24. Auf dem Grund der Dinge

Sander spannte sämtliche Muskeln an, um auf die Beine zu springen und den Besucher gebührend in Empfang zu nehmen. Nur leider hing ein Gewicht an ihm – meine Wenigkeit. Und ich hielt es für keine besonders überzeugende Idee, Tammo zu Fischfutter zu verarbeiten, zumindest so lange nicht, wie er sich nicht mordlüstern aufführte und niemand wusste, was aus dem echten Tammo geworden war. Wir mussten die Gelegenheit nutzen, mit ihm zu sprechen. Also umfasste ich Sander, so fest ich konnte, und schlang zusätzlich meine Beine um seine Hüfte.

»Das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für weitere Zärtlichkeiten«, knurrte Sander mich an. Seinen Versuch, aufzustehen, gab er trotzdem auf. Entweder hatte Tammo soeben die weiße Fahne gehisst oder Sander reagierte stärker auf meine Umklammerung, als ich mir je hätte träumen lassen.

»Der richtige Zeitpunkt, um Tammo in der Luft zu zerreißen, ist es aber auch nicht. Jedenfalls nicht, bevor er uns erklärt hat, was eigentlich los ist … Mit ihm und mit dieser kolossalen Veränderung, in der wir drinstecken. Möglicherweise weiß er sogar, was in der letzten Zeit mit Tiamat los ist. Deshalb sollten wir erst einmal abwarten, solange er nicht auf Angriff geht. Und, Sander …«, flüsterte ich. »Was auch immer passiert, lass mich nicht los. Ohne dich kann ich nicht an diesem Ort sein, ich würde vom Strudel fortgerissen werden, da bin ich mir sicher.«

Ich hörte Sanders Kieferknochen mahlen. »Nur eine falsche Bewegung von dem Mistkerl und wir machen es auf meine Weise.« Mein zustimmendes Nicken bekam er schon nicht mehr mit. Seine gesamte Aufmerksamkeit war auf den Besucher gerichtet, der bislang keinen Ton von sich gegeben hatte.

Zögernd blickte ich über meine Schulter.

Auf Tammos Zügen spiegelte sich jenes goldene Leuchten, das auch den Zeichen im Strudel eigen war, und ließ ihn aussehen, als strahle er von innen heraus. Ein menschliches Wesen und doch wieder nicht, sondern Form gewordenes Wasser oder vielmehr eine Gestalt, die erfüllt war von diesem veränderten Element, das sich jetzt wie Luft anfühlte, mich aber nicht mit Sauerstoff zu versorgen in der Lage war. Reglos stand Tammo da, seine muskulösen Arme hingen entspannt an den Seiten, um zu demonstrieren, dass er weder anzugreifen gedachte, noch einen Angriff erwartete.

»Anouk hat recht.« Tammo sprach ruhig, als gäbe es nicht das geringste Problem zwischen uns. »Sie braucht die Verbindung zu dir, damit sie hier verweilen kann, ansonsten würde die Strömung sie ergreifen. Außerdem ist es für uns beide bestimmt von Vorteil, wenn Anouk bei unserem Gespräch dabei ist, denn sie scheint die einzige Person zu sein, die Einfluss auf dich hat. Und was ich zu erzählen habe, wird dir bestimmt nicht gefallen.«

Die einzige Regung, die Sander zeigte, bestand darin, seine Finger in meine Haut zu graben, als wolle er sie dort verankern. Dann grub er sie noch ein wenig tiefer, als Tammo einen Schritt auf uns zutrat. Mühsam unterdrückte ich einen Schmerzenslaut.

»Tu uns beiden den Gefallen, Freibaum, und reiz mich nicht mehr als ohnehin schon.« Die Angriffslust in Sanders Stimme war nicht zu überhören. »Wenn du mir die Chance bietest, an dich ranzukommen, ohne Anouk zu gefährden, kann ich für nichts garantieren.«

Augenblicklich wich Tammo zurück, allerdings weniger verängstigt, sondern wie jemand, der ein wildes Tier nicht unnötig gegen sich aufbringen will. »Keine Sorge, ich bin nicht gekommen, um dich herauszufordern. Ganz im Gegenteil. Allerdings muss ich mich erst einmal dafür entschuldigen, dass ihr an diesen Ort gelangt seid. Besonders bei Anouk. Das muss ein übler Schrecken gewesen sein.« Sein Blick wanderte zu mir, ohne dass er mich wirklich ansah. In diesem Moment war ich nicht das Mädchen, mit dem er auf so unnachahmlich leichte Weise geflirtet hatte. Mir kam es vor, als sähe er nicht mich, Anouk, an, sondern eine andere. Das war vollkommen verrückt, aber ich konnte mich des Eindrucks dennoch nicht erwehren. Wen sah Tammo, wenn er mich auf diese Weise betrachtete?

