14. Sei auf der Wacht!

Eigentlich liebte ich den Sonntagmorgen: Niemand erwartete Pflichtbesonnenheit von mir, ich konnte ausschlafen, rumtrödeln, ewig frühstücken und dann mit einem Buch neben dem warmen Küchenofen in Bademantel und Plüschsocken versumpfen. Sogar Lutz war an Sonntagen noch lässiger als sonst und bestand nicht einmal darauf, draußen den Garten umzubuddeln – davon abgesehen, dass er den Garten ohnehin bereits an den sechs vorherigen Tagen in einen Acker verwandelt hatte. Es war mir ein Rätsel, welche Art von Befriedigung einem Hund zuteil wird, dessen obere Hälfte seines Wurstkörpers im Erdreich abgetaucht ist. Davon abgesehen, dass wir den Buddelkönig bereits zweimal hatten freischaufeln müssen, weil er in seinem eigenen Loch festgesteckt hatte. Wie auch immer, Sonntage in Himmelshoch waren ausgezeichnete Faultiertage. Nur heute leider nicht.

Schon beim Aufwachen fühlte ich mich wie elektrisiert und starrte auf die Stelle meines Bettes, wo gestern Sander gesessen hatte, während ich mich an ihn schmiegte und irgendwas Pseudoberuhigendes säuselte.

Was zur Hölle hatte ich mir bloß dabei gedacht?

Vor lauter Anspannung sprang ich wie Rumpelspilzchen durchs Bad, außerstande, mir die Zähne zu putzen, weil mein Mund mit Kichern oder Grimassenschneiden beschäftigt war. Zurück in meinem Zimmer durchwühlte ich den Kleiderschrank, und zwar mit einem ziemlich seltsamen Ergebnis. Die Klamotten, die ich rauslegte, entsprachen einem klassischen Dating-Outfit samt dem einzigen Paar Heels, das ich besaß. So weit war es also mit mir gekommen, dass ich mich zum Sonntagsfrühstück aufbretzelte, um niemanden Spezielles, und schon gar nicht Sander, zu beeindrucken. Du bist knallverrückt, meine Liebe, bestätigte ich mir, um dann demonstrativ zum ausgefransten Bademantel und den Hüttenschuhen zu greifen. Ein Hauch Lipgloss musste trotzdem sein. Nur weil’s gut nach Erdbeere schmeckt. Ungelogen.

Auf dem Weg in die Küche glaubte ich jeden Moment einen Herzinfarkt zu erleiden, während ich mir unentwegt mögliche Sprüche wie »Ah, Sander. Du auch hier?« zurechtlegte. Gestern … Das war ein Ausrutscher gewesen, der mit viel nackter Haut, Badeschaum und der anziehenden Verletzlichkeit junger Männer zusammenhing. Wie würde mein Vater sagen: »Alles Hormone.« Und in diesem Fall konnte ich ihm wirklich nur zustimmen. Mehr steckte nicht hinter der Geschichte, auch wenn ich mir einige Sekunden lang vorstellte, wie es wäre, von Sander mit einem Guten-Morgen-Kuss auf die Wange begrüßt zu werden und dabei die Chance zu bekommen, unauffällig an ihm zu schnuppern. Der herbe Holzduft seines Aftershaves und salzige Haut …

Rot bis in die Haarspitzen schlüpfte ich durch die Küchentür, nur um voller Enttäuschung festzustellen, dass kein Sander anwesend war. Dafür ein wedelnder Lutz, der Stellung neben seinen Näpfen bezogen hatte, und mein komplett in Anzug eingekleideter Vater, der gerade seinen schwarzen Kaffee trank.

