19. Brandgefahr

Die Fahrt mit dem Fahrrad zum Hof der Laboes tat mir wohl. Endlich legte der Regen eine Pause ein, und auch wenn die Sonne nicht schien, so duftete die Luft zumindest nach dem bevorstehenden Frühling. Die Gleichmäßigkeit der Felder erinnerte an die Ordnung eines Schachbretts, das Land sah gegen den Horizont leicht geschwungen aus und am Himmel zogen Vogelschwärme ihre Kreise. Zuerst kam ich aus der Puste und befürchtete schon, erschöpft zusammenzuklappen, vor allem weil Lutz, der an der Leine neben meinem Rad lief, ein ordentliches Tempo anschlug. Dann kehrte die Wärme in meinen Körper zurück und ich blühte regelrecht auf. Gefühlsmäßig war ich nach wie vor ausgebrannt, doch das kümmerte mich nicht, lieber trat ich konzentriert in die Pedale. Einfach nur im Jetzt sein und den Kopf freipusten lassen vom Märzwind – darauf kam es an.

Als ich den Hof erreichte, war ich durchgeschwitzt, und auch Lutz hechelte, was das Zeug hielt. Allerdings hatte die Bulldogge eindeutig mehr Power als ich, denn als Laboes Neufundländerhündin Lolle auf uns zugelaufen kam, sprang er sofort wie ein junger Gott an ihr hoch, bereit, an ihrer Seite wild über den Hof zu jagen und sie beim Spielen mit ihrem Lieblingsgummiball anzuhimmeln. Für Hunde ist immer alles so wunderbar einfach, dachte ich neidisch. Bei denen läuft das nach dem Motto ›Ich kann dich gut riechen, damit ist alles geklärt‹. Unwillkürlich dachte ich an Sanders Geruch, den ich viel zu kurz eingeatmet hatte. Dann dachte ich an seinen Geschmack … Ehe ich beschloss, die Hausglocke zu läuten.

Solange öffnete mir die Tür, einen Korb mit gefalteten Tüchern auf der Hüfte. »Guten Morgen, Anouk. Das ist ja eine nette Überraschung. Fällt bei dir der Unterricht aus?«

»Nicht direkt«, druckste ich herum. »Ich hatte eine schlimme Nacht, deshalb bin ich heute nicht in der Schule. Zu Hause fällt mir allerdings die Decke auf den Kopf, es ist nicht auszuhalten. Deshalb dachte ich mir, ich könnte ja vielleicht Grandmama Gesellschaft leisten.«

»Das ist eine schöne Idee, sie wird sich freuen. Geh in die Küche, dann kannst du ihr beim Kochen helfen. Ich muss mich rasch um die Tücher kümmern, die müssen heute noch versandfertig gemacht werden. Zurzeit läuft das Geschäft wie geschmiert.«

Ich wusste es wirklich zu schätzen, dass Solange mir nicht sofort ein Loch in den Bauch fragte. Als Laboes Mutter hatte sie vermutlich gelernt, dass es manchmal mehr brachte, einem die notwendige Zeit zuzugestehen, bis man von selbst seine Probleme auspackte.

Als ich die Küche betrat, bestand mein größtes Problem ohnehin darin, dass der Duft von frisch gebackenem Brot und einer verrückten Mischung aus Orangen mit Chili meinen leeren Magen zum Knurren brachte. Der Stein, der sich seit meiner Begegnung mit Sander auf dem Dachboden in meinem Bauch eingenistet hatte, war schlagartig verschwunden.

»Guten Morgen, Anouk-Herzchen«, begrüßte mich Grandmama, ohne den Blick von dem Topf zu nehmen, in dem sie kräftig rührte. Mich überkam der Verdacht, dass sie mich an meinem Gang erkannte, so wie ich meinen Vater. Was mochten meine Schritte wohl über mich aussagen? Hasenfuß oder Hindernisläuferin? Tippelschritte oder Mehr-Stolpern-als-Gehen? Mein Ego lag wirklich am Boden. »Einen Kuss gibt es später, jetzt muss ich zusehen, dass die Marmelade nicht anbrennt. Die Orangenschale will sich unbedingt festsetzen.«

»Guten Morgen, Grandmama. Die Marmelade duftet umwerfend«, antwortete ich brav und setzte mich an den langen Küchentisch, auf dem neben halb leer getrunkenen Kaffeetassen und Krümeln ein aufgeschlagenes Buch lag.

›Paris war eine Frau‹ stand auf dem Umschlag.

Oh, das gute Stück hatte ich Laboe geschenkt! Wir planten nämlich eine Parisreise nach dem Abitur, als Belohnung fürs Durchhalten und … weil wir unbedingt dorthin wollten! Nur wir zwei, in einer kleinen Dachbodenkammer mit Blick auf die weißen Kuppeldächer der Sacré Cœur, so hatten wir es uns bereits ausgiebig ausgemalt.

