37. Come to me again, in the cold cold night
Ich träumte von goldenem Lichtschein, der über Wellenkämme glitt, von ineinandergeschlungenen Wasserströmungen, die an das Liniengeflecht auf Sanders Schulter erinnerten, von süßen Tiefen und dem Kribbeln von Gischt auf nackter Haut. Ich träumte von Wellen, die mich umschmiegten und dem Geschmack von Salz auf den Lippen, wie wenn man an einem stürmischen Tag am Meer steht.
Das Gefühl war so wunderbar, dass ich den Schlaf hinter mir ließ, um mir über die Lippen zu lecken. Doch ich traf auf einen Widerstand … Einen mir vertrauten Widerstand.
Ein sanfter Kuss lag auf meinen Lippen.
Ich wagte es nicht, die Augen auch nur einen Spalt zu öffnen, plötzlich erfüllt von der Sorge, ich würde doch noch träumen und im Erwachen alles zerstören. Ich wollte diesen Kuss behalten, selbst wenn er nicht mehr als eine Illusion war. Für eine Illusion allerdings fühlte sich der Druck der Lippen auf meinen zunehmend echt an, bis er plötzlich nachließ.
»Sander?«, wisperte ich.
»Von wem lässt du dich denn sonst noch so wach küssen, du schlafende Schönheit?«
Obwohl beim Klang seiner Stimme ein Sturm durch meinen Körper fegte, der die letzten Spuren von Müdigkeit wegwischte, blieb ich regungslos auf der Seite liegen. Nur ein Lächeln konnte ich nicht zurückhalten. Sanders Hand streichelte meinen Nacken entlang über meine Schulter hinab zur Senke meiner Taille. Ich konnte seinen Atem auf meinen Wangen spüren und nahm seinen Geruch nach Salz wahr, als er sich vorbeugte, um mir ins Ohr zu flüstern.
»Reicht ein Kuss vielleicht nicht aus, um dich zu wecken? Oder ist dir noch nicht danach, der bösen Realität ins Auge zu blicken? In dem Fall könnte ich dir eine Geschichte erzählen über ein magisches Reich, das sich der Ewige Ozean nennt.«
Zustimmendes Murmeln, mehr gab ich nicht von mir. Dafür wurde ich prompt ins Ohrläppchen gebissen, wenn auch nur sacht. Dann glitt Sander neben mich auf die Pritsche, sodass sein Körper eng an meinem lag. Ich kuschelte mich an ihn, jedoch nicht allzu sehr, denn ich wollte seine Geschichte hören, bevor ich mich in seiner Berührung verlor.
»Es gab einen Jungen, der stand schon sehr lange vor einer verschlossenen Tür, bis er plötzlich herausfand, dass die Tür gar nicht verschlossen war. Er brauchte nur die Klinke herunterdrücken und schon wurde er eingelassen. Neugierig und auch ein wenig bange, schaute er auf das, was hinter der Tür lag, aber bevor er sich’s versah, war er schon hindurchgestolpert … In eine Welt, in der ihm nichts vertraut war und sich doch alles vertraut anfühlte. Obwohl seine Füße keinen Grund fanden, konnte er laufen. Obwohl kein Laut aus seinem Mund drang, konnte er sprechen. Obwohl die Welt nur aus Blau und Grau bestand, sah er ein wunderbares und schreckliches Reich zugleich. Und er sah Wesen, die ihm ähnelten, dabei gab es kaum eine Ähnlichkeit zwischen dem Jungen und ihnen. Nur ein Geschöpf schien von der gleichen Art wie er zu sein, aber es schlief, es schlief mit einem glücklichen Lächeln im Gesicht. Während der Junge herumgeführt wurde, begriff er, dass alle Märchen, die er über dieses Reich hinter der Tür gehört hatte, wahr sind. Und er begriff, dass er sich sputen musste, dass er schon viel zu viel Zeit vergeudet hatte. Denn ganz gleich, wie fantastisch dieses Reich war, sein wahres Leben fand auf der anderen Seite der Tür statt. Und nachdem der Junge wieder durch die Tür geschlüpft war, stellte er fest, dass sich sein Zuhause so anfühlte, als stecke er in Beton fest. Alles erscheint festgefügt, es gibt bloß wenig, das er beeinflussen kann. Allerdings ergeht es ihm nur für einen kurzen Moment so, denn dann erinnert er sich daran, was diese Welt trotz aller Abstriche zur richtigen für ihn macht – und das Gefühl, zu erstarren, verfliegt.« Sander hielt inne. »Und, hat dir das Märchen gefallen, du immer noch schlafende Schönheit?«
War es möglich, die Sehnsucht eines anderen Menschen mit den Sinnen wahrzunehmen? Ich glaubte, Sanders Ungeduld geradezu zu schmecken. Ein überaus aufregender, berauschender Geschmack. Trotzdem hielt ich still.