»Schön, du bist ja schon auf«, begrüßte er mich. »Ich wollte dich eben wecken gehen, wir bekommen nämlich in knapp einer halben Stunde Besuch von Filippa Margold. Sander ist bereits aus dem Haus, er wird heute erst spätabends wiederkommen. Vermutlich wird sich Filippa darüber echauffieren, dass sie ihn so gut wie nie persönlich antrifft, aber nach seinem Ausbruch vor ein paar Tagen möchte ich ihr seine charmante Art noch weniger zumuten als sonst.«

Ich nickte nur benommen, darum bemüht, meine kippende Stimmung in den Griff zu kriegen. Sander würde sich heute nicht mehr blicken lassen, und das war gut, denn Filippa und Sander im Doppelpack schaffte ich nämlich auf keinen Fall. Vor allem nicht, weil Sander keine Chance ungenutzt verstreichen ließ, ihr seine Abneigung zu demonstrieren, obwohl sie ihn durchaus freundlich behandelte. Schließlich war er ein hervorragender Wächter – und das war alles, was für Filippa zählte.

Die Vertreterin des Wächterzirkels, die für Himmelshoch zuständig war, war die Pest auf Beinen, ehrgeizig und fordernd. Während sie Tiamat für ein eher uninteressantes Tor hielt, das – abgesehen von den gelegentlich auftretenden Veränderungen – bestens unter Kontrolle war, hatte sie in den letzten Monaten ein zunehmendes Interesse an Sander gezeigt. Sie wusste zwar nichts darüber, wie großartig er im Besucher-Eliminieren war, aber sie schien den perfekten Wächter in ihm zu erahnen. Zumindest hatte sie ihm mehrmals die Wacht an einem der großen Tore schmackhaft zu machen versucht. Ohne großen Erfolg.

»Wenn Fräulein Oberwächterin jemals etwas über die Linien auf meiner Haut herausfinden sollte, würde sie mich nicht bloß in Einzelhaft stecken, sondern vermutlich das mit mir anstellen, was ich ansonsten mit den Besuchern anstelle«, war sein einziger Kommentar zu ihren Avancen gewesen. »Jakob macht es schon richtig, uns diese Kontrollfreaks vom Zirkel vom Leib zu halten, auch wenn wir deshalb die Vollzeitbewachung von Tiamat zu zweit hinbekommen müssen. Ich verbringe lieber den Rest meines Lebens im Kellergewölbe, als dass Filippa und Konsorten hier das Kommando übernehmen.«

Wenn Filippa sich bei ihren Stippvisiten dann mir zuwandte, musterte sie mich jedes Mal, als sei ich ein missglücktes Experiment. Die erste Parson, die als Wächterin vollkommen unfähig war. Bei solchen Gelegenheiten hätte ich ihr gern etwas Unverschämtes an den Kopf geworfen, aber seit sie mir als Kind einmal damit gedroht hatte, mich Himmelshoch zu verweisen, hielt ich mich zurück. Die Vereinbarung, die Jakob nach Tiamats Erwachen mit dem Zirkel getroffen hatte, stand auf gläsernen Füßen. Sollten diese Leute jemals herausfinden, dass unser Tor keineswegs rundum abgesichert war, würden sie uns Parsons vor die Tür setzen. Eigentlich hätten wir dann frohgemut unseres Weges gehen können, der jahrelangen Bürde endlich enthoben. Nur kam leider kein Nicht-Parson durch das Kraftfeld, und was war ein Wächter, der nicht in die Nähe des Tors gelangte, das er bewachen sollte?

Aus diesem Grund stand ich jedes Mal stumm und mit hängenden Schultern da, wenn Filippa bei ihren Überprüfungen auch abcheckte, ob ich mich an unsere Absprache hielt. Die Vorstellung, ihr ausgerechnet an diesem Sonntagmorgen Rede und Antwort stehen zu müssen, gefiel mir noch weniger als sonst.