»Ob ihr mir glaubt oder nicht – so war das nicht geplant«, gestand er.

»Die Flutung des Kellers war also lediglich ein Missgeschick? Wie peinlich.« Sander schnalzte bedauernd mit der Zunge.

»Ich bin erst vor Kurzem angekommen und noch ziemlich durch den Wind«, gestand Tammo unumwunden ein. »Ich hatte zwar eine ungefähre Ahnung davon, was mich in dieser Welt erwarten würde, aber auf die unzähligen und befremdlichen Eindrücke, die auf einen einprasseln, kann man sich schlecht vorbereiten. Eigentlich hatte ich mir fest vorgenommen, den Tropfen nicht zu öffnen, solange ich mir nicht 100 Prozent sicher bin, dass meine Gabe vollständig hergestellt ist. Selbst dann hätte ich es nur an einem einsamen Ort ausprobiert, wo kein Mensch Gefahr läuft, in den Sog zu geraten. Mit meiner heftigen Reaktion auf Anouks Nähe hatte ich allerdings nicht gerechnet, und als du dann auch noch aufgetaucht bist … Das ist komplett außer Kontrolle geraten.«

»Nur für den Fall, dass du es vergessen hast: Ich bin persönlich anwesend, du brauchst also nicht in der dritten Person über mich zu sprechen«, warf ich ein.

Als sei meine Lippenbewegung das Faszinierendste überhaupt, starrte Tammo auf meinen Mund, dann lächelte er verlegen. »Mit jedem deiner Atemstöße erzählst du eine Geschichte, darüber, wer du bist und was du erlebt hast. Tut mir leid, wenn ich mich deshalb seltsam benehme. Davon einmal abgesehen, solltest du sparsam mit deinem Sauerstoff umgehen. Denn Sander scheint sich seiner Aufgabe, sich um dich zu kümmern, nur wenig bewusst zu sein.«

»Unsinn! Ich habe durchaus kapiert, wie das mit dem Atmen läuft.« Sander drehte mein Gesicht zu sich, dann musterte er mich eingehend. »Du siehst wirklich ein bisschen blau um die Nase aus.«

Das war durchaus möglich. Ich war so von Tammos Worten gebannt gewesen, dass ich gar nicht bemerkt hatte, wie mir allmählich die Luft ausging.

»Vielleicht sollte ich das besser übernehmen, ich kenne mich damit aus, wie man einen Menschen mit Sauerstoff versorgt«, schlug Tammo vor.

»O-kay«, sagte Sander gedehnt. »Das ist eine ziemlich konkrete Art, um mich darum zu bitten, dir den Kopf von den Schultern zu reißen.«

Während Sander noch ein paar Beschimpfungen nachschob, sog ich seinen Atem ein, bis mein Brustkorb glühte. Vielleicht war ich nicht für diesen Ort geschaffen, aber diese Art zu atmen war einfach nur großartig. Allzu gern wäre ich in dieser Erfahrung versunken, doch mir blieb nur ein Moment, da Sanders Wut nun in Eifersucht umschlug. Allein die Vorstellung, dass Tammo mir auf diese Weise nah kommen könnte, reizte ihn mehr als jede feindliche Geste. Höchste Zeit dafür, das Gespräch wieder in vernünftige Bahnen zu leiten.

»Was meinst du damit, dass wir uns in einem Tropfen befinden, den du geöffnet hast? »

Zuerst zögerte Tammo, und sein Schweigen sorgte dafür, dass Sander Anstalten machte, aufzustehen. Notfalls würde er mich einfach mitziehen, koste es, was es wolle. Hauptsache, er konnte eine Angriffsposition einnehmen.

