15. Wer bin ich?
Zum ersten Mal in meinem Leben erschien mir das Einläuten des Schulbeginns am Montagmorgen wie Himmelsglocken. Ich brauchte dringend ein Gegenprogramm zu Himmelshoch.
Filippa Margold war bis zum späten Abend geblieben, wohl in der Hoffnung, letztendlich doch noch Sander zu treffen. In dieser Hinsicht war sie enttäuscht worden. Er tauchte exakt zehn Minuten, nachdem die unzufrieden dreinblickende Wächterin abgerauscht war, auf. Jakob hatte ihn sofort im Foyer gestellt – und zwar nicht um gemeinsam auszuatmen, weil wir alle bei Filippas Besuch noch einmal glimpflich davongekommen waren, sondern um mit ihm über die Konsequenzen seines Ausflugs zu den Laboes zu reden. Ich hatte, auf der obersten Treppenstufe sitzend, noch mitbekommen, wie er Sander ein paar Extraschichten zur besten Partyzeit aufbrummte, dann hatte ich mich auf mein Zimmer verdrückt. Seitdem hatten Sander und ich einander gemieden. Das fiel uns in dem weitläufigen Herrenhaus nicht sonderlich schwer, aber ich litt trotzdem unter Schnappatmung, sobald ich Schritte hörte. Außerdem malte ich mir aus, wie ich mich verhalten würde, wenn sich unsere Wege kreuzten. Weit gekommen war ich bei diesen Überlegungen leider nicht, denn egal, in welche Richtung ich es spann, es klang immer verkehrt. Ein lässiges »Ach ja. Du wohnst ja auch hier«, würde er mir wohl kaum abnehmen, und ihn zu ignorieren wäre zwar einfach – aber auch kindisch. Von diesem unlösbaren Problem einmal abgesehen, rechnete ich jeden Augenblick damit, dass dieses flummiartige Kicherding in meinem Kakao auftauchte oder neckisch auf der Schulter meines Vaters saß, während der in einer Internatsbroschüre blätterte. Nichts dergleichen passierte, und obwohl ich froh darüber sein sollte, empfand ich eine gewisse Unzufriedenheit. Es war zweifellos die Ruhe vor dem Sturm.
Wie immer ein paar Sekunden vor Unterrichtsbeginn ließ Laboe sich auf den Stuhl neben mir fallen, ihr angestammter Platz im Geschichtskurs. Frau Dr. Zirowski, unsere Geschichtslehrerin, legte ohne weitere Umschweife mit ihrem Vortrag über die Weimarer Republik los. Wir gaben ihr die Chance, sich warm zu reden, dann lehnte ich mich zu Laboe rüber, um ein wenig zu plauschen.
»Erzähl! Ist der Wochenendausflug mit Grandmama nach Hamburg ein Erfolg gewesen?«
Laboe machte ein Daumen-hoch-Zeichen. »Und selbst? Hat Becks dich ins Koma gelangweilt?«
Ich spielte mit dem Gedanken, ihr von Tammo und meiner neuen Sicht auf ihn zu erzählen, aber das Thema wurde von Sanders Lippen auf meiner Stirn überschattet. Obwohl es keinen Sinn machte, stellte ich mir die beiden Jungen nebeneinander vor, und ich hätte Laboe nicht von dem einen erzählen können, ohne an den anderen zu denken. Also zuckte ich bloß mit den Schultern und erzählte von dem Liebesfilm, soweit ich ihn noch zusammenbekam. Drei Sekunden später hatte ich Laboes Aufmerksamkeit verloren, anstatt meinen Ausführungen zu lauschen, hörte sie dann doch lieber Frau Dr. Zirowski zu. Liebesfilme und Laboe – das ging so gut zusammen wie Sander und ein schicker Anzug. Mir war das mehr als recht, spätestens auf dem Pausenhof würde sie bemerken, dass sich etwas geändert hatte. Falls ich mir das ganze nicht eingebildete.
In der großen Pause stand Tammo nicht bei seiner Clique, insofern hatte sich tatsächlich etwas geändert. Ich ging zu Becks, die betreten Klaas’ Hand hielt, fast als würde sie ein ungeliebtes Pflichtprogramm absolvieren. Kaum sah sie mich, ließ sie ihren frisch gebackenen Wieder-Freund stehen und lief mir entgegen. In ihrem Überschwang schloss sie mich sogar in die Arme.