»Soll ich mich auch aus dem Staub machen?«, fragte ich meinen Vater. »Die Laboes sind zwar auf einem Wochenendausflug, und bei Becks war ich erst gestern, aber ich wollte immer schon mal einen ganzen Sonntag im Museum verbringen.« Das war sogar nur halb geflunkert, obwohl man für die Marienfaller Dauerausstellung nicht länger als eine gute Stunde brauchte. Sie war jedoch in einem altehrwürdigen Backsteingebäude untergebracht, in dem es warm war – und vor allem wurde man nicht mit Verachtung gestraft, weil man dem Wächterzirkel ein wenig kritisch gegenüberstand.

Zu meiner Enttäuschung schüttelte Jakob den Kopf. »Tut mir leid, aber Filippa hat mehr oder weniger darauf bestanden, dich zu sehen. Vorrangig will sie überprüfen, ob du mit dem Stress, in Tiamats Nähe zu leben, weiterhin zurechtkommst. Falls das ihre größte Sorge ist, können wir uns gratulieren. Ich hoffe, dass die Veränderung nach dem Krakenmann unterm Dachstuhl nicht in dem Moment erscheint, wenn Filippa im Haus ist. Ihre Obsession mit den Veränderungen ist einzigartig. Normalerweise könnte man meinen, dass sie auf die sofortige Zerstörung jeder einzelnen besteht. Stattdessen studiert sie sie mit einer an Faszination grenzenden Gründlichkeit.«

Allein die Tatsache, dass wir in einem Haus voller übernatürlicher Veränderungen lebten, hatte Jakob Endlosdiskussionen mit dem Zirkel gekostet, weil er sich weigerte, hinter einem Sichtschutzwall mit Stacheldraht zu verschwinden. In diesem Punkt war mein Vater stur geblieben und hatte darauf bestanden, dass das Haus ein Haus bleiben sollte, anstatt in eine Festung verwandelt zu werden. Solange von außen nichts zu erkennen war, würde er die Fassade eines normalen Lebens aufrechterhalten und dafür niemanden einlassen. Nur in den Garten und in die angebaute Garage durften wir Besuch mitnehmen – wobei die Garage Sanders Domäne war mit dem ganzen Sperrmüllmöbeln und der Bastelecke für die Bandit. Die einzige Person, die diese eherne Regel je außer Kraft gesetzt hatte, war Laboe, und ich dankte meinem Schöpfer dafür, dass mein Vater es bislang noch nicht herausgefunden hatte.

»Vielleicht sollten wir Filippa über Sanders Linien auf der Schulter erzählen. Ihn wie ein Objekt zu studieren, wäre bestimmt ganz nach ihrem Geschmack, wo sie ihn doch so toll findet«, versuchte ich die Stimmung aufzulockern.

Jakob nahm einen Schluck Kaffee und sah mich dabei missbilligend an. Dass er mir nicht geradewegs sagte, wie unpassend meine Bemerkung gewesen war, setzte mir mehr zu als jede Zurechtweisung.

»Wenn du möchtest, kann ich Filippa ablenken, indem ich ihr von meiner Idee erzähle, eine Wächter-Chronik zu verfassen. Bestimmt würde sie ihre gesamte Besuchszeit darauf verwenden, mir diese Wahnsinnstat auszureden.«

Mit dieser Chronik ging ich meinem Vater schon länger auf die Nerven. Es reizte die Historikerin in mir und wäre zugleich eine schöne Form von Rebellion gewesen. Notfalls, hatte ich Jakob gegenüber argumentiert, könnte man den Zirkel mit einer solchen Chronik auch erpressen, falls sie uns auf Himmelshoch eines Tages zu sehr auf den Leib rücken sollten. Dieses Argument hatte mein Vater überzeugend gefunden, aber nicht überzeugend genug.

