39. Schulterschluss
Es fiel ein gleichmäßiger Landregen und der Himmel war von einer Wolkendecke verhangen. Ein diesiger Schleier lag über den Feldern, sie waren durch die Tropfen auf den Fensterscheiben ohnehin kaum zu erkennen, denn die Reifen des Busses verwandelten jede Pfütze in eine Fontäne. Mir kam es vor, als erblickte ich die Welt nur aus der Ferne, so abgeschnitten von der Außenwelt fühlte ich mich.
Lutz saß zwischen meinen Füßen, und ich spürte, wie die Unruhe seinen gedrungenen Körper vibrieren ließ, während für einen Außenstehenden höchstens seine aufgerichteten Ohren verrieten, dass er jederzeit bereit war loszusprinten. Ob mein Ausnahmezustand auf ihn abfärbte? Als der Bus angefahren war, hatte ich aus jedem Fenster geblickt, erfüllt von der Angst, einen der Wächter zu erspähen, der sich an meine Fersen gehängt hatte. Doch meine Sorge schien unbegründet, meine Flucht war wohl selbst für diese Profis zu überstürzt gewesen. Ich wollte mich vorbeugen und Lutz seinen breiten Schädel tätscheln, aber das gelang mir nicht, ich war wie festgefroren, seit ich mich in die hinterste Reihe gesetzt hatte. Klitschnass und kaum in der Lage, dem Fahrer zu danken, der meinetwegen ein Stück hinter der Haltestelle noch einmal angehalten hatte. Eine ältere Dame, die mich anzischte, dass mein Kampfhund an die Leine gehöre, ignorierte ich ebenso wie das Tirilieren des Veränderdichs, das Lutz im Maul trug. Als der Hof der Laboes abseits der Landstraße auftauchte, befürchtete ich, nicht die Kraft zum Aufstehen aufzubringen, obwohl jeder einzelne Muskel in meinem Körper zum Zerreißen angespannt war.
Ich würde einfach sitzen bleiben und bis ans Meer fahren.
Die Vorstellung war verlockend, denn es schien mir unmöglich, mich dem zu stellen, was in Himmelshoch passiert war. Geschweige denn, eine Lösung für das Desaster zu finden. Ich war keine Kriegerin, ich war nur gut im Weglaufen. Bislang war ich für die schönen Seiten des Lebens in unserem Himmelshoch-Dreieck verantwortlich gewesen, während Sander sich dem Kampf und mein Vater sich dem Wächterzirkel gestellt hatte. Nun waren sie für mich beide unerreichbar: Sander bewusstlos und gefesselt den Wächtern und ihrem Hass auf alles, was von jenseits der Tore kam, ausgeliefert, während Jakob sich gegen uns und damit für den Zirkel entschieden hatte. Und in meinem Hinterkopf wummerten Sanders Worte, dass die Barriere aus Salzzeichen, die er einst geschaffen hatte, nicht mehr lange halten würde. Selbst wenn ich den Verrat meines Vaters verkraftete und es mir irgendwie gelingen sollte, Sander zu befreien, dann würde ich ihn trotzdem verlieren – entweder weil er Tiamat verschloss oder weil der lauernde Maelstrom uns alle vernichtete.
Der Bus machte einen leichten Schlenker, als er die Haltestelle erreichte.
Ich starrte auf meine Hände. Sie sahen Madelins verwirrend ähnlich. Vor meinem inneren Auge sah ich, wie sie ihre Hände ausstreckte, um Sander zu helfen, gleichgültig gegenüber der Gefahr, in die es sie brachte. Madelin hatte nicht gewusst, was sie erwartete, aber ich ahnte, dass sie es sogar dann getan hätte, wenn sie sich dessen bewusst gewesen wäre. Meine Mutter war keine Kriegerin gewesen, sie hatte exzentrische Möbel und Geschichtswälzer geliebt. Aber sie war mutig und entschlossen gewesen, als es darauf ankam.
War ich ihre Tochter?
Wie vom Blitz getroffen sprang ich auf, als der Bus wieder anfuhr.
