45. Das Tor schließt
Ein Blitz, so hell wie gleißendes Weiß, durchfuhr den Raum und blendete mich, während ich mich auf alle viere fallen ließ und zu Sander kroch. Ich ertastete sein Wuschelhaar, fand seine Schultern und zog seinen leblosen Oberkörper auf meinen Schoß. Wie von Sinnen suchte ich seinen Puls, glaubte schon, er habe keinen, bis mir klar wurde, dass ich in meiner Panik viel zu fest zudrückte.
Gerade als ich den Puls fand, ertönte ein Geräusch, das eigentlich kein Geräusch war. Trotzdem überlagerte es das Knirschen der Gewölbewände genauso wie meinen Schrei, von dem ich gar nicht bemerkt hatte, dass ich ihn ausstieß. Es fühlte sich an, als befände man sich im leeren Raum, vollkommen schwerelos. Alle Regeln schienen für einen magischen Augenblick aufgehoben zu sein, und ich glaubte trotz meiner geblendeten Augen zu sehen, wie der Riss zwischen den Realitäten, der wie eine hässliche Wunde klaffte, sich langsam schloss, bis er ganz verheilt war. Es war ein wunderschöner Anblick, der jedoch sogleich von einem Bersten und Tosen beendet wurde.
Der Boden unter mir begann sich zu bewegen, erst nur ganz leicht, dann zunehmend heftiger, als befände ich mich auf einer zerbrechenden Eisdecke. Verzweifelt blinzelte ich, doch alles was ich sah, war Schwärze. Dann durchfuhr ein so heftiger Ruck den Boden, dass ich mit Sander auf die Seite fiel. Er stieß einen wütenden Fluch aus, weil er auf seiner verletzten Schulter landete, und ich begann trotz des ganzen Irrsinns zu lachen. Vermutlich wäre ich einfach liegen geblieben und hätte gelacht, bis die Gewölbedecke über mir zusammengebrochen wäre, aber Sander packte mich und gemeinsam suchten wir uns im Dunkeln einen Weg durch die Erdbrocken, die immer dichter herabstürzten, und den sich auftuenden Rissen im Boden. Als wir ein fernes Schimmern erkannten, riss Sander mich regelrecht hinter sich her. Wir stürzten durch das Kraftfeld in die Schleuse, wo uns ein versteinerter Lutz und ein sichtlich schockierter Tammo empfingen.
»Teufel, was machst du hier, Sander? Du musst doch …«
»Rennen. Genau wie du. Das Gewölbe bricht zusammen, also gib Gas … Und nimm den Hund mit! Sonst kommt der noch auf die Idee, das Erdbeben zu attackieren, weil es ihn nervt.«
Nachdem Sander das Schleusentor aufgestoßen hatte, fanden wir einen leeren Gang vor uns. Die Wächter waren geflüchtet. Wie betäubt stolperte ich durch den Kellergang, in dem plötzlich das Licht ausging, stürzte, stand auf, stürzte wieder, wurde von Sander gepackt, wobei ich trotz des Radaus hörte, wie er dabei schmerzvoll Luft durch die Zähne ausstieß. Ich versuchte, seinen Griff abzuschütteln, aber Sander war sogar verletzt und erschöpft entscheidend stärker als ich.
»Lasst uns die Abkürzung durch den Kohleschacht nehmen, bis nach oben schaffen wir es auf keinen Fall mehr«, hörte ich Tammo sagen.