»Eins der wichtigsten Gebote der Wächter lautete nicht umsonst, für die Außenwelt nicht zu existieren. Und dieses Gebot gilt aus gutem Grund auch für uns hier in Himmelshoch«, hatte Jakob erklärt. »Die strikte Geheimhalterei resultierte nämlich unter anderem daraus, dass der Zirkel für die Entstehung der Tore verantwortlich ist. Wenn man durch eigene Dummheit die Pforten zur Hölle aufgestoßen hat, darf man nicht auf Milde und Verständnis hoffen. Was, denkst du, würden die Marienfaller mit uns anstellen, wenn sie von der Gefahr erfahren würden, die in Tiamat steckt?«

Ich hatte meinem Vater zugestimmt, dass keine Chronik ein solches Risiko wert war. Trotzdem wurmte mich dieses Thema. Als ich noch ein Kind war, hatte Filippa Margold mir in ihrer unnachahmlichen Art klargemacht, dass die Regeln des Zirkels ehern waren und um keinen Preis infrage gestellt werden durften. Wer sich nicht daran hielt, der wurde empfindlich bestraft. Ich hatte meine Lektion gelernt, allerdings auf eine andere Weise als von ihr beabsichtigt – schließlich lebte ich in einem Haus voller Regelbrecher. Ich hatte gelernt, dass man dem Wächterzirkel gegenüber schwieg und die Wahrheit über Tiamat so gut wie möglich verbarg. Nur leider war ich weder im Schweigen noch im Verbergen gut und deshalb entsprechend nervös.

An manchen Tagen fand ich die Wächter fast noch gefährlicher als die Tore, die sie bewachten. Sie fragten nicht lange, sondern hielten ohne zu zögern drauf. Von daher überraschte es nicht, dass ihr Zirkel über hervorragende Kämpfer und Vertuschungskünstler verfügte, sich aber nicht die Mühe machte, die Tore – und was durch sie hindurchkam – zu erforschen. Die Devise lautete: bedingungslose Beseitigung – für Fragen blieb keine Zeit. Mein Vater und Sander waren damit nicht nur im Prinzip einverstanden, sondern unterstützten diese Vorgehensweise resolut, nachdem der erste Besucher, der durch das erwachte Tor gedrungen war, Sander fast umgebracht hatte. Seitdem hatte jeder neue Besucher in Fisch-, Meerestier- oder sonstiger Glibbergestalt bewiesen, dass sie nichts Gutes im Schilde führten. Jedenfalls brachte Sander sie ohne Gewissensbisse zur Strecke, bevor sie ihm mit ihren vergifteten Stacheln à la Seeigel zu Leibe rückten. Gut, mir war auch nicht nach einem Plausch mit dem Krakenmann vom Dachboden zumute gewesen, während seine Tentakel nach mir griffen, aber trotzdem …

Ich hatte einmal den Vorschlag gemacht, einen Besucher einzufangen und zu studieren. Schließlich konnte es nicht verkehrt sein, mehr über sie zu erfahren. Warum waren sie stets gewalttätig? Warum nahmen sie die Anstrengung auf sich, Tiamat und anschließend die Salzzeichen zu passieren? Konnten sie die Tordurchschreitung vielleicht nicht verhindern, weil sie vom Maelstrom eingesaugt und auf unserer Seite ausgespuckt wurden? Dann wäre es nicht richtig, sie zu töten. Zumindest sollte man einmal darüber nachgedacht haben, oder? Nun, nach Meinung der Parson-Männer offenbar nicht, denn mein Vater hatte allein bei dem Vorschlag einen halben Herzinfarkt erlitten, während Sander mir einen Vogel gezeigt hatte.

»Klar, wir fangen diese mordlustigen Biester ein und studieren, füttern und schmusen sie, während sie versuchen, Fischeier in unser Gehirn zu legen, nachdem sie uns den Schädel gespalten haben. Anouk, deine Beiträge zur Torwacht sind echt erschreckend, bleib lieber bei deinen Liebesromanen oder geh mit Lutz spazieren. Die frische Luft wird dir guttun.«

Damit war mein »Lasst uns die Besucher erforschen und besser verstehen lernen«-Ansatz im Keim erstickt worden und ich hatte keinen weiteren Anlauf gewagt. Bei den zwei Herren könnte Filippa Margold glatt noch was lernen, dachte ich, als ich mich in meinem Zimmer anzog. Ich wollte ihr nämlich nicht in meinem zotteligen Bademantel gegenübertreten.