Gerade noch rechtzeitig räusperte Tammo sich. »Dieser Winkel im Herzen des Strudels ist die Ausdehnung eines winzigen Teilchens aus meiner Heimat, das ich mit mir genommen habe. Ich besitze die Gabe, in einem Wassertropfen eine Realität zu erschaffen, die dem Ewigen Meer ähnlich ist. Die Flut, die euch mitgerissen hat, war in Wirklichkeit keine, jedenfalls keine aus gewöhnlichem Wasser. Normalerweise hätte es überhaupt nicht einer solchen Springflut bedurft, um den Tropfen zu öffnen und zu stabilisieren, aber im Moment bekomme ich das anscheinend nicht besser hin. Das Durcheinander beim Pool habe ich übrigens beseitigt, auch wenn es ein wenig gedauert hat. Falls jemand in die Nähe des Schwimmbeckens kommt, wird er nichts Außergewöhnliches entdecken.«

»Das ist wohl das Mindeste. Zusammen mit den Freibaums, ihrem Gärtner, der Putzfrau und dem übergewichtigen Kater würde es auf Dauer nämlich ganz schön eng werden in deinem Zaubertropfen.« Zu meiner Verwunderung war Sander mit seinem Spott nur halb bei der Sache und ätzte deshalb nicht auf üblichem Niveau. Offenbar beeindruckte ihn diese Umgebung mehr, als er zuzugeben bereit war. »So sieht es also auf deiner Seite des Tors aus? Wasserströmungen in allen erdenklichen Blau- und Grauschattierungen, zerschnitten von einem Gewirr aus goldenen Linien und mittendrin ein leerer Raum?

Tammo kratzte sich verlegen am Nacken. »Nun, zumindest würde es in diesem Tropfen nach einiger Zeit wie in meiner Heimat aussehen. Unsere Heimat ist alles andere als ein leerer Raum. Um sie meinen Bedürfnissen anzupassen, bedarf es allerdings einiger Arbeit. Das ist übrigens die große Kunst unseres Volkes, den Fließenden: die stete Bewegung und die Veränderung des Meeres in eine Form zu verwandeln. Wir gehen mit dem Fluss und zugleich geht der Fluss mit uns. Daher der Name.«

So nannte sich das Volk auf der anderen Seite also, die Fließenden. Alles fließt. Unwillkürlich ging mir der Satz eines altgriechischen Philosophen durch den Kopf. Heraklit, hatte er das gesagt? Egal. Bei dem Versuch, mir eine Welt vorzustellen, in der alles einer ewigen Bewegung ausgesetzt war, begann mir der Kopf zu schwirren.

»Gratulation«, sagte Sander. »Leider ist die Bestimmung der Fließenden nicht wirklich der Hit, wenn sie darin besteht, in eine andere Welt einzudringen und den Bewohnern dort das Leben schwer zu machen.«

»Ich sagte bereits, es tut mir leid, dass ihr in meinen Tropfen geraten seid.«

Sander machte eine wegwerfende Handbewegung. »Damit meine ich nicht diesen albernen Zaubertrick, sondern deine fiesen Kollegen, die uns seit einiger Zeit das Leben zur Hölle machen.«

Tammo blickte ihn ernst an. »Von uns Fließenden ist keiner durch das Tor gegangen, seit unser Versuch, es zu schließen, gescheitert ist – und das ist schon einige Jahre her. Selbst wenn wir es gewollt hätten, wäre es uns nicht gelungen, weil die Barriere auf unserer Seite undurchdringbar war. Ich bin der Erste, der es geschafft hat, durch eine der sich öffnenden Bruchstellen zu schlüpfen.«

»Lügner«, stellte Sander mit unterkühltem Ton fest. Dass ihm nicht viel mehr zu diesem Thema einfiel, verriet, wie knapp er davor stand, sich auf Tammo zu stürzen.

