5. Freundschaftsband

Die Nacht nach der Auseinandersetzung zwischen meinem Vater und Sander verbrachte ich mit Grübeln, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Für den nächsten Schultag war das absolut tödlich: Seit der Mittagszeit hing ich nun in einem Loch, und zwar in einem richtig tiefen. Mein Kopf fühlte sich an, als sei er mit Watte ausgestopft. Nur mit Mühe hielt ich mich so weit aufrecht, damit Herrn Wecken, unserem Englischlehrer, nicht auffiel, dass in seinem Unterricht lediglich meine äußere Hülle anwesend war.

Vor meiner Freundin Becks konnte man hingegen rein gar nichts verbergen, dafür hatte sie schlicht ein zu feines Gespür für menschliche Abgründe – insofern war es keine große Überraschung, dass sie Psychologin werden wollte. Eigentlich hieß Becks Juliane Freibaum und hasste ihren Spitznamen leidenschaftlich, obwohl sogar ihr großer Bruder Tammo ihn benutzte. Dahinter verbarg sich allerdings auch eine hochnotpeinliche Geschichte, quasi der einzige Moment in ihrem bisherigen Leben, in dem sie sich hatte gehen lassen. Auf einer Party hatte sie mit ihrem Mund etwas an einer Becks-Bierflasche vorgeführt, was vor allem die Jungs niemals vergessen würden. Und seitdem erinnerten sie Becks jeden Tag mit diesem speziellen Kosenamen daran.

Während ich mich damit abmühte, die Augen vor Müdigkeit offen zu halten, riss Becks feinsäuberlich ein Blatt Papier aus ihrem Block und schrieb eine Nachricht darauf. Warum jemanden eine Frage ins Ohr flüstern, wenn es auch extraumständlich ging? Zu allem Überfluss faltete sie den Zettel auch noch zu einem Briefumschlag, bevor sie ihn vor mich auf den Tisch legte. Dort blieb er eine Weile liegen, bis ich mich so weit sortiert hatte, um ihn auseinanderzufalten.

Anouk-Liebes, Deine Müdigkeit ist ansteckend, und das kann ich ausgerechnet heute wenig gebrauchen. Was hast Du letzte Nacht bloß getrieben? Kuss, Juliane.

Das war keine rasch gekritzelte Nachricht, sondern ein halbes Kunstwerk, versehen mit Schnörkeln und Kusslippen. Typisch Becks, sogar das ›du‹ schrieb sie ganz altmodisch groß. Das mochte ich an ihr, genau wie ihren Pferdeschwanz und ihre kerzengerade Körperhaltung, als würde sie an einer Ballettstange stehen oder auf einem Pferderücken sitzen. Was ich weniger an ihr mochte, war ihre felsenfeste Überzeugung, dass sie alles durchblickte, und dass sie ihre viel zu hohen Maßstäben bei jedem ansetzte. Manchmal wirkte sie dadurch ganz schön arrogant, aber das blendete ich nach Möglichkeit aus. Schließlich hatte ich gewusst, wie sie tickte, als ich mich vor einigen Monaten mit ihr angefreundet hatte.

Schlecht gepennt, kritzelte ich unter ihre elegante Schrift. Dann strich ich mein Gekrakel durch und setzte zu einer Becks-würdigen Antwort an.

Werte Frau Sitznachbarin, es war mir gestern Nacht einfach nicht vergönnt einzuschlafen. Frag nicht, warum und entschuldige bitte meine hemmungslose Gähnerei. Die Deine

Wie erhofft, kicherte Becks.