»Okay, also noch ein kleiner Nachschlag. Der Junge beschließt, das zu tun, was das Leben in dieser Welt so richtig schön lebenswert macht: seine Angebetete mit Küssen zu bedecken. Zuvor muss er allerdings einer unruhigen Bulldogge erlauben, die Wacht am Tor zu beenden und den überaus dringenden Morgenspaziergang anzutreten«, setzte Sander belustigt nach. »Nur für den Fall, dass du glaubst, wir würden von einer gewissen Bulldogge beobachtet. Werden wir nämlich nicht.«
Lutz ist also zu seinem Morgenspaziergang aufgebrochen. Was für ein braver Hund. Die Vorstellung von einer mächtig unter Druck stehenden Bulldogge, die wie eine Rakete in Richtung Kraftfeld absauste, kribbelte in meinen Mundwinkeln, aber ich beherrschte mich.
»O-kay. Was muss ich tun, damit du die Augen aufschlägst und endlich richtig bei mir bist, Anouk?«
Ich schmiegte mich fester an Sander, um dem Bedürfnis, ihn zu berühren, entgegenzuwirken. »Den Kuss habe ich schon, nun musst du noch dein anderes Versprechen einlösen.«
Sander stöhnte auf.
»Drei magische Worte«, flüsterte ich.
»Was hältst du von denen: Ich bin zurück. Obwohl … Da würde dann noch das entscheidende Wort fehlen – nämlich: deinetwegen.«
»Die Variante finde ich großartig, mehr, als du dir vorstellen kannst.«
Sanders Oberschenkel streifte über meinen, während seine Finger mit meinen Locken spielten und dabei immer wieder meine Schulter berührten, bis sie dort schließlich liegen blieben. Allerdings nur für einen Moment, dann begannen sie sanft auf und ab zu streicheln. Ich musste nur ein Zeichen aussenden, dann würden seine Finger sich einen Weg über meine kribbelnde Haut bahnen. Nichts wünschte ich mir sehnlicher. Aber ich tat es nicht.
»Muss ich das wirklich aussprechen?« In Sanders Stimme lag ein Flehen. »Es klingt immer wie ein Stück Hollywood, als würden gleich die Geigen loslegen, eine große dicke Illusion. Was ich für dich empfinde, ist aber alles andere als eine Illusion. Als ich Tiamat passiert habe, war es alles, was ich noch besaß. Ich will es nicht klein machen und in dieses Drei-Worte-Korsett zwingen, das wahrscheinlich gerade irgendwo jemand als Abschiedsfloskel zwischen Tür und Angel dahinsagt. Ich will mein Versprechen nicht brechen, ich will es nur so wahrhaftig wie möglich erfüllen, indem ich dir beweise, was ich in Wahrheit für dich empfinde – und das schaffen diese abgegriffenen Wörter nicht.«
Ich horchte in mich hinein und stellte überrascht fest, dass ich Sander verstand. Vielmehr noch: Ich begriff, wie wichtig ihm es war, dass ich keinen Zweifel an seinen Gefühlen hegte.