»Ich lüge nicht. Es war uns unmöglich, das Tor zu durchschreiten, die Barriere auf unserer Seite hat es nicht zugelassen. Wir haben es natürlich versucht, immer wieder, und es hat uns viele Opfer gekostet. Wenn man das blaue Liniennetz berührt … diese Linien sind schärfer als ein Fallbeil.«

»Auf unserer Seite ist es dasselbe, wir gelangen nicht hindurch! Mein Vater hat bei dem Versuch, die Salzzeichen zu durchdringen, seine halbe Hand verloren.« Geflissentlich übersah ich den giftigen Blick, mit dem Sander mich bedachte. »So nennen wir die Barriere auf unserer Seite: die Salzzeichen. Weil sich feine Kristalle auf ihr absetzen und sie wie weiße Hieroglyphen aussehen lassen.«

»Irgendwer hat aber einen Weg gefunden, die Salzzeichen zu durchlöchern und durchs Tor zu gelangen«, hielt Sander an seinem Kurs fest. »Tiamat trägt ihren Namen nicht umsonst, sie beglückt uns in schönster Regelmäßigkeit mit Salzfluten und Meeresmonstern. Ungefähr vier Jahre nachdem sie erwacht war, tauchte der erste Besucher auf. Von dem waren zwar nur Reste übrig, die an Fischgulasch erinnerten, nachdem die Salzzeichen ihn fachgerecht zerlegt hatten. Aber sogar diese Brocken waren tückisch und haben sich in den Steinboden geätzt. Danach hat es zwei Jahre gedauert, bis sich der nächste Besucher blicken ließ. In der letzten Zeit kommen jedoch immer mehr von ihnen, man könnte schon fast von einer Plage sprechen.«

»Genau das sind sie«, stimmte Tammo zu. »Eine Plage, und zwar von der hoch aggressiven Sorte.«

»Aggressiv ist stark untertrieben.« Sander stieß ein Knurren aus. »Diese abgefuckten Viecher mit ihren Tentakeln und Giftpfeilen greifen ausnahmslos alles an, was nicht bei drei auf den Bäumen ist. Aber darüber weißt du ja bestens Bescheid, schließlich bist du von derselben Sorte, ansonsten hättest du die Salzzeichen nicht überwinden können. Anstatt jedoch direkt auf Angriff zu gehen, besteht deine Spezialtechnik offenbar darin, den Feind zu Tode zu quatschen. Uns blieb unter diesen Umständen nichts anderes übrig, als mit deinen Kollegen kurzen Prozess zu machen. Ich hoffe, du siehst uns das nach. Nicht, dass wir bei euch noch in den Ruf geraten, schlechte Gastgeber zu sein.«

Tammo war zunehmend blasser geworden. »Diese Besucher, wie du sie nennst, haben nicht nur auf eurer Seite Schaden angerichtet, das kannst du mir glauben. Eins der Probleme, die uns der Maelstrom bereitet, sind die Randwandler, Wesen, die sich in den Grenzgebieten des Ewigen Meeres herumtreiben. Wenn du es so willst, sind sie das Gegenstück zu uns Fließenden. Während unser Leben auf die Strömungen des Ewigen Ozeans ausgerichtet ist und wir nur inmitten seiner Unendlichkeit unsere Gaben entfalten können, ist ihre Heimat das Tote Wasser – dazu verwandelt sich der Ozean, wenn sein Fluss zum Erliegen kommt. Dieses Tote Wasser gibt es eigentlich nur an den Rändern unseres Reichs, dort hausen diese Kreaturen, deren Bestimmung es ist, allem Leben Einhalt zu gebieten, um sich daran satt zu fressen. Der Maelstrom übt nun eine geradezu magische Anziehungskraft auf sie aus, denn sie wissen, in was sich der Ewige Ozean verwandelt, wenn er Tiamat, oder wie ihr die Öffnung zwischen unseren Welten nennt, durchquert: In Totes Wasser. Ich habe es gesehen, als ich auf der Suche nach einem Ausgang durch euer Kellergewölbe geirrt bin. Es lag überall zu Bergen aufgetürmt.«

»Du meinst wohl Salz!«, warf ich aufgeregt ein. »Auf unserer Seite rieselt Salz heraus, immer mehr, je stärker die Salzzeichen beschädigt werden.«

»Das überrascht mich nicht, schließlich bleibt auch von normalem Meerwasser nichts anderes übrig, wenn es verdunstet und dabei allem beraubt wird, was es zu einem lebendigen Element macht.« Es war Tammo anzuhören, wie sehr ihn diese Vorstellung quälte. »Je stärker der Maelstrom wird, desto größere Probleme haben wir, die Randwandler zurückzudrängen. Wir führen seit Langem Krieg gegen sie und setzen alles daran, sie fernzuhalten. Das ist jedoch ein mühseliges Unterfangen und aufgrund des stärker werdenden Strudels gelingt es mehr Randwandlern, das Tor zu erreichen. Tiamat ist wirklich ein überaus passender Name – dieses Tor ist eine Göttin, die die Macht besitzt, einen ganzen Ozean in eine Salzwüste zu verwandeln. Und die Randwandler sind ihre treuen Diener, die alles daransetzen, ihren Willen wahr werden zu lassen. Der Name war deine Idee, Anouk. Richtig? Du verstehst die Wahrheit hinter den Dingen instinktiv.«