»Anouk?« Die Stimme meines Vaters klang beherrscht wie eh und je, obwohl ich nur allzu gut wusste, wie sehr ihn diese Überprüfungen stressten. »Filippa ist da. Möchtest du ihr Guten Tag sagen?«

Ja, sicher doch. Genauso gern wie ich einen fischigen Besucher zur Begrüßung herzen mochte. Das behielt ich jedoch lieber für mich und rief stattdessen »Danke, ich komme sofort« wie das brave Mädchen, das ich meistens war. Dann atmete ich noch einmal tief durch und machte mich auf den Weg, um diesem Sonntag den endgültigen Todesstoß zu verpassen.

Filippa Margold war schätzungsweise Mitte dreißig und eine attraktive Frau, wenn man unter ›attraktiv‹ drahtig und durchtrainiert verstand. Ihre Wangenknochen stachen spitz aus ihrem ohnehin schon dreieckigen Gesicht hervor und die vollen Lippen vermochten die harten Züge nicht auszugleichen. Ihr eines Auge zeigte ein tiefes Braun, während das andere in einem verwirrenden Glasgrün schimmerte, genau wie die Narbe, die ihre feine Braue teilte. Wächter trugen Narben, manche sichtbar, manche verborgen und manche sogar unsichtbar, wie bei meinem Vater. Ihr dunkelbraunes Haar trug sie stets hochgesteckt, als wäre es ihr sonst eh im Weg, und an ihren Ohrläppchen funkelten die kleinsten Diamantstecker, die ich je gesehen hatte. Noch mehr Dekoration war bei einer Wächterin vermutlich nicht erlaubt. Dafür fand ich ihre Kleidung cool, die komplett Schwarz war und eng, enger, am engsten. Bei ihrem Anblick fiel mir stets der Vergleich mit einer Katze ein, ein gelenkiges Tier, dessen Fell wie schwarze Seide glänzte. Nur leider sah diese Katze, die mich locker einen Kopf überragte, die nächste Mahlzeit in mir und konnte jederzeit zum tödlichen Sprung ansetzen.

Filippa erwartete mich im Salon, der in ihrem Fall mit seinen antiken Möbeln genau der richtige Raum war. Denn weder unsere gemütliche Küche noch das Esszimmer entsprachen ihrer hochmütigen Ausstrahlung. Eigentlich sollte ich durch meinen Vater geübt sein im Umgang mit strengen Menschen, aber Filippas Fall war speziell: Viel mehr als dass ich sie fürchtete, überwog mein Misstrauen. Sie war eiskalt, da war ich mir sicher.

»Ich freue mich, dich zu sehen, Anouk Parson«, nahm Filippa mich in Empfang, wobei sie sich tatsächlich um ein Anheben der Mundwinkel bemühte. Aus reiner Gewohnheit versuchte ich ihren Akzent zu deuten, herauszuhören, welcher Himmelsrichtung sie wohl entstammte, doch es gelang mir auch dieses Mal nicht. Sie war eben durch und durch Wächterin, da brauchte es so etwas Überflüssiges wie eine Heimat nicht. Wie immer sprach sie mich mit vollem Namen an, um darauf hinzuweisen, dass ich nicht bloß Anouk, das Individuum war, sondern eine Parson und somit ein Nachkömmling aus einer langen Reihe von Wächtern.

»Guten Morgen, Filippa«, flötete ich aufgesetzt fröhlich. »Dass Sie sogar am Sonntag im Dienst des Zirkels unterwegs sind … Die Wächterschaft gönnt sich wohl nie eine Auszeit.«

»Das solltest du doch genauso gut wissen wie ich, schließlich wohnst du in einem Haus voller Wächter. Dein Vater lebt dir vor, was es bedeutet, seine Pflicht zu tun.« Anerkennend nickte sie Jakob zu, was dieser ohne eine Miene zu verziehen hinnahm. In Filippas Gegenwart verwandelte er sich aus Prinzip in einen Roboter, der nur auf Anfrage hin knappe Antworten gab. Je weniger Angriffsfläche man bietet, umso besser, notierte ich unter meinen Lebensregeln.