»Du warst von Anfang der Mensch für mich, der über mein Leben entscheidet«, flüsterte er. »Du bist meine erste Erinnerung, du hast mir meinen Namen und einen Platz in dieser Welt gegeben. Ich brauchte niemals daran verzweifeln, weil ich meine Vergangenheit nicht kannte, denn an deiner Seite wusste ich, wer ich war. Alles, was ich seitdem getan habe, zielte darauf, bei dir zu sein und dafür zu sorgen, dass es dir gut geht – unabhängig von dem, was Jakob, die Wächter oder sonst wer von mir erwartete. Lange Zeit sah es so aus, als würde mir das gelingen, bis …«
Ich öffnete ruckartig die Augen. »Es war kein Fehler, mich zu küssen. Wenn du das denkst, dann liebst du mich zwar, hältst es aber für falsch – und das wäre schrecklicher für mich, als wenn du meine Gefühle nicht erwidern würdest.«
»Anouk, würdest du das auch dann noch so sehen, wenn ich dich verlassen müsste?«
Es fühlte sich an, als würde ich durch verschiedene Kälteschichten tauchen. »Du wirst mich nicht verlassen.«
»So, wie die Dinge stehen, liegt das nicht in meiner Hand. Tiamat muss geschlossen werden. Sofort. Die Salzzeichen, die ich damals geschaffen habe, stehen kurz vorm Bersten. Die Randwandler haben zu große Schäden angerichtet, und es würde zu lange dauern, bis ich die Kunst erlernt hätte, um sie neu zu erschaffen. Davon einmal abgesehen, dass die Salzzeichen allein als Schutzwall niemals ausreichen würden. Sie würden früher oder später immer wieder nachgeben, weil sie nur dann für immer halten, wenn sie miteinander verschmolzen sind. Ich bin der Einzige, der Tiamat besiegen kann, aus genau dem Grund, warum ich mich so perfekt in eure Welt einfügen konnte. Ich trage beide Seiten des Tors in mir. Tammo hatte recht, ich musste in keinen menschlichen Körper eindringen und dafür einen Teil meiner Selbst aufgeben, weil ich genau der bin, den du vor dir hast. Um das Tor zu schließen, muss man in beiden Welten stehen. Ich bin der Kitt, der den Riss schließen wird, der Deich, der die drohende Flut zurückhalten kann. Verstehst du, Anouk? Ich habe keine Wahl.«
»Du … Du gehst zurück in den Ewigen Ozean. Du wirst dort ein Leben führen … Ist es das, worauf du hinauswillst?« Bitte, bitte lass es das sein.
Lediglich mit einer leichten Bewegung des Kopfes deutete Sander an, dass meine Hoffnung nicht erfüllt werden würde. »Ich kann weder bei dir sein noch im Ewigen Ozean, denn ich werde zwischen unseren Welten verharren, um den Riss zu schließen. Beide Seiten fließen in mir zusammen, meine menschliche Form und die Energie aus den Strömungen des Ewigen Ozeans. So schlimm es auf den ersten Blick erscheinen mag, es ist lediglich ein kleines Opfer gemessen an dem, was wir ansonsten verlieren würden.« Als ich mich schmerzerfüllt abwenden wollte, umfasste Sander mein Gesicht. »Erinnerst du dich, welche Karte Grandmama für meine Zukunft gezogen hat? Den Tod. Es ist meine Bestimmung, Tiamat niederzuwerfen, auch wenn es in einer gewissen Weise den Tod für mich bedeutet, weil ich aufhören werde, ein Leben zu führen. So gesehen war der Kuss eben doch ein Fehler, obwohl ich ihn nicht bereue. Es wäre jedoch bestimmt einfacher für dich gewesen, wenn ich jetzt immer noch die Nervensäge aus dem Kellerloch wäre, die nichts als Party und Besucher filetieren im Kopf hat.«