Plötzlich vermisste ich meine Freundin ganz furchtbar. Zwar hatte ich Laboe gestern in der Schule gesehen, aber seitdem war unendlich viel passiert, und ich war noch nicht dazu gekommen, ihr mein Herz auszuschütten, auch wenn ich vermutlich kaum etwas erzählen durfte. »Stell dir vor, meine Mama hat mich in Wirklichkeit gar nicht verlassen, sondern ist bloß durch einen unerklärlichen Zufall in den Maelstrom hinterm Tor geraten und ist seitdem verschollen. Das weiß ich, weil Sander, den du für meinen Bruder hältst, mich ohne Vorankündigung geküsst hat. Jetzt bin ich verliebt und wirr und durcheinander wie ein 1000-Teile-Puzzle in der Box. Hast du zufällig Interesse, mich zusammenzusetzen?« Unwillkürlich schniefte ich. All diese Dinge, die mein Leben auf den Kopf stellten, würde ich voraussichtlich mit mir allein ausmachen müssen.

Nun drehte sich Grandmama doch um, den tropfenden Holzlöffel in der Hand. »Ich sehe schon«, sagte sie, dann nahm sie den Topf vom Herd und begann herumzuwerkeln. Fünf Minuten später stand eine Schale mit frischem Milchkaffee und ein Teller mit Scheiben des selbst gebackenen Weißbrots vor mir. Grandmama deutete auf die Butter und schöpfte einen Klacks von der Marmelade auf einen Unterteller zum Auskühlen. Die Mischung aus Süße und Schärfe, die mir in die Nase stieg, brachte meine Sinne zum Kribbeln.

»Die Erdbeermarmelade hat Solange im letzten Sommer eingekocht, sie war wohlschmeckend, aber jetzt ist sie pure Energie. Wenn man sie isst, herrscht Brandgefahr.«

Grandmama grinste, als ich nach dem ersten Bissen wegen der Schärfe zu keuchen begann. Mann, das Zeug war grandios, das schoss einem 1a die Nebenhöhlen frei. Trotzdem aß ich alles auf und erschlich mir mit einem bambimäßigen Augenaufschlag eine weitere Portion. Während ich mich vollstopfte, saß Grandmama mir gegenüber, die Arme gemütlich über ihrem Busen verschränkt. Zwischendurch kam Solange herein, sagte etwas in klingendem Französisch, das ich nicht verstand, und verschwand sogleich wieder mit einer Kaffeeschale in Richtung ihres Ateliers.

Nachdem ich keinen Bissen mehr herunterbekam und mein Bauch gefühlt zu einer Bowlingkugel angeschwollen war, sank ich gegen die Stuhllehne.

»Bist du jetzt gestärkt genug, um mir von deinen Problemen zu erzählen? Deswegen bist du doch zu mir gekommen, damit ich dir helfe.«

Grandmama wusste nicht nur blind, wer den Raum betrat, sie konnte einem auch von der Nasenspitze den Seelenzustand ablesen. Und sie verschwendete keine Zeit mit Herumgeplänkel. Nun, genau aus diesem Grund war ich ja tatsächlich gekommen, nur leider hatte ich nicht den leisesten Schimmer, wie ich das Ganze erklären sollte, damit sie mir einen weisen Rat erteilen oder wenigstens ein paar hausgemachte Beruhigungsbonbons mit auf den Weg geben konnte.

»Das ist alles so verflixt schwierig. Wäre es vielleicht möglich, dass wir meine Erklärungen überspringen und Sie mir die Karten legen? Die wissen doch sowieso Bescheid, oder?«

Grandmamas Blick brannte sich in mich, als ob mir nicht schon von dem Chili in der Marmelade superheiß wäre. »Du brauchst Klarheit«, sagte sie schließlich, und das Wort ›Klarheit‹ ließ mich automatisch nicken. Ja, genau das brauchte ich vor allen anderen Dingen! »Zeig mir deine Hände.«

Gehorsam reichte ich ihr meine Hände über den Tisch. Durch das Fenster fiel milchiges Tageslicht und Solange sang in ihrem Atelier, während Grandmama meine Hände von beiden Seiten studierte, bevor sie die Handinnenflächen glatt strich, als wären sie eine Nachrichtenrolle. Was wir hier taten, hätte mir eigentlich merkwürdig vorkommen sollen, aber Grandmama vermittelte eine solche Gelassenheit, dass ich ihr Tun gar nicht erst infrage stellte. Für sie war das Lesen aus meiner Hand offenbar genauso gewöhnlich, wie ausgehungerte Mädchen mit Marmeladebroten zu füttern.

