18. Wundstarr

Der Wecker hatte bereits vor einer Ewigkeit geklingelt, und mein Vater rief gerade zum zweiten Mal, dass ich zu spät zur Schule käme, wenn ich nicht sofort aufstände. Das kümmerte mich jedoch nicht. Stattdessen drehte ich mich auf die andere Seite und zog mir die Decke über den Kopf. Wie ein Embryo lag ich da, geschützt und warm, nur leider änderte das nichts an meinem Seelenschmerz. Gab es das überhaupt, eine Seele? Es musste sie geben, denn anders konnte ich mir dieses Reiben und Stechen in meiner Brust nicht erklären.

Die Tür ging auf, Krallen schabten über den Holzboden und im nächsten Moment schob sich eine triefnasse Hundeschnauze unter meine Decke. Obwohl sie mein Knie berührte, reagierte ich nicht, wohl wissend, dass Lutz nur die Vorhut bildete. Auf der Treppe ertönten bereits die Schritte meines Vaters.

Ich hätte Jakobs Gang unter hundert anderen erkannt, niemand sonst ging derartig zielstrebig durchs Leben. Immer schön geradeaus und bloß kein Zögern, nicht einmal wenn es darum ging, die eigene Tochter zu belügen. Wie sonst wäre es ihm gelungen, mich davon zu überzeugen, dass Madelin uns verlassen hatte, dass ihre Freiheit ihr wichtiger gewesen war als unsere Familie? Er hatte mich in dem Glauben aufwachsen lassen, dass meine Mutter eine Frau war, die ihr einziges Kind ohne ein erklärendes oder gar tröstendes Wort in einem Haus voller Monster zurückgelassen hatte. Dabei war sie ein Opfer Tiamats geworden, und nicht einmal Jakob konnte, den unzähligen Forschungsstunden zum Trotz, sagen, ob sie noch lebte, und, wenn ja, wie es ihr wohl erging.

Nachdem ich mir die halbe Nacht den Kopf darüber zerbrochen hatte, ob mein Vater mir diese Lüge aufgetischt hatte, um mich oder doch nur sich selbst zu schützen, war ich kein Stück schlauer. Und was noch viel schlimmer war: Ich hatte keine Ahnung, wie ich ihm nun gegenübertreten sollte. Die Fragen, die ich ihm dringend stellen musste, überschlugen einander, bis nur noch Chaos herrschte. Ich musste wissen, warum er sich das Recht herausgenommen hatte, mich zu belügen. Weil er befürchtete, dass ich Madelins wahres Schicksal nicht verkraften würde, oder weil er insgeheim glaubte, Schuld daran zu sein, weil er als Wächter versagt hatte? Ob er wirklich mit allen Kräften versucht hatte, die Salzzeichen zu durchbrechen, um sie zu retten? Hatten Madelin und er sich geliebt und war sie mit einem Leben in Himmelshoch einverstanden gewesen? Kurzum, wer waren meine Mutter und mein Vater in Wirklichkeit? Zwei Menschen, denen ein unvorhersehbares Unglück zugestoßen war, oder waren wir eine Familie kurz vor dem Auseinanderfallen gewesen – Tiamat hin oder her? Und wo war mein Platz in diesem Durcheinander?

Diese und noch viel mehr Fragen mischten sich mit wirren Gefühlen, sodass ich kaum wusste, wo ich ansetzen sollte. Eine Frage ergab nur die nächste und zugleich kämpfte ich verzweifelt gegen meine innere Verlorenheit. Wie sollte ich die Zerschlagung dieses Gordischen Knotens bloß angehen, ohne mich heillos in ihm zu verstricken?

Ich kannte meinen Vater gut genug, um zu wissen, dass er mich bei einem schlechten Start vermutlich von oben herab abkanzeln würde. Jakob war bekanntermaßen ein Spezialist darin, Leute vor eine Mauer laufen zu lassen, er würde mich zum Schweigen bringen, bevor ich auch nur richtig mit meinem Verhör angefangen hatte. Und so, wie die Dinge nach der letzten Auseinandersetzung standen, würde er vermutlich schnurstracks Sander dazu auffordern, seine Sachen zu packen und zu verschwinden, nachdem er schon so viel Unruhe in unser Leben gebracht hatte. Falls daran ein Zweifel bestand, musste ich nur an die Auseinandersetzung der beiden wegen der nächtlichen Motorradfahrt denken. Darüber hinaus hatte Jakob keinen Zweifel daran aufkommen lassen, dass er jedes Interesse, das Sander an mir zeigte, bestrafen würde. Wenn mein Vater erfuhr, was auf dem Dachboden geschehen war … Dafür würde er Sander gewiss nicht nur vor die Tür setzen, sondern ihn direkt an die Wächter ausliefern. Das war das Letzte, was ich wollte. Zwar war es mir unmöglich, in dieser Situation über Sanders Rolle in diesem Spiel nachzudenken, aber dass sie nicht annähernd so schuldbeladen war, wie er es dargestellt hatte, darin war ich mir absolut sicher.