»Das tut Papa, und zwar unentwegt. Er lässt keine Chance ungenutzt verstreichen, mich an die Verantwortung zu erinnern«, beeilte ich mich beizupflichten. Eine wichtige Regel besagte nämlich auch, dass man es nie übertreiben darf. Nicht dass Filippa sich aus Rache für einige Tage in Himmelshoch einquartierte, vorgeblich um die Abläufe bei uns zu studieren und eventuelle Schwachstellen aufzudecken. Das hatten wir bereits zweimal durchgemacht, und es hatte damit geendet, dass Jakob wie ein wandelnder Zombie ausgesehen hatte, weil er nächtelang kein Auge zutat, um Tiamat und Filippa gleichzeitig zu überwachen, während Sander Pläne schmiedete, Filippa hinterrücks zu überwältigen, in einen Atombunker weit vor Marienfall mit ausreichend Sauerstoff und Vorräten zu verschleppen und den Eingang anschließend zuzumauern. Es durfte ihr also kein Zweifel daran kommen, dass hier alles vorbildlich ablief. »Papa macht seinen Job mit unglaublich viel Herzblut und jeder Menge Eifer. Keine Pause, niemals. Immer Pflicht, Pflicht, Pflicht. Genau wie Sander. Der kann auch nichts anderes, als von morgens bis abends Wächter zu sein. Der wüsste gar nicht, was er aus seinem Leben machen sollte, wenn man ihm den Job wegnimmt.«

»Ist es das, was dich am Wächtersein abschreckt, Anouk Parson? Die Hingabe, mit der die beiden Männer ihrer Aufgabe nachkommen?«

Mist. Egal, wie ich es anstellte, bei Filippa machte ich es falsch. Betroffen stand ich da und überlegte, einfach in das schwarze Loch in unserem Salonboden zu springen. Schließlich wollte ich immer schon einmal ausprobieren, ob ich heil auf Frau Lorenz’ Hinterhof ankäme. Selbst wenn meine Gliedmaßen danach verkehrt am Torso sitzen sollten, war das trotzdem angenehmer als ein Gespräch mit dieser lauernden Katze.

»Tut mir leid, ich wollte dich nicht vor den Kopf stoßen, indem ich dich direkt auf deinen wunden Punkt anspreche. Mir liegt es vermutlich mehr, die Absicherung eines Tors zu kontrollieren, als mit jungen Mädchen über ihre Persönlichkeitsentwicklung zu sprechen. Besonders wenn sich diese anders entwickelt, als es mir lieb ist. Das soll kein Vorwurf sein, nur eine Feststellung aus Wächtersicht«, fügte sie rasch in Richtung meines Vaters hinzu, der seine Ausdruckslosigkeit vergaß und ein empörtes Brummen von sich gab. »Warum machen wir nicht einen Spaziergang durch den Garten, meine Liebe, und unterhalten uns ein paar Takte? Das Tor sehe ich mir später an, ich gehe davon aus, dass alles – wie sonst auch – in bester Ordnung sein wird. Dass Tiamat so ruhig ist, liegt sicherlich an der hervorragenden Arbeit, die dein Vater und Alexander leisten. So etwas muss man zu schätzen wissen.« Filippa versuchte erneut, ihre Mundwinkel zu einem Lächeln zu bewegen, aber sie spielten nicht mit. Zu wenig Übung, tippte ich.