Das war es, was sie an mir mochte: Ich war eigen, aber nicht so sehr, dass ich aus der Rolle fiel, eben genau die richtige Mischung, die sie anziehend fand. Manchmal fragte ich mich, wie Becks wohl reagieren würde, wenn sie auch nur eine Ahnung davon hätte, wie mein Leben außerhalb der Schule aussah. Ein wenig Schrägheit wie Himmelshoch als Zuhause oder den farbenfrohen Sander fand sie zwar noch spannend, aber fantastische Veränderungen oder gar Tiamat? Gut möglich, dass ich Becks Unrecht tat und sie unter jeder Bedingung wie eine Eiche zu mir stand, aber so sicher war ich mir nicht. Ich hatte nämlich schon mitbekommen, wie sie Leute abkanzelte, die ihrer Meinung nach zu abgefahren waren. Unwillkürlich fragte ich mich, warum ich überhaupt mit ihr befreundet sein wollte. Zum einen natürlich weil sie so ein wunderbar alltägliches Leben führte, das ich mir insgeheim auch wünschte: Standardeltern, einen langweiligen Bruder und außer einem üblen Spitznamen nichts weiter Interessantes zu vermelden. Zum anderen strahlte Becks eine Sicherheit aus, von der ich mich magisch angezogen fühlte und die mich hoffen ließ, dass sie sogar dann noch meine Freundin sein würde, wenn sie jedes meiner Geheimnisse kannte.

Das Ende der Englischstunde hätte ich glatt verschlafen, glücklicherweise weckte Becks mich rechtzeitig aus meinem Dämmerzustand. »Du brauchst dringend frische Luft«, ordnete sie an.

Folgsam taperte ich hinter ihr her auf den Schulhof und stellte mich mit zu ihren Freunden, die bereits unter Hochdruck redeten, nachdem sie fünfundvierzig Minuten lang im Unterricht den Mund gehalten hatten. Das galt besonders für diejenigen aus dem Geschichtskurs bei Frau Dr. Marie Zirowski, die zu Endlosmonologen neigte.

Tammo, Becks älterer Bruder, führte wie immer das Gespräch an, sodass ich wusste, es konnte ausschließlich um Basketball gehen, bevor ich auch nur ein Wort hörte. Manche Dinge standen genauso verlässlich fest wie das morgendliche Aufgehen der Sonne. Für gewöhnlich war ich durchaus zu haben für Verlässlichkeit, aber Tammo übertrieb es meiner Meinung nach. Was seine Themenauswahl anging, war er dermaßen verlässlich, dass ich mittlerweile synchron mitsprechen konnte.

Als wir in den Kreis traten, blinzelte Tammo mir zu, das Selbstbewusstsein in Person. Kein Wunder, er war ein waschechter Hingucker mit seinem goldroten Haarschopf, der ihn aus jeder Menschenmenge hervorstechen ließ, und seiner Athletenfigur. Genau wie Becks wusste er fast schon zu gut, was für Klamotten ihm standen und wie man lächeln musste, damit einem die Welt zu Füßen lag. Mehr brauchte es für die meisten Mädchen an der Sophie-Scholl-Gesamtschule nicht, um in Ohnmacht zu fallen. Ich bildete da keine Ausnahme, nur dass ich vor Langeweile daniedersank, weil ich sowohl Tammos Gerede als auch seine zur Schau getragene »Was bin ich doch beliebt«-Tour einschläfernd fand. Vermutlich machte mich ausgerechnet meine Resistenz für seinen Charme in seinen Augen besonders anziehend, jedenfalls bekam ich die Extraportion Aufmerksamkeit ab, nach der sich die anderen Mädchen der Clique sehnten.

»Moin, Anouk«, begrüßte er mich. »Du siehst aus, als könntest du eine kleine Aufmunterung gebrauchen. Kann ich dir dabei helfen?«

»Lass mal, deine Basketball-Helden-Geschichten sind aufmunternd genug. Erzähl ruhig weiter.«

Es war Tammo an der Nasenspitze anzusehen, dass er nicht recht wusste, ob ich das ernst meinte oder ihn vielleicht hochnahm. Dann siegte jedoch sein Ego, und er erzählte fröhlich weiter, wie er den Verteidiger vom letzten Freundschaftsspiel in Grund und Boden gerammt hatte. Automatisch schweifte mein Blick ab und blieb am einnehmendsten Grinsen aller Zeiten hängen.

Laboe.