»Hallo, hallo, da bist du ja endlich! Und ganz allein … Wo ist denn Laboe abgeblieben?«
»Die wollte mit Moritz ein paar Süßigkeiten beim Kiosk kaufen, der arme Kerl hat vor lauter Cellospielen am Wochenende das Essen vergessen – behauptet er jedenfalls. Warum fragst du?«
Becks lief puterrot an. »Nur so. Und halt auch wegen Klaas. Weil wir jetzt wieder zusammen sind. Ich dachte halt, dazu hat sie bestimmt einen bissigen Kommentar auf Lager. Darauf wollte ich mich innerlich einstellen.«
»Nicht doch, da brauchst du dir nun wirklich keine Sorgen zu machen. Laboe interessiert sich null für dein Liebeslieben, solche Jungen-Mädchen-Geschichten gehen ihr voll ab.« Eigentlich hatte ich Becks damit beruhigen wollen, aber aus einem mir nicht ersichtlichen Grund verzog sie ihren Mund zu einer schmalen Linie.
»Auch wieder wahr. Na, dann werde ich mich mal um mein uninteressantes Liebesleben kümmern«, sagte Becks und war – schwups – auch schon an Klaas’ Seite, um ihn zu küssen.
Während ich noch über diese Achterbahnfahrt staunte, gesellte sich jemand an meine Seite. Es war Tammo Freibaum, das Gesicht immer noch von den Anstrengungen seiner Krankheit gezeichnet. Anstatt mit Eiltempo auf seine Clique zuzuhalten, blieb er neben mir stehen.
Mir sackte die Kinnlade herunter.
Tammo lächelte mich an, nicht süß oder entschuldigend, sondern mehr, als freue er sich im Stillen über meine Reaktion.
Das brachte mich komplett aus dem Gleichgewicht. »Hi, Tammo. Was machst du denn hier? Ich meine, hier bei mir? Deine Leute stehen doch dort drüben.« Ich zeigte auf seine Clique, obgleich mir bewusst war, dass ich meine Verwirrung damit überdeutlich verriet. Da hätte ich auch gleich brabbeln können.
Tammo nickte, die Ernsthaftigkeit in Person. »Ja, dort drüben stehen sie. Und dort stehen sie gut, wenn du mich fragst.«
A-ha. »Geht es dir denn wieder besser?«
»Schon, solange ich nichts essen muss. Aber heute zur Schule zu kommen, war offenbar keine sonderlich schlaue Idee. Mir ist das alles zu laut und schlicht zu viel.«
Das glaubte ich ihm unbenommen. Seine beiden Hände steckten in den Taschen seiner Jeans, den Rücken hielt er leicht gerundet, als fehle ihm für seine übliche Sportlerpose die Kraft. Und auch die Art, mit der er sprach, war ungewohnt zurückhaltend. Normalerweise redete er stets laut genug, damit der ganze Schulhof in den Genuss seiner Witze und Geschichten kam.
»Versteh mich nicht falsch, aber du siehst übel mitgenommen aus. Egal, bei welcher Lehrkraft du gleich Unterricht hast, sie wird dich definitiv nach Hause schicken. Mich wundert es, ehrlich gesagt, dass du überhaupt zur Schule gekommen bist.«
»Wirklich?«
Dieses ›Wirklich‹ sorgte dafür, dass mir das Herz bis zum Hals hochschlug. Blieb nur zu hoffen, dass Tammo wieder ganz der Alte war, sobald ihn die letzten Ausläufer dieser Magen-Darm-Geschichte verließen, ansonsten sah ich schwarz für meinen Gefühlshaushalt.
»Hast du einen wichtigen Kurs in der nächsten Stunde?«, fragte er.
»Ich würde Leichtathletik für mich persönlich nicht unbedingt als wichtigen Kurs bezeichnen. Es ist vielmehr so, dass ich vor der Sportstunde immer die Götter aller Ungelenkigen und Stubenhocker anbete, sie mögen die Erde aufreißen und mich von ihr verschlucken lassen, damit ich nicht hinmuss. Heute steht irgendwas mit Werfen auf dem Plan und ich hasse Bälle.« Das sagte ich ausgerechnet dem Basketball-Fanatiker Tammo. Sehr clever. Ich war echt groß im Flirten.