»Einverstanden«, stimmte ich widerwillig zu. »Lutz döst zwar gerade in seinem Körbchen, aber sobald es um Stöckchenfangen geht, sagt er nie Nein.«

Filippa blinzelte, was dank ihrer verschiedenen Augenfarben beeindruckend aussah. »Dein Hund … Muss der unbedingt dabei sein?«

Hörte ich da die Katze fauchen? Sofort fühlte ich mich besser, nachdem ich diese Schwachstelle aufgedeckt hatte. »Sicher doch, dann ist gleich alles viel entspannter. Und darum geht es doch? Ich soll mich locker machen und über meine Zukunft reden.«

»Das wäre schön.« Trotzdem machte Filippa ein Gesicht, als hätte ich vorgeschlagen, meinen Feuer speienden Drachen im Garten Gassi zu führen. Entsprechend gereizt wandte sie sich an Jakob. »Ich wäre Ihnen verbunden, wenn Sie probieren würden, Alexander zu erreichen. Es ist zwar nicht unbedingt notwendig, dass ich beide Tiamat-Wächter spreche, aber mir wäre es deutlich lieber.«

Jakob zuckte unbeeindruckt mit den Schultern. »Hätten Sie sich frühzeitig angemeldet, wäre er heute selbstverständlich zu Ihrer Verfügung gestanden, so aber genießt er seinen freien Sonntag. Solange er Motorrad fährt, wird er nicht ans Handy gehen – und Alexander steigt erfahrungsgemäß erst von seiner Maschine ab, wenn der Tank leer zu werden droht.«

»Wenn das so ist, sollte ich vielleicht über Nacht bleiben und morgen früh ein Gespräch mit ihm führen.«

Immer noch tat Jakob unbekümmert. »Wie Sie meinen.«

Filippa schnaufte frustriert.

»Ich geh dann mal den treuen Lutz holen, der wird sich vielleicht freuen, Sie zu sehen!« Was absolut der Wahrheit entsprach. Das letzte Mal hatte er ihre schwarze Wildlederhose mit einem Muster aus Sabberfäden überzogen, er fand Filippa nämlich zum Anbeißen – allerdings nicht auf eine schmusige Weise. In seinen Augen war sie ein leckerer Happen, dessen Widerstand früher oder später brechen würde.

Eine gute Seite hat Filippas Überfall, gestand ich mir widerwillig ein. Solange diese Frau mich auf Trab hält, komme ich wenigstens nicht dazu, mir den Kopf über Sander zu zerbrechen.

Das beste Mittel, um eine Bulldogge von ihrem Opfer wegzulocken, besteht in einem Nylonsack, gefüllt mit Hundekeksen. Den muss man dann möglichst weit wegwerfen. Was in meinem Fall nicht besonders weit war, da mein Körper es schlicht nicht hinbekam, die richtige Bewegungsabfolge im Weitwurf nachzuahmen. Lutz fand es super, dass er stets nur ein paar lausige Schritte hinter dem Säckchen herflitzen musste, um im Anschluss mit einem Keks belohnt zu werden.

Filippa hingegen war weniger begeistert. Kurzerhand brach sie einen Zweig ab, mit dessen Ende sie den Beutel hochhob wie etwas besonders Ekliges. Was es ja auch in Wirklichkeit war, so über und über mit Sabber bezogen. Dann schleuderte sie ihn mit einem beeindruckenden Wurf bis ans Ende unseres Gartens.

Der Garten hinter Himmelshoch war kein Garten im Sinne von einer überschaubaren Rasenfläche plus ein paar Beeten und Ziersträuchern, sondern er reichte an die Ausmaße eines Parks heran … Eines verwilderten Parks, umsäumt von mächtigen Nadelbäumen und Eichen, die vor einer Ewigkeit mal ganz possierlich ausgesehen haben mochten, jetzt aber geradezu unheimlich anmuteten. Stumme Riesen, zwischen deren Stämmen Dunkelheit herrschte und die – neben der Mauer, die das Grundstück umsäumte – neugierige Blicke abhielten. Jetzt verschwand das Kekssäckchen in diesem Gewirr aus Baum und Gestrüpp und Lutz sauste ihm mit vor Begeisterung weit heraushängender Zunge hinterher.

