Prolog
Wer nicht wusste, worum es sich bei dem Bild handelte, sah nur blaue und dunkelgraue Kreise, die sich zu dem schwarzen Auge in der Mitte hin immer mehr verengten. Obwohl das Werk eindeutig von Kinderhand stammte, entwickelte es eine erstaunliche Sogwirkung. Daran änderte auch das blau schillernde Gitter nichts, das über dem kompletten Bild lag, als solle es den Betrachter schützen. Während das blaue Liniennetz trotz seiner Komplexität sorgfältig ausgearbeitet war, bestand der Strudel aus groben Strichen, als habe sich der kleine Künstler nicht länger als nötig mit dem verstörenden Motiv aufhalten wollen. Oben am Rand des Blattes prangte in unregelmäßigen Druckbuchstaben ein Name: Tiamat.
Filippa Margold ertappte sich dabei, das Bild schon viel zu lange anzustarren. Das von den Buntstiftstrichen wellig gewordene Papier schien zwischen ihren Fingern feucht zu werden. Als würde das dunkel kreisende Blau sie benetzen. Reine Einbildung, erkannte Filippa sofort. Schließlich war Tiamat tatsächlich hinter einem blauen Gitter gefangen. Mit einiger Anstrengung löste sie den Blick von der Zeichnung und betrachtete stattdessen das Mädchen, das vor ihr stand und aufgeregt von einem Bein aufs andere trat. Sie ist unleugbar die zehnjährige Ausgabe ihrer Mutter Madelin. Und damit meinte sie nicht nur das volle Lockenhaar des Mädchens, sondern auch diese bestimmte Erwartungshaltung, dass schon alles richtig sein würde, was es tat. Darin hatte sich auch Madelin schwer getäuscht – und ihre Tochter machte den gleichen Fehler, als sie die Wächterin im Esszimmer von Himmelshoch abgefangen und ihr das Kunstwerk gezeigt hatte.
»Und diese Zeichnung hast auch wirklich du angefertigt, Anouk?«, vergewisserte sich Filippa.
Anouk nickte so eifrig, dass ihre Locken wippten. »Ja, damit Sie wissen, wie Tiamat aussieht. Ich dachte, das hilft Ihnen vielleicht dabei, weil Sie nicht zu ihr können …«
Das Mädchen hielt abrupt inne, als Filippa die Zeichnung der Länge nach durchriss. »Mein liebes Kind, ich befürchte, du hast die Regeln nicht wirklich begriffen. Oder was ich noch sehr viel schlimmer fände: Du nimmst sie nicht ernst.«
»Doch, das tue ich.« Anouk kämpfte standhaft gegen die Tränen an, die ihr in den Augen standen. Mit einer solchen Zurechtweisung hatte sie zweifelsohne nicht gerechnet, sondern vielmehr mit einem Lob für ihre Bemühung. »Ich nehme die Regeln der Wächter ernst, aber warum darf man nicht versuchen, sie besser zu verstehen, oder auch mal nachfragen, wenn einem etwas unsinnig erscheint? Diese ganze Geheimniskrämerei …«
»… ist überlebenswichtig«, schloss Filippa den Satz für sie. Genauso stur wie Madelin. Eine Schande, dass sie so wenig vonseiten der Parsons mitbekommen hat. »Du bist zwar noch ein Kind, Anouk, aber du musst dennoch begriffen haben, wie heikel die Angelegenheit ist. Oder muss ich dich daran erinnern, dass dein Vater seine halbe Hand verloren hat, weil er sich nicht an unsere Regeln hielt?«
Endlich senkte das Kind den Kopf. »Nein.«
»So, wie ich das sehe, wird aus dir niemals eine Wächterin werden. Das ist eine Schande, nachdem so viele Generationen der Parsons dem Zirkel treu gedient haben. Es ist aber auch kein Weltuntergang, schließlich gibt es bereits einen würdigen Nachfolger für deinen Vater. Wenn du jedoch in Himmelshoch bleiben willst, solltest du aufhören, unsere Vorgehensweise infrage zu stellen. Ansonsten …«
Filippa ließ die Drohung unvollendet im Raum stehen, wohl wissend, dass dieses Mädchen sich schon allein ausmalen würde, welche Konsequenzen ein erneuter Regelverstoß nach sich ziehen würde. So schlau war sie zweifelsohne. Außerdem musste Filippa sich beeilen, denn sie hörte Schritte im Flur – und Jakob Parson würde es sicherlich nicht gutheißen, dass eine junge ehrgeizige Wächterin so mit seiner Tochter umsprang.
»Ich werde machen, was Sie sagen.« Anouks Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. »Wenn ich dafür auf Himmelshoch bleiben darf, obwohl ich keine Wächterin werde.«
Es ist einfach, das Regelwerk des Wächterzirkels zusammenzufassen: Das Tor darf zu keiner Zeit unbewacht sein. Lass nichts und niemanden raus, lass nichts und niemanden rein.
Wer die Wächter jedoch sind und was sie tun, steht auf einem anderen Blatt.
Ich weiß einiges, aber bei Weitem nicht alles. Und ich bin mir auch nicht sicher, ob ich es überhaupt wissen will. Oder ob es noch eine Rolle spielt …