»Dein Lebensweg ähnelt dem von Alexander in vielerlei Hinsicht. Große Umwälzungen – in der Vergangenheit, aber auch in der nahen Zukunft. Leider verraten mir die Linien nicht, wie lange eure Wege noch miteinander verschlungen sein werden. Ich sehe nur, dass dein Leben nach dem aufziehenden Sturm ruhig werden wird. Eine Zeit lang zumindest.«

Ich schluckte, obwohl ich mich doch eigentlich darüber freuen sollte. Schließlich waren Eintracht und Normalität genau das, wonach ich mich mehr denn je sehnte. »Wenn das so aussieht, dann wird meine Zukunft wohl ohne Sander stattfinden müssen, denn für ein ruhiges Leben ist er leider nicht gemacht.« Es sollte ein Scherz sein, stattdessen klang mein Kommentar nach Galgenhumor.

Als habe sie erraten, wie sehr mir dieses Thema zusetzte, streichelte Grandmama über meine Hand. »Euch beide verbindet mehr, als du denkst. Wenn du willst, dass er Teil deines Lebens ist, dann wird er das auch sein.«

Als ob das so einfach wäre! Wollen allein reichte gewiss nicht, dafür waren die Dinge viel zu kompliziert. Aber woher sollte Grandmama das wissen? Sie ahnte ja nicht einmal, dass Sander und ich keine Geschwister waren. Ich räusperte mich. »Manchmal stehen einem die Ereignisse im Weg, sodass man gar keine eigene Entscheidung treffen kann. Man ist nicht mehr als ein Spielball, der von anderen Mächten herumgerollt wird.« Großartig. Kryptischer konnte man eine Antwort nicht verpacken. Zu meiner Erleichterung verstand Grandmama mich auch so.

»Lass deine Entscheidungen nicht von anderen treffen, vertraue deinem Verstand und deinem Gefühl, Anouk. Dazu gehört auch, dir selbst gegenüber ehrlich zu sein.«

»Das bin ich.« Ich klang wie ein kleines Mädchen, von dem erwartet wurde, die Süßigkeiten, die es schon fast in den Mund gesteckt hatte, zurück in die Schale zu legen. »Möglicherweise nicht immer, aber dann nur, weil ich nicht bemerke, dass ich mir selbst was vormache. Oder ich kapiere es erst, wenn es bereits zu spät ist. Leider gibt es ja kein Wahrheitsserum, das einem klarmacht, was tatsächlich in einem vorgeht. Oder einen Spiegel, der einem die nackte Wahrheit zeigt. Wie soll man, bitte schön, ehrlich zu sich sein, wenn man überhaupt nicht durchsteigt, weil alles grauenhaft verkorkst ist? In einem Moment wird man geküsst und im nächsten verlassen und dann erfährt man noch zu allem Überdruss von einem Familiengeheimnis, von dem man sich nicht sicher ist, ob das gut oder schlecht war.« Nun klang ich nicht länger wie ein kleines Mädchen, sondern wie ein Wasserfall. Gott sei Dank musste ich Luft holen und nutzte die Gelegenheit, ab hier den Mund zu halten. Ich hatte mich zweifelsohne gnadenlos verplappert – hoffentlich reichten Grandmamas Deutschkenntnisse nicht aus, um aus meinem Redeschwall schlau zu werden. Doch die Hoffnung begrub ich sofort.

»Es wundert mich ohnehin, dass Alexander dich erst jetzt geküsst hat. Das war längst überfällig«, erklärte Grandmama, ohne eine Miene zu verziehen. Als mir die Kinnlade runtersackte, lächelte sie. »Niemand mit zwei Augen im Kopf glaubt, dass ihr beiden Geschwister seid. Non, non.« Ihr Zeigefinger zerschnitt die Luft.

Ich überlegte ernsthaft, zur Anrichte zu gehen und mir ein Glas Rotwein einzuschenken. Randvoll. »Weiß Laboe darüber Bescheid?« Die Vorstellung verunsicherte mich über alle Maßen.

Grandmama dachte nach. »Nein, noch nicht. Aber wenn sie dich und Alexander das nächste Mal sieht, wird sie es ahnen. Die Verbindung zwischen euch lässt sich nicht leugnen. Aber viel entscheidender ist die Frage, ob du diese Verbindung zulässt oder dich anders entscheidest. Du spürst die anbrechenden Veränderungen bereits, sie haben sich nämlich schon in deine Haut gegraben.«

Zuerst dachte ich, Grandmama meinte das im übertragenen Sinn, aber dann sah ich, dass sich in den feinen Linien meiner Handinnenfläche ein kaum wahrzunehmender Schimmer abgesetzt hatte. Eine Spur von Wasser. Ich rieb mit dem Daumen darüber, doch das Blau blieb, wo es war, wie ein Zeichen, das ich nicht zu lesen vermochte.

TIAMAT – Liebe zwischen den Welten
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