»Der ist erst einmal beschäftigt«, sagte Filippa und wischte sich erleichtert über die Stirn. Dann taxierte sie mich. »Du bist in meiner Gegenwart immer so schrecklich angespannt, meine Liebe.«

»Weil ich in Ihrer Gegenwart nach Möglichkeit nichts falsch machen will, meine Beste.« Im Gegensatz zu meinem Vater war ich nicht imstande, eine eiskalte Fassade aufzubauen.

Filippa lachte und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Warum denn nur? Doch wohl etwa nicht wegen der kleinen Androhung, dich von Himmelshoch wegzuholen, oder? Das ist nun schon so lange her.«

»Mag sein, aber ich lasse es lieber nicht darauf ankommen.«

»Hängst du wirklich so sehr an diesem alten Kasten?«

Ich nickte anstandslos. Warum wunderte sich bloß jeder darüber, dass ich mein Zuhause nicht verlassen wollte?

»Nun ja, wenn du so sehr an Himmelshoch hängst, solltest du deine Einstellung gegenüber dem Zirkel eventuell noch einmal überdenken. Denn dein Vater wird der Wacht eines Tages nicht länger gewachsen sein, nicht wahr?«

»Dann ist immer noch Sander da«, hielt ich dagegen, allerdings mit dem flauen Gefühl im Magen, dass Filippa noch ein Ass im Ärmel hatte.

»Aber Alexander ist kein echter Parson – und unser Vertrag läuft mit der Familie Parson.« Das erste Mal lag etwas wie Genuss in Filippas ansonsten so beherrschter Stimme. »Falls du die Wacht nicht übernehmen wirst, wird der Zirkel Tiamats Wache übernehmen. Wir sind sogar schon darauf vorbereitet.«

»Wie wollen Sie etwas über Tiamat wissen, wo Sie sie doch noch nicht einmal gesehen haben, weil das Kraftfeld Sie davon abhält?«

Filippa legte nachdenklich den Zeigefinger an ihr Kinn. »Da ist durchaus was dran. Vielleicht möchtest du mir ja ein wenig über Tiamat erzählen, und wie man sie am besten bewacht.«

Ein widerwärtiges Kribbeln breitete sich in meinem Nacken aus. »Mein Vater erzählt Ihnen gern alles Wissenswerte.«

»Gewiss tut Jakob Parson das. Er ist sogar dazu verpflichtet. Aber ich fände einen Bericht aus deinem Mund ebenfalls interessant – und er wäre ein Zeichen deines guten Willens.«

Wir starrten uns gegenseitig an, und zu meiner Erleichterung war es Filippa, die als Erste den Blick senkte.

»Denk über mein Angebot nach. Dein Vater hält Himmelshoch, weil er auf sein Recht pocht und diese übermenschliche Arbeit allein mit Alexander schultert. Aber wie lange wird das so noch gut gehen? Wie lange hält dein Vater diese Art zu leben noch durch? Und Alexander wird nicht ewig ein Dasein im Kellergewölbe fristen. In diesem Jungen schlummert ein Hunger nach Leben, der sich nicht mehr lange wird unterdrücken lassen. Es wird der Tag kommen, an dem du dich fragen wirst, ob du nicht die Unterstützung des Zirkels brauchst, Anouk Parson. Wir stehen bereit, darauf kannst du dich verlassen. Nur ob wir dann als Freunde kommen, wird an dir und deinem Verhalten liegen.«

Ich war zu keiner Regung fähig. Offenbar hatte Filippa beschlossen, dass in meinem Fall Drohungen nicht länger ausreichten, und nahm deshalb auch noch Erpressung hinzu. Wenn das wirklich die Haltung des Zirkels war, handelte mein Vater mehr als richtig, diese Leute zu hintergehen und von Himmelshoch fernzuhalten. Wer konnte schon sagen, was sie ansonsten anstellen würden?

TIAMAT – Liebe zwischen den Welten
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