Was machte die denn hier? Eigentlich lohnte sich der Weg vom Kunsttrakt, wo sie gerade Unterricht hatte, zum Innenhof für die Pause nicht. In ihrem Windschatten folgte Moritz, von Kopf bis Fuß in dunkle Farben gekleidet, nur seine Miene war noch finsterer. Dabei war Kunst sein Lieblingsfach, wie ich beklemmt dachte. Also wieder kein guter Tag für ihn.

Während Becks und die anderen fasziniert an Tammos Lippen hingen, der irgendwas über den Jahrhundertwurf erzählte, lief ich Laboe und Moritz entgegen.

»Hey, was macht ihr denn hier?«

Laboe grinste. »Es ist schon echt ein Kunststück, unauffällig schnell zu rennen. Haste gut gemacht, Commander Becks hat von deiner unerlaubten Absonderung von der Gruppe nichts mitbekommen.«

»Du bist paranoid, meine Gute«, winkte ich ab.

»›Meine Gute‹«, äffte Laboe mich nach. »Ist das Becksisch? Die Frau färbt langsam auf dich ab.«

Die Giftspritze saß, obwohl ich solche Kommentare allmählich gewöhnt war. Becks machte keinen Hehl daraus, dass sie auf Laboe herabsah, während die wiederum keine Chance ungenutzt verstreichen ließ, über die »Sauberfrau« zu lästern. Dagegen anzugehen brachte erfahrungsgemäß wenig, Laboe neigte nämlich dazu, sich an dem Thema nur umso mehr festzubeißen, je stärker ich sie davon abzubringen versuchte. Normalerweise war sie das mit Abstand coolste Mädchen der Schule, aber wenn es um meine Freundschaft zu Becks ging, wurde sie bissig.

Ich entschied mich für ein Ausweichkommando, indem ich mich Moritz zuwendete und ihm über seine behaarte Wange strich. Seit dem letzten Sommer, den er allein mit einer Wanderung durch die schottischen Highlands verbracht hatte, trug er einen Vollbart, passend zu seinen schulterlangen Haaren. Sander nannte ihn deshalb immer die »Teenager-Ausgabe von Vetter It«, nach diesem Kerlchen aus der ›Addams Family‹, das von Kopf bis Fuß nur aus Haaren bestand. Das war übrigens als Kompliment gemeint, denn es schafften nur wenige Menschen, Sanders Aufmerksamkeit so zu erringen, dass er sie mit einem Spottnamen bedachte.

»Wie geht es dir?« Meine Frage klang viel zu vorsichtig, das wusste ich sofort.

»Ich bin kein rohes Ei«, bekam ich prompt von Moritz die Rechnung serviert.

»Weiß ich doch. Das war bloß so dahingesagt, ganz ohne Hintergedanken.«

»Und warum streichelst du mir dann die Wange?«

»Weil unsere Anouk Körperkontakt liebt.« Laboe legte den Arm um meine Schultern und drückte mir einen Schmatzer auf die Wange.

Ich musste lachen und knutschte sie zurück, traf allerdings lediglich ihren Kieferknochen, weil sie locker einen Kopf größer war als ich. So wie die meisten Menschen. Dann fing ich Becks Blick auf, wobei ich ihre Gedanken förmlich lesen konnte: »Du lässt dich von Jasmin Laboe mitten auf dem Schulhof busseln? Weißt du denn nicht, was man über sie erzählt?«

Doch, dachte ich, das weiß ich nur allzu gut.

Vermutlich gab es niemanden in unserer Kleinstadt, der sich noch nicht das Maul über dieses einzigartige Mädchen zerrissen hatte, schließlich bot Laboe mehr als einen Grund dafür. Der Augenfälligste war vermutlich ihre Milchkaffeehaut, eine Mischung aus ihrem Vater, dessen Familie schon seit Generationen in Marienfall lebte, wo alle miteinander blass waren, und ihrer französischen Mutter, deren Vorfahren aus der Karibik stammten. Ihre Großmutter, die in Paris lebte, hatte sogar noch ein paar ziemlich beeindruckende Voodootricks auf Lager. Das allein wäre schon interessant gewesen, aber es kam noch hinzu, dass Laboe keinen Hehl daraus machte, auf Frauen zu stehen. Die Kombination war für viele einfach zu heftig. Nicht unbedingt, weil die Leute sich etwas Böses dachten, sondern weil sie nicht recht wussten, wie sie sich verhalten sollten, vor allem weil Laboe allzeit erhobenen Hauptes durchs Leben ging.