Sander grummelte und nahm mich in eine Richtung mit, die für mich keinen Sinn machte. Ich hatte vollkommen die Orientierung verloren und funktionierte einfach nur. Für mich gab es bloß noch Staub, der in Augen und Mund brannte, den heißen Schmerz, wenn mich wieder ein Stück fallendes Mauerwerk traf, und Sanders unerbittliches Drängen, mit dem er mich vorantrieb. Als er endlich mit mir im Arm zu Boden sank, brauchte ich lange, um zu begreifen, dass ich mich mitten auf der Straße der Efeugasse befand. Eine Straße, die von tiefen Rissen durchzogen war. Von der Straßenbeleuchtung war genauso wenig zu sehen wie von erleuchteten Fenstern in der Nachbarschaft, obwohl bereits der Mond am Aufgehen war. Allerdings reichte sein Schein aus, um das Desaster zu beleuchten. Vor uns ragte hinter der eingestürzten Gartenmauer Himmelshoch auf, ein wenig schief und in eine mächtige Staubwolke gehüllt, die jedoch erahnen ließ, dass das Schließen des Tors nicht spurlos an dem alten Herrenhaus vorbeigegangen war. Die eine Außenfassade war eingestürzt, während vom Garten nur eine Senke zurückgeblieben war, in deren Tiefe Baufahrzeuge und einige mächtige Eichen verschwunden waren.
Ungläubig rieb ich mir die Augen und konnte den Blick immer noch nicht vom ramponierten Himmelshoch nehmen, als Sander anfing, meine Wange mit Küssen zu bedecken, während die andere von Lutz’ Hundesabberzunge bearbeitet wurde.
»… zusammen … unfassbar«, hörte ich Sander wie durch eine Wattewand hindurch sagen.
Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, wie ein Wagen neben uns hielt. Laboes alter Fiat Punto. Ich sah sie und Becks herausspringen, beide wild herumgestikulierend und Tammo umarmend, aber es kam mir vor, als würde das Wiedersehen meilenweit von mir entfernt stattfinden. Willenlos ließ ich mich ins Auto manövrieren, während die Fragen an mir abprallten. Das Einzige, worauf ich achtzugeben imstande war, war, Sander nicht loszulassen, nicht einmal, als wir bei den Laboes ankamen und Grandmama sich seiner Verletzungen annahm. Ich hielt ihn fest, weil ich ansonsten abzustürzen glaubte. Und weil er sonst vielleicht doch noch verloren ging. Für mich würde beides auf dasselbe hinauslaufen. Ich betrachtete Sander, wie er sich auf Grandmamas Befehl auf ein Bett legte und nach einiger Diskussion das süßlich duftende Gebräu austrank, das sie für ihn zubereitet hatte. Ich setzte mich auf die Kante und blieb sitzen, während er Dinge sagte, die mich nicht erreichten. Stattdessen beobachtete ich, wie er gegen die Schwere seiner Lider ankämpfte und unterlag. Ich sah ihn mir ganz genau an und fragte mich, wie ich jemals hatte glauben können, ich könne ohne ihn atmen.
»Anouk?«
Grandmamas Stimme riss mich aus meiner Trance wie aus einem Traum. »Ja?«
»Was ist es, was dich von uns fernhält?«
»Jakob«, brachte ich mühsam heraus. »Mein Vater … Er ist gegangen.«
Grandmama lächelte ein trauriges und wissendes Lächeln. »Nicht wirklich – und das weißt du. Wir hinterlassen immer Spuren bei den Menschen, die wir lieben, nicht wahr?«
Unwillkürlich spürte ich die Wärme, die sich um mich gelegte hatte, als mein Vater mir gesagt hatte, was ich ihm bedeute. »Das ist wahr.«
»Es ist genauso wahr wie die Tatsache, dass der Tod nur ein Tor ist, durch das wir gehen, um etwas Neues zu beginnen. Das Ende ist der Anfang und Jakob hat einen guten Neuanfang gewählt. Ein Mann mit Herz.«
»Das stimmt.«
Mehr brachte ich nicht hervor. Plötzlich fühlte ich mich gelöst und trotz der Trauer auf unerklärliche Weise versöhnt. Die Flut, die über uns gekommen war, hatte Opfer gekostet, aber sie hatte auch Gutes bewirkt. Ich schmiegte mich an den schlafenden Sander, aber ich hielt ihn nicht fest. Das war nicht länger notwendig.