»’Tschuldigung! Ich muss hier raus. Würden Sie bitte …«
Der Busfahrer hielt an und warf mir einen genervten Blick zu, genau wie der einzige andere Fahrgast, die ältere Dame mit der Hundeaversion. »Mädel, ist das irgendwie dein Hobby, immer alles auf den letzten Drücker zu machen?«
»Tut mir wirklich leid, ich habe offenbar mit offnen Augen geträumt. Ich bin sechzehn Jahre alt, da passiert das schon mal. Hormone … Sie wissen schon.«
Die Art des Busfahrers, die Augen zu verdrehen, verriet, dass er sich mit diesem Thema nur allzu gut auskannte. Vermutlich hatte er einen Teenager im selben Alter zu Hause, dessen innerer Empfang, wenn überhaupt einmal, selten auf die Frequenz der Alltagswelt eingestellt war.
Als ich mit Lutz ausgestiegen war, hörte der Regen gerade auf. Obwohl die Wolken dicht an dicht hingen, machte sich eine unterschwellige Wärme bemerkbar. Nicht mehr lange und der Frühling würde kommen.
»Nun schaut euch das Mädchen an: Einmal heiß geduscht und in trockene Klamotten gesteckt, sieht sie tatsächlich wie unsere Anouk aus – und nicht wie ein triefendes Etwas, das man aus dem Wassergraben gezogen hat. Wenn du jetzt noch lächelst, bin ich ganz die deine.«
»Vielen Dank für das Angebot, Laboe, aber so verführerisch es sein mag, mir ist absolut nicht nach lächeln zumute.«
Obwohl ich zugeben musste, dass ich mich deutlich besser fühlte als noch bei meiner Ankunft. In der Küche hatte ich sie alle versammelt vorgefunden: Laboe, Grandmama, Tammo und – zu meiner Überraschung – Becks. Nachdem ich erzählt hatte, was seit dem Besuch meiner beiden Freundinnen alles vorgefallen war, hatte Grandmama erst einmal darauf bestanden, dass ich mir was Trockenes anziehe, was mir angesichts der Lage, in der Sander steckte, vollkommen überflüssig erschien. Aber die alte Dame konnte sehr überzeugend sein und im Nachhinein war ich ihr äußerst dankbar. Vor Kälte bibbernd, ließ sich der Junge, den ich liebte, nicht ganz so gut aus den Fängen eines unbelehrbaren Wächterzirkels befreien.
»Ich denke, was Anouk jetzt braucht, ist Ruhe«, erklärte Becks. Schwer zu sagen, wer von uns beiden mitgenommener aussah. »Wir alle brauchen ein wenig Ruhe. Ruhe, um über das nachzudenken, was in der letzten Zeit passiert ist. Und um einen Plan zu schmieden, wie wir dieses Wächterpack umgehend aus Marienfall vertreiben können. Natürlich erst, nachdem sie Sander rausgerückt haben. Und versprochen haben, meinen Eltern nichts von diesen ganzen grauenhaften und verwirrenden Dingen zu erzählen. Die sind zwar tolerant, aber so tolerant nun auch wieder nicht.«
Becks klang ein wenig, als würde sie unter Schock stehen. Ihr Blick wanderte unentwegt zu Tammo, der neben ihr stand und verunsichert auf seiner verschorften Unterlippe herumknabberte.
Auch wenn es unmöglich war, so veränderte sich seine äußere Erscheinung mit jedem Tag einen Hauch mehr. Nicht, dass seine gerade Nase plötzlich einen Bogen machte, das nicht. Es war mehr ein inneres Leuchten, das alles an ihm zum Strahlen brachte und ihn zunehmend überirdisch aussehen ließ. Daran würde er definitiv arbeiten müssen, ansonsten würde er bald keinen Schritt mehr vor die Tür setzen können, ohne dass eine Schar Verehrerinnen über ihn herfiel. Im Moment hatte er allerdings andere Sorgen. Nachdem er in Filippas Visier geraten war, war er nicht nur klug genug gewesen, bei Laboe unterzuschlüpfen, sondern auch seine Schwester aus der Reichweite des Zirkels zu bringen. Die Schattenseite hatte darin bestanden, dass er Becks darüber aufklären musste, was ihm widerfahren war. Dabei war Grandmama ihm eine große Hilfe gewesen, die es ihr so erklärt hatte, dass nun quasi ein Besucher aus einer anderen Welt bei ihrem großen Bruder zur Untermiete wohnte und Tammo zwar noch Tammo war, aber eben auch noch ein wenig mehr.