Zu meiner Verwunderung störte Tammo sich nicht weiter daran. »Wenn das so ist, was hältst du davon, dich stattdessen mit mir ins Café abzusetzen?«
»Wir beide? Also nur du und ich? Quasi allein?« Mehr fiel mir dazu spontan nicht ein.
Tammo nickte und sah mir dabei vollkommen gelassen ins Gesicht.
Verlegenheit war allem Anschein nach nicht unbedingt seins, denn im Gegensatz zu mir brachte ihn unsere Unterhaltung kein bisschen durcheinander. Trotzdem vermutete ich hinter seiner Abgeklärtheit kein abgezocktes Spiel, das er regelmäßig mit Mädchen durchzog. So tickte er nicht, dass hatte ich bereits oft genug in den Pausen feststellen dürfen. Seine übliche Anbaggernummer bestand darin, dem Mädchen seine Aufmerksamkeit zu signalisieren. Und dann sollte sie sich gefälligst ordentlich anstrengen, um ihn auf eine Verabredung festzunageln. Er war wie ein Kater, der einmal, mehr so nebenbei, maunzt und dafür erwartet, auf Händen getragen, gekrault und mit Leckerlies gefüttert zu werden. Für Tammo waren Mädchen eine Art nette Randerscheinung, er stand drauf, dass sie auf ihn standen, aber deutlich stärker brauchte er die Bestätigung seiner Kumpels. Umso mehr wunderte es mich, dass wir beide nun abseits standen und er seinen Freunden lediglich zuwinkte, als sie ihn bemerkten. Der harte Kern des Basketballteams war über diese Reaktion mindestens genauso erstaunt wie ich. Bevor uns allerdings jemand eine unkomische Bemerkung zurief, nahm Tammo meine Hand und zog mich hinter sich her.
»Ich bin eigentlich keine Schwänzerin«, erklärte ich atemlos, obwohl wir gerade erst ein paar Schritte gegangen waren. Die Leute würden sich das Maul zerreißen, so viel stand schon einmal fest. In der Ferne sah ich Laboe, die mir verblüfft nachsah, und ich sah auch Frau Langhorst, meine Sportlehrerin, die mich anlächelte. Sie war immer besonders nett zu mir, weil ich trotz meiner sportlichen Minderbegabung niemals aufgab. Sie wusste ja auch nicht, dass ich durch Sanders harte Schule »Wer aufgibt, den frisst der Besucher« gegangen war.
»Hallo, Anouk«, sprach Frau Langhorst mich an. »Wir sehen uns ja gleich im Sportkurs. Ich habe mir für heute etwas besonders Nettes ausgedacht: Wir machen einen Weitwurfwettbewerb, da kannst du dann mal sehen, dass es Leute gibt, die noch schlechter sind als du. Das motiviert ganz ungemein.«
Während ich über diesen pädagogischen Haken nachdachte, räusperte sich Tammo.
»Eigentlich haben wir gerade nach Ihnen gesucht, um Bescheid zu sagen, dass Anouk mich nach Hause begleitet. Mir ist nämlich schlecht.«
Zuerst zog Frau Langhorst die Brauen zusammen, um zu signalisieren, dass sie den Job schon zu lang machte, um sich von Schülern reinlegen zu lassen. Ein Blick auf Tammo überzeugte sie dann allerdings, dass er unmöglich so viel Elend vortäuschen konnte. »Einverstanden, Junge. Sieh zu, dass du ins Bett kommst. Ich sag im Lehrerzimmer Bescheid. Und du, Anouk, pass auf, dass er dich nicht ansteckt, du bist nämlich auch schon ganz blass um die Nase. Keinen Kuss zum Abschied, verstanden?«
Es gelang mir gerade noch zu nicken, ansonsten wäre ich in diesem Augenblick einfach nur gern tot umgefallen. Ich war bestimmt kein Engel, aber eine solche Lügennummer war nichts für mich. Trotzdem protestierte ich nicht, sondern folgte Tammo brav in Richtung Ausgang.
»Tut mir leid«, sagte er. »Die Sache mit Frau Langhorst eben ist wohl nicht nach deinem Geschmack abgelaufen. Ich wollte dich nicht in eine unmögliche Situation bringen, nur hattest du gerade gesagt, dass du Werfen hasst, und da dachte ich, so fügt sich ja alles bestens zusammen.«
Mit einiger Anstrengung schluckte ich den Kloß im Hals herunter. »Du bist beim Lügen ja nicht einmal rot geworden.«
»Ach was, unter dem ganzen Grün sieht man das Rot bloß nicht.«
Einen Moment hielt ich noch an meiner Entrüstung fest, dann ließ ich sie los. Schließlich hatte ich tatsächlich schwänzen wollen und hatte dann ja auch bei der Flunkergeschichte mitgespielt. Alles freiwillig, genau wie mich niemand dazu zwang, Tammos Hand zu halten.