Nein, es wäre nicht hilfreich, aufgelöst und unüberlegt über Jakob herzufallen. Dafür brauchte ich einen Plan und für einen Plan musste ich geradeaus denken können. Im Moment war das völlig unmöglich, bestimmt würde ich nur alles falsch machen und am Ende sowohl Sander als auch meinen Vater verlieren, ohne einen Schritt weitergekommen zu sein.

Jakob räusperte sich kurz, dann zog er die Decke von meinem Kopf. »Guten Morgen, Anouk. Warum bist du noch nicht auf, fehlt dir etwas?«

Da meine Kehle wie zugeschnürt war, nickte ich lediglich.

»Bist du krank, soll ich in der Schule anrufen und dich für heute entschuldigen?«

Mein Vater sah ernsthaft besorgt aus über meinen Zustand, sodass ich mich entschied, die Chance auf ein wenig Aufschub zu nutzen. Im Moment war ich völlig ahnungslos, wie ich vorgehen sollte, damit unser aller Leben nicht zu einem noch größeren Scherbenhaufen wurde, als es sowieso schon war. Ohnehin graute mir bei der Vorstellung, wie wir beide nach einem Gespräch miteinander umgehen würden. Schließlich war mein Vater das einzige Familienmitglied, das mir geblieben war und das ich trotz allem liebte. »Mein Magen spielt verrückt«, flunkerte ich deshalb, was auch nur halb gelogen war, denn mir war tatsächlich mulmig zumute. »Wahrscheinlich habe ich mich bei Tammo Freibaum angesteckt, der hatte die gleichen Symptome am Wochenende.«

Der durchdringende Blick meines Vaters brachte mich fast dazu, mir wieder die Decke über die Nase zu ziehen. »Du siehst wirklich mitgenommen aus«, befand er zu meiner Erleichterung. »Ich werde in der Bank Bescheid geben, dass ich später komme. Sobald du dich angezogen hast, begleite ich dich zum Arzt.«

»Das ist nicht nötig«, wiegelte ich rasch ab. Das war mal wieder typisch für Jakob, sofort einen Schlachtplan auszutüfteln, ohne zuvor abzuchecken, ob das auch im Sinne des Betroffenen war. »Tammo hat sich gründlich ausgeschlafen, danach ging es ihm besser. Möglichst wenig Stress und noch weniger Bewegung ist die beste Therapie. Ich bleibe einfach in meinem Bett, dann bin ich morgen wieder fit.«

Während mein Vater abwog, ob ich vielleicht recht haben könnte, sah ich ihn verstohlen an. War er ein Lügner oder doch mehr ein Beschützer? Vielleicht würde mir ein wenig Abstand helfen, seinem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Also versuchte ich, meinen Vater aus der Perspektive eines Fremden zu betrachten, und was ich sah, war nicht bloß eine Respektsperson, sondern auch ein äußerlich perfekt zurechtgemachter Mann um die Vierzig. Die Strenge, die Jakobs Wesen entsprach, hatte sich tief in seine Züge gegraben, und seine Schlankheit betonte diese Seite noch. Ein asketischer Mann, der ganz und gar in seiner Berufung aufging, stets konzentriert, sich nicht einmal in Kleinigkeiten Fehler erlaubend. Von seiner Erscheinung her war er wie geschaffen für ein Hightech-Labor oder ein elegantes Büro mit Sicht auf eine Großstadt. Aber als Vater einer Jugendlichen, Angestellter einer mittelständischen Bank, Besitzer eines schrulligen Herrenhauses und erst recht als Wächter eines Tors, hinter dem ein Maelstrom dräuend seine Runden drehte, war er eigentlich undenkbar.

Wer bist du?, wollte ich Jakob fragen, aber da wendete er sich bereits ab. Das Einzige, das ich mit Sicherheit wusste, war, dass die Mauer, die er zwischen sich und der Welt aufgebaut hatte, grundsätzlicher Natur war. Nicht nur Sander und ich stießen uns daran die Nasen blutig. Jakob hatte irgendwann beschlossen, das Leben auszusperren. Vielleicht sogar schon zu einer Zeit, als meine Mutter noch da gewesen war. Das hätte zumindest erklärt, warum sie auf einigen Fotos so traurig aussah.

»Gut, dann schlaf dich aus«, entschied Jakob. »Wenn sich dein Zustand allerdings verschlimmert, dann rufst du dir sofort ein Taxi und fährst zu unserem Hausarzt Dr. Weinbrecht. Sander muss beim Tor bleiben, damit das klar ist. Dafür gibt es keine Ausnahmeregelung, ganz egal, was er als Begründung anführen mag. Nicht, dass er noch einmal auf die Idee verfällt, mit dir in der Gegend spazieren zu fahren.«

Die Gefahr bestand wohl kaum, aber ich hielt es für keine gute Idee, meinem Vater das auf die Nase zu binden.