Becks’ Reaktion war bemerkenswert nüchtern ausgefallen, indem sie Tammo eine Menge Fragen über ihre gemeinsame Kindheit und sein Lieblingsgericht gestellt hatte, obwohl ihre Lider unregelmäßig zu zucken angefangen hatten. »Könnte man sagen, dass du Tammo bist, der einen gewaltigen Bewusstseinsschub hingelegt hat und deshalb jetzt als Persönlichkeit komplexer aufgestellt ist?« Ihre Leidenschaft für Psychologie war in mancherlei Hinsicht ein Segen.
Tammo hatte vorsichtig genickt, denn im Grunde entsprach diese Beschreibung durchaus der Wahrheit.
»Fein. Und du siehst dich als Teil der Familie Freibaum und hast nicht vor, dich bei der ersten Gelegenheit aus dem Staub zu machen oder uns vielleicht ebenfalls ein paar kleine Untermieter einzupflanzen, damit wir dir ähnlicher werden?«
»Nein, ich bin der Einzige meiner Art und werde es definitiv bleiben. Außerdem kann ich dir versprechen, dass ich nicht vorhabe, mich abzuwenden. Schließlich seid ihr meine einzige Chance, in dieser Welt eine Heimat zu finden.«
Becks hatte geschluckt und dann plötzlich zu weinen angefangen. »Bin ich eine schreckliche Schwester, wenn ich zugebe, dass ich dich in den letzten Tagen sehr viel sympathischer gefunden habe?«
Erst mit meinem Auftauchen war Becks ernsthaft bewusst geworden, dass die Schwierigkeiten weit über Tammos Persönlichkeitsveränderung hinausgingen. Die Wächter würden alles daransetzen, ihn zu finden, und niemand konnte sagen, was sie mit ihm machen würden, sobald sie ihn hatten und herausfanden, dass er keineswegs ein gewöhnlicher Junge war.
»Es sieht ganz so aus, als würden sich eure Probleme nur gemeinschaftlich lösen lassen«, erklärte Grandmama, während sie mir einen Becher heiße Schokolade hinhielt.
»Das riecht aber … interessant.«
»Ich habe einen ordentlichen Schuss Rum reingetan. Die richtige Nahrung, um das Feuer in dir wieder auflodern zu lassen. In solchen Fällen ist Rum nie verkehrt, genauso wenig wie eine Tafel Schokolade in Sahne aufgekocht.«
Staunend blickte ich auf die dampfende Flüssigkeit im Becher und beschloss, dass es nicht das Ende meiner Hüften sein würde, wenn ich dieser Versuchung nachgab. Schließlich stammte eine meiner Lebensregeln nicht umsonst von Oscar Wilde: »Versuchungen sollte man nachgeben. Wer weiß, ob sie wiederkommen.«
Unwillkürlich musste ich an Sander denken, der für mich eine einzige Versuchung darstellte. Hätte ich unser letztes Beisammensein anders nutzen sollen, anstatt bloß schweigend in seinen Armen zu liegen? Vielleicht würde ich nun nie wieder die Gelegenheit dazu haben. Ich hatte gesehen, wozu die Wächter – und viel mehr noch Filippa – imstande waren, um ihrer Aufgabe gerecht zu werden. Sie würden Sander nur so lange am Leben lassen, bis sie alle Informationen, die ihnen wichtig erschienen, aus ihm herausgebracht hatten. Dann würden sie sich, ohne zu zögern, an ihre Regeln halten, die besagten, dass nichts und niemand durch das Tor gelangen durfte. Und falls es doch passierte, dann musste der Fehler umgehend beseitigt werden.
Ich stürzte die heiße Schokolade hinunter und stellte zufrieden fest, dass Grandmama wusste, was sie tat. In meinem Bauch breitete sich Hitze aus, während meine Gedanken Fahrt aufnahmen. »Lasst uns loslegen. Wir haben einerseits ein Tor, das bald aufbrechen und mit einer riesigen Flutwelle aus Salz unsere gesamte Welt auslöschen wird. Dann gibt es da den Wächterzirkel, der keine Ahnung von der wirklichen Gefahr hat, sondern Sander und Tammo für sein größtes Problem hält.«
»Ein Einwurf«, unterbrach Tammo meine Rede. »Sie halten mich nicht für einen Besucher, sondern gehen davon aus, dass ich mit einer äußerst interessanten Veränderung untergetaucht bin. Sie haben es auf den Tropfen in der Phiole abgesehen.«
»Ja, das stimmt«, gab ich nachdenklich zu.
