Minute zu. Jeden Moment konnte Sander durch das Tor zurückkehren, ich würde meinem Vater, auch wenn er mich jetzt deckte, später eine plausible Erklärung für alles liefern müssen, und in ein paar Stunden würde es in Himmelshoch nur so wimmeln von Wächtern, die anschließend Jagd auf Tammo machen würden. Ich musste diese Angelegenheit schleunigst und mit möglichst hoher Schadensbegrenzung hinter mich bringen.

»Papa hatte die Phiole im Kellergewölbe auf seinem Schreibtisch liegen gelassen, ganz lieblos in ein wenig Seidenpapier eingeschlagen zwischen den Notizstapeln und dem ganzen Salz. Ich dachte, es sei ein Schmuckstück von meiner Mutter, so hübsch, wie sie ist. Deshalb habe ich die Phiole heimlich an mich genommen. Tammo war ganz begeistert von ihr, und da ich aus Erfahrung nur allzu gut weiß, wie die Reaktion meines Vaters ausfiele, wenn ich sie selbst tragen würde, habe ich sie ihm geschenkt. Ein Liebesbeweis. In seiner Nervosität muss Tammo sie versehentlich geöffnet haben und ist dann vor Schrecken geflohen, als der Strudel aufkam.«

Endlich gab Filippa mein Handgelenk frei. »Das werden wir umgehend herausfinden. Du wirst mir seine Adresse geben und mir alles über diesen Jungen und seine Familie erzählen, was ich wissen muss, um den richtigen Ansatz zu finden, damit diese Geschichte nicht ihre Kreise zieht. Und was noch viel wichtiger ist: Ich will diese Phiole.«

»Selbstverständlich«, mischte Jakob sich ein. »Wir werden die Arbeit des Zirkels natürlich mit allen Kräften unterstützen. Schließlich ist niemandem damit gedient, wenn die Familie Freibaum tiefer als nötig in diese Angelegenheit hineingezogen wird. Und was die Phiole anbelangt, so sollten wir sie umgehend vernichten, so, wie ich es ursprünglich geplant hatte. Sie stellt ein viel zu großes Sicherheitsrisiko dar.«

Filippa legte den Kopf schief wie eine Katze, kurz bevor sie sich auf ihr Opfer stürzt. »Ob die Phiole vernichtet wird, wird der Zirkel entscheiden. Genau, wie er darüber entscheiden wird, was nun mit Himmelshoch geschehen soll. Mir scheint es, dass wir uns viel zu lang von Ihren Versicherungen, Tiamat sei unter Kontrolle, haben einspinnen lassen, Jakob. Dieses Mal werden wir uns dessen selbst versichern – mit oder ohne Ihre Unterstützung.«

TIAMAT – Liebe zwischen den Welten
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