Ich wartete ab, bis seine Schritte verklangen, dann stand ich auf. Ziellos wanderte ich im Zimmer auf und ab, an meiner Seite stets den treuen Lutz, der mein Unglück offenbar spürte, wobei seine Hundenase, mit der er mich immer wieder anstupste, äußerst willkommen war. Ich konnte jedes bisschen Aufmunterung, das dieser Morgen zu bieten hatte, gebrauchen.

Auch mein Zimmer bedeutete mir viel, da war ich Sander sehr ähnlich. Es war mein Nest in diesem ungewöhnlichen Haus, das ich zwar für seine Verrücktheiten liebte, aber in dem man eben auch froh über einen Rückzugsort war. Im Gegensatz zum Rest von Himmelshoch gab es in meinem Refugium weder etwas Verändertes noch Antiquitäten, sondern eine Mischung aus Ikea und den wenigen Möbelstücken, die meine Eltern bei ihrem Einzug mitgebracht hatten und die vom Stil her eindeutig meine Mutter ausgesucht haben musste.

Ich setzte mich auf den Hocker vor den Schminktisch aus den 50er-Jahren, den ich besonders liebte, und sah mich um. Alles in meinem Zimmer war hell, natürlich und gemütlich. Es gab keinen Bruch oder etwas Außergewöhnliches. Vielleicht wirkte mein Zimmer dadurch mädchenhaft und langweilig, wie Sander nicht müde wurde, mir unter die Nase zu reiben, aber das störte mich nicht. Wenn ich mir in diesem Augenblick ein bestimmtes Leben hätte aussuchen dürfen, dann hätte ich mich genau dafür entschieden: für die entspannte Langeweile, die meine vier Wände ausstrahlten. Wer brauchte schon Chaos und Weltuntergangsstimmung um sich herum? Eine emotionale Achterbahnfahrt in der Endlosschleife? Eröffnungen, die einen von einem Elend ins nächste stürzten? Ich auf jeden Fall nicht, nein, ganz und gar nicht, vielen Dank. Ich sehnte mich nach Ruhe und einer Schulter zum Anlehnen. Und eine Schale mit Keksen in Reichweite wäre auch nicht verkehrt.

Nachdenklich betrachtete ich mein Spiegelbild. Das klang zwar seltsam, aber ich passte in dieses Zimmer, mit meiner Mickerlingstatur, meinem unauffälligen Lässiglook und dem Lockenkopf. Ich war weder für Sanders cooles Kellerloch gemacht und schon gar nicht für das, was sich hinter der verrosteten Metalltür mit der Leuchtschrift verbarg. Mir wurde beim Motorradfahren übel, ich verkrümelte mich lieber unter der Bettdecke, anstatt mich in Schlachten um die Wahrheit zu werfen, und hasste das Durcheinander, aus dem meine Gegenwart bestand. Ich war normal, gewöhnlich, alltäglich, auch wenn die Umstände in meinem bisherigen Leben alles andere als normal, gewöhnlich und alltäglich gewesen waren. Ob es mir nun gefiel oder nicht, ich hielt alldem nicht länger stand – weder Sander noch meinem Vater und schon gar nicht dem, was ich über meine Mutter erfahren hatte. Von der ich übrigens zum ersten Mal in Erwägung zog, nicht nur ihr Aussehen, sondern auch ihr Wesen geerbt zu haben: ihren Hang zu schönen Dingen und Geschichtswälzern, ihren Wunsch nach Familie und Beständigkeit und ihre Liebe zu einem Mann, der sie auf Abstand hielt.

Das Ergebnis meiner Lebensumstände war nicht zu übersehen, ich war abgekämpft, meine Bewegungen fahrig, die Augen verheult, ich war ein Wrack von Kopf bis Fuß. Und dabei standen die richtig harten Entscheidungen erst noch an, denn in der letzten Nacht hatte ich zwar mein Kissen malträtiert, aber wie ich zu Sander und seinem Geständnis stand, wusste ich trotzdem nicht. Ich hatte nicht einmal einen Schimmer, wie ich mit alldem umgehen sollte. Am besten wäre es vielleicht, meine Koffer zu packen und mich in dieses Internat abzusetzen, bei dem Jakob mich wohl schon auf die Warteliste gesetzt hatte.

»Soll ich das tun? Flüchten? Ist das mein Weg?«, fragte ich mein Spiegelbild. Leider blieb es mir eine Antwort schuldig. »Komplett ahnungslos, was? Habe ich, offen gestanden, auch nicht anders erwartet.«

Dann bemerkte ich die Tarotkarte, die ich vor einigen Tagen in den Rahmen des Spiegels gesteckt hatte.

Die Liebenden.

Sanders Zukunft.

Ich nahm sie in meine Hand, und plötzlich wusste ich, wohin ich musste: Zu Grandmama.

TIAMAT – Liebe zwischen den Welten
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