»Wir müssen also in zwei Schritten vorgehen.« Laboe hatte ihre Augen vor Aufregung zusammengekniffen, trotzdem entging mir nicht das Funkeln in ihnen. Wenn sie sich erst einmal in eine Sache verbissen hatte, war sie nicht mehr zu stoppen. »Zuerst einmal müssen wir die Wächter loswerden, denn bis die verstanden haben, was Sache ist, könnte es längst zu spät sein. Und die würden uns ja auch niemals glauben, dass Sander nicht der Feind ist. Wir müssen sie also schleunigst aus Himmelshoch rausbekommen.«
»Und meinen Vater können sie gleich mitnehmen, den braucht hier niemand mehr.«
»Sei nicht so hart«, sagte Grandmama. »Dein Vater hat gewiss aus Liebe zu dir so gehandelt, auch wenn sein Verrat an Alexander schmerzhaft ist. Du solltest seinen Weg respektieren, auch wenn du ihn nicht verstehst.«
»Wenn Jakob mich lieben würde, dann hätte er Sander niemals an den Zirkel ausgeliefert!«
»Die Wege der Liebe sind manchmal verschlungen.« Grandmama wirkte vollkommen gelassen, so als würde es hier lediglich um die üblichen Teenager-Problemchen gehen, und nicht um den bevorstehenden Weltuntergang. Und erstaunlicherweise wirkte ihre Haltung ansteckend. Wir alle kamen merklich ein Stück runter, während die Melodie ihrer dunklen Stimme erklang. »Auch du hast eine Weile gebraucht, bis du dir deine Liebe zu Sander eingestanden hast, falls du dich erinnerst. Dein Vater braucht seine Zeit, um in sein Herz zu hören. Deshalb musst du dich nicht von ihm abwenden. Oder bist du etwa der gleichen Meinung wie er, dass man Fehler niemals verzeihen kann?«
»Was Jakob getan hat, ist weit mehr als ein unglücklicher Fehler. Was er getan hat, könnte nicht nur Sanders, sondern unser aller Tod zur Folge haben.«
»Aber das wusste er zu diesem Zeitpunkt doch nicht, oder?«
»Nein, Jakob weiß ja noch nicht einmal, was in Wahrheit mit meiner Mutter passiert ist«, gestand ich kleinlaut ein. »Wir sind nicht dazu gekommen, es ihm zu erzählen.« Weil Sander und ich zu sehr miteinander beschäftigt gewesen sind, fügte ich in Gedanken hinzu.
»Es tut mir leid, aber du wirst die Frage, wie du zu deinem Vater stehst, später klären müssen. Uns läuft die Zeit davon.« Auf Tammos Stirn zeichneten sich Schweißtropfen ab, die er mit einer fahrigen Geste fortwischte. »Ich kann das Ewige Meer immer stärker spüren. Es drängt weiter in diese Welt vor. Die Salzzeichen werden nicht mehr lange halten.«
Besorgt blickte ich in die Runde und sah verängstigte, aber entschlossene Gesichter. Sogar Becks, die vermutlich kaum richtig begriff, um was es ging, nickte mir zu. »Gut, wir müssen also einen Weg finden, Sander zu befreien und die Wächter aus Himmelshoch rauszubekommen, damit er Tiamat schließen kann, bevor der Maelstrom entfesselt wird.« Den Gedanken an das, was danach kommen würde, verdrängte ich mit aller Kraft, ansonsten konnte ich unmöglich weitermachen.
»Mir scheint eins genauso unmöglich zu sein wie das andere. Wir sind doch nur ein Haufen Kids aus Marienfall, wie sollen wir es mit einem Trupp hervorragend ausgebildeter Wächter aufnehmen?« Becks sah ernsthaft überfordert aus. Als Tammo ihr eine Hand auf die Schulter legte, zuckte sie zuerst zurück, aber dann entspannte sie sich merklich. Tammos Geständnis hatte der Verbindung zwischen den beiden offenbar keinen Abbruch angetan.
»Ihr müsst die Karten, die ihr habt, nur richtig ausspielen«, sagte Grandmama mit einem Lächeln.