Gleichgültig, wie sehr ich mich bemühte, es gelang mir nicht zu begreifen, was Sander soeben gesagt hatte. Seine Worte prallten gegen eine Schutzwand in meinem Inneren. Die Wahrheit an mich heranzulassen, würde mich nämlich viel zu tief verletzen. Da half auch nicht Grandmamas Rat, mich ihr zu stellen. »Mit der Gefahr, die von Tiamat ausgeht, werden wir uns später auseinandersetzen, okay? Erst einmal müssen wir uns mit den ganzen Problemen beschäftigen, die seit deinem Besuch im Ewigen Meer über uns hereingebrochen sind.«
Ohne Punkt und Komma sprudelte aus mir heraus, wie Jakob von seinen Schuldgefühlen erzählt hatte und Tammo mir durch das Veränderdich die letzten Minuten meiner Mutter in unserer Welt und Sanders Übergang gezeigt hatte. Ich berichtete von dem unglücklichen Zusammenstoß von Filippa und Tammo, dem Wasserstrudel im Foyer, der Besetzung durch die Wächterschaft des Zirkels und dass Tammo bei den Laboes untergeschlüpft war. Als ich die Stelle erreichte, bei der ich mich mit Lutz in Tiamats Bannkreis zurückgezogen hatte, stieg Panik in mir auf. Gleich würde ich nichts mehr zu sagen haben, und dann würde Sander mir einen Kuss auf die Stirn geben und behaupten, dass diese Schwierigkeiten sich von allein auflösen würden, wenn er Tiamat erst einmal geschlossen hätte. Als stände ich kurz vorm Ertrinken, klammerte ich mich an ihm fest, krallte meine Finger in seine Haut und unterdrückte das Bedürfnis zu schreien. In meiner Not presste ich meinen Mund in die Beuge zwischen seinem Hals und seiner Schulter, so fest, dass es schmerzte. Trotzdem ließ der Druck in mir nur unmerklich nach.
»Beiß ruhig zu«, sagte Sander. »Du kannst mit mir tun, was du willst, solange es dir nur hilft.«
Zuletzt war es dieses Angebot, das mich beruhigte. Allein die Vorstellung, ihn zu verletzen, um meinen eigenen Schmerz zu überwinden, war so schrecklich, dass ich mich wieder in den Griff bekam. Zur Wiedergutmachung küsste ich die geschundene Stelle an seinem Hals, setzte eine Spur von Liebkosungen hinauf bis zum Schwung seines Kiefers. Ich löste mich ein Stück, sah ihn an und brach unvermittelt in Tränen aus.
»Ich schaffe das nicht«, rang ich mir ab, während er mich in seine Arme zog. »Es ist egal, ob du keine andere Wahl hast, ich werde es nicht überstehen, dich zu verlieren. Vielleicht schaffe ich es zu akzeptieren, dass Madelin für immer unerreichbar sein wird, aber noch einen solchen Verlust kann ich unmöglich verkraften. Ich brauche dich mehr als alles andere.«
»Ich brauche dich auch – und genau deshalb muss ich es tun. Denn wenn ich es nicht tue, wird es dich bald nicht mehr geben. Dich nicht, Jakob nicht, Lutz nicht, Laboe und Moritz nicht, das ganze verfluchte Marienfall und der Rest der Welt würden überrollt werden von einer unerschöpflichen Salzflut, während der Ewige Ozean als Heimat für die Fließenden verloren ginge. Anouk, ich weiß, du hast gehofft, wir könnten gemeinsam entscheiden, wie wir vorgehen wollen, weil es eigentlich der Beginn unserer gemeinsamen Zukunft sein sollte. Aber die Sache ist bereits entschieden und wir können uns nur noch voneinander verabschieden.«
Verabschieden? Wie verabschiedete man sich von jemandem, den man liebt, für alle Ewigkeit?
Ich fand keine Antwort darauf, als Sander und ich einander schweigend in den Armen hielten, eng aneinandergeschmiegt und doch schon von dem Wissen erfüllt, den anderen bereits verloren zu haben.