Ich horchte in mich hinein, wie es sich anfühlte, meine Finger mit seinen verschränkt zu halten. Seine Hand war kühl und ein wenig feucht, was mich bei seinem Zustand nicht weiter überraschte und auch nicht störte. Aber etwas fehlte … Etwas, das diese Berührung zu etwas Besonderem machte. Allerdings blieb auch das Gefühl aus, dass es seltsam war, gemeinsam mit Tammo durch Marienfall in Richtung Innenstadt zu spazieren. Vor ein paar Tagen noch hatte ich allein bei seinem Namen Gähnanfälle erlitten und jetzt … Da war eine Anziehungskraft zwischen uns, die ich nur vage zu fassen bekam. Seit ich ihn vor Lutz’ Kläff- und Sabberattacke gerettet hatte, fühlte ich mich in seiner Gegenwart wohl, es war nach nur ein paar rasch ausgetauschten Sätzen Vertrautheit entstanden. Aber reichte das aus, um seine Hand zu halten? Tammo schien sich dabei nichts weiter zu denken, er ging locker neben mir her, machte weder Anstalten, mich loszulassen, noch mich plötzlich an sich zu ziehen und zu küssen. Eine solche Attacke hätte mich auch zweifelsohne überfordert. Im Küssen war ich alles andere als ein Profi, was ich bislang aber nur Moritz in angeschickertem Zustand gebeichtet hatte. Moritz ging es nicht besser, und so hatten wir überlegt, einander Nachhilfe zu geben, nur um uns im letzten Moment dagegen zu entscheiden. Ich kannte Moritz, seit er zwölf Jahre alt war, und auch wenn er sich mit jedem Tag mehr verschloss, so war er trotzdem wie ein Bruder für mich. Und Brüder küsst man nun einmal nicht.
Im Café verkündete Tammo, dass er mich einladen werde, und ließ mich auswählen. Das war nicht schwer: heiße Schokolade mit Schlagsahne.
»Zweimal, bitte«, sagte er zur Kellnerin.
»Bist du dir sicher, dass heiße Schokolade das Richtige für deinen lädierten Magen ist?«
»Nein, aber ich trinke sie trotzdem. Du musst dir übrigens auch nicht so viele Sorgen machen, mir geht es nämlich besser, als ich aussehe. Glaube ich zumindest.«
»Wie geht es dir denn überhaupt? Du wirkst irgendwie verändert auf mich.«
»Vielleicht liegt es daran, dass manche Begegnungen einen verändern.«
Ich wartete ab, dass Tammo durch ein Grinsen verriet, dass er mich gerade auf den Arm nahm oder dass er einfach nur eine ziemlich offensichtliche Baggertour fuhr, indem er sich gleich über den Tisch lehnte und mir seine Liebe gestand, ehe er mich an seine starke Brust zog. Aber nichts dergleichen geschah, er saß nur ein wenig selbstverloren da, forschte seinen eigenen Worten nach und spielte mit dem silbrigen Anhänger, den er an einer Kette um den Hals trug. Eine schön gearbeitete Minaturphiole.
»Manchmal ist es ja auch gar nicht so leicht, genau zu wissen, wer man ist«, nahm ich seinen Gedanken auf. »Ich habe sogar den Verdacht, dass jedes Mal, wenn man der Überzeugung ist, endlich bei sich angekommen zu sein, etwas passiert, das einem vor Augen führt, dass alles ganz anders ist. Da glaubt man, einen Menschen in- und auswendig zu kennen, und im nächsten Moment stellt sich heraus, dass man in Wirklichkeit einem Fremden gegenübersitzt. Wen wundert’s? Wenn man sich mit sich selbst nicht auskennt, wie soll man da die anderen kennen?«
Tammo sah mich so eindringlich an, dass mir ganz flau wurde. »Es überrascht mich nicht, dass dir dieses Thema vertraut ist. Schließlich lebst du mit Sander unter einem Dach.«
»Ja«, stimmte ich zu. »Sander ist immer für eine Überraschung gut.«