»Oh, ich befürchte, dieses Bussi fand deine Freundin Becks nicht angebracht. Das gibt Punktabzug auf ihrer Sauberfrauen-Liste, sorry.« Laboe gab sich gar nicht erst die Mühe, die Genugtuung aus ihrer Stimme zu tilgen.

Ich seufzte. »Du weißt, dass dieser Hühnerkampf zwischen euch beiden albern ist, oder?«

»Ich liebe Hühnerkampf, da kriege ich gar nicht genug von.«

Das Schrillen der Glocke verkündete das Pausenende. Während Laboe ein so waschechtes Hahnenkrähen von sich gab, dass der halbe Schulhof sich nach ihr umdrehte, suchte ich Moritz’ Blick.

»Sollen wir heute Nachmittag was zusammen machen?« Es setzte mir zu, wie schmal er in diesem Mantel aussah. Als wir ihn im Herbst zusammen gekauft hatten, hatte er ihn noch problemlos ausgefüllt.

»Das geht leider nicht, mein Vater will heute etwas mit mir unternehmen, Vater-Sohn-Zeit, Kino oder so. Vermutlich krönt er das Ganze mit einem ellenlangen und sinnbefreiten Gespräch im Anschluss.«

»Armer Moritz, obwohl Kinobesuch doch deutlich besser ist, als wenn er dich wieder zu einem Cellovorspiel schleppen würde.« Moritz Eltern waren der festen Überzeugung, dass er unbedingt etwas aus der einzigen Leidenschaft, die sie nachvollziehen konnten, machen musste. Es war ihnen unbegreiflich, dass er zwar stundenlang mit seinem Cello zubrachte, es aber hasste, vor Publikum zu spielen.

»Moritz mag heute zwar vergeben sein, ich habe allerdings Zeit, mein Schnuckiputz.« Laboe lächelte herzallerliebst.

»Fein, dann treffen wir uns nach Schulschluss bei deinem Wagen«, willigte ich ein, verwundert über die Bezeichnung ›Schnuckiputz‹. Dann erst begriff ich, dass Becks hinter mir aufgetaucht war.

»Die Dame ist bereits vergeben, zumindest für den heutigen Nachmittag«, verkündete Laboe.

Becks ignorierte sie, während sie mich beim Ellbogen packte und regelrecht abführte. Das hielt Laboe jedoch nicht davon ab, uns Luftküsse hinterherzuwerfen. Becks Kiefer mahlte, als sie ihren Platz im Englischkurs neben mir einnahm.

»Nun ärger dich doch nicht, für Laboe ist das ein Spiel, sie provoziert halt gern. Und du machst es ihr mit deiner abweisenden Art besonders leicht«, versuchte ich ihr zu erklären, obwohl ich wusste, dass die beiden wie Hund und Katze waren und keine Erklärung meinerseits irgendetwas besser machte.

Zuerst sah es so aus, als würde Becks nicht reagieren. Bedächtig strich sie ihren Pferdeschwanz glatt. Herr Wecken startete bereits in den Unterricht, als sie plötzlich flüsterte: »Jasmin Laboe ist wie ein Krankheit, die man nicht loswird.«

»Blödsinn! Und überhaupt: Du kennst sie ja nicht einmal«, raunte ich zurück.

Den Rest der Stunde verbrachte ich nicht mit »The Catcher in the Rye«, sondern mit der Frage, was genau Becks damit hatte sagen wollen. Sie hatte wütend, aber auch nachdenklich geklungen. Ich fand bis zum Ende der Stunde keine Lösung und war geradezu erleichtert, als sie sich rasch verabschiedete, um ihren Bus noch zu bekommen.

TIAMAT – Liebe zwischen den Welten
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