»Könntest du diese lahmen Flirtversuche gefälligst unterlassen?« Sanders Reaktionen waren eindeutig schneller als meine, ich war nämlich noch damit beschäftigt, meinen verblüfften Gesichtsausdruck unter Kontrolle zu bringen. »Wir haben hier wirklich Wichtigeres zu tun, zum Beispiel uns die gesamte Bandbreite deines Märchens anzuhören, damit wir endgültig bestätigen können, dass wir dir kein Sterbenswort glauben.«

Ungeachtet Sanders Zweifel begann es hinter meiner Stirn zu rattern. »Du kommst also aus einer Welt, die nicht nur mit Tiamat Schwierigkeiten hat, sondern auch mit den bösartigen Rand-dingens-Besuchern …«

»Randwandlern«, half Tammo mir aus. »Sieht ganz so aus, als hätten wir auf beiden Seiten ganz ähnliche Probleme. Vor langer Zeit kam es bei uns zu einem unerklärlichen Zwischenfall an den Rändern des Ewigen Ozeans: Einige Stellen von unterschiedlicher Größe erstarrten, als wären sie gefroren. Bis heute hat sich nichts daran geändert, und obwohl es der Natur des Ozeans widerspricht, hätten wir Fließenden es verschmerzt. Die größte Stelle jedoch entfaltete dieselbe Wirkung wie ein Fels in der Brandung. Durch ihn änderte die Strömung ihren Weg. Zuerst bemerkten wir nur eine Störung und fühlten uns nicht weiter gefährdet. Die Stelle befindet sich an den Grenzen unseres Hoheitsgebietes, sodass wir dieser Entwicklung lange Zeit nicht die nötige Aufmerksamkeit geschenkt haben. Außerdem wimmelte es dort schon damals von Randwandlern. Erst als wir bemerkten, dass die Strömung sich in einen gefährlich reißenden Maelstrom zu verwandeln drohte, beschlossen wir, die Angelegenheit in die Hand zu nehmen. Leider schlugen unsere Bemühungen fehl, weil die Barriere, die das Tor verschließen sollte, unvollendet geblieben ist.«

»Dann seid ihr also dafür verantwortlich, dass Tiamat aus ihrem Schlaf erwacht ist«, stellte Sander trocken fest. »Na, das macht mir euch Fließende ja gleich so richtig sympathisch. Das Tor einfach in Ruhe zu lassen, wäre ja auch langweilig gewesen. Nö, da muss man unbedingt dran herumspielen.«

Ich verdrehte die Augen. »Das meint Sander übrigens ironisch. Nicht, dass es dir entgeht, weil er es so subtil verpackt.«

Tammo konnte seine Ungeduld nur schlecht verbergen. »Wie gesagt, es ging nicht anders, wir mussten etwas unternehmen, ansonsten würde uns der Maelstrom eines Tages vernichten. Erst vor Kurzem haben die Randwandler eine Bruchstelle in die Barriere geschlagen, die groß genug für einen von uns war, um hindurchzuschlüpfen. Die Wahl, wer von uns diesen riskanten Versuch unternehmen sollte, fiel auf mich. Einer der Hauptgründe dafür war meine Gabe, einen Tropfen des Ewigen Meeres so weit auszudehnen, dass ich einen Raum erschaffen kann, der meiner Heimat ähnlich ist. So würde ich nicht vollkommen einer fremden Welt ausgeliefert sein, nachdem ich das Tor durchschritten habe.«

»Wozu niemand dich gezwungen hat.« Sander zeigte wenig Bereitschaft, Mitgefühl für Tammo an den Tag zu legen. Allerdings schien der darauf auch wenig Wert zu legen, so abfällig, wie er Sander musterte.

»Wirklich niemand?«, hakte Tammo nach. »Das sehe ich anders. Ich bin mit einem Auftrag zu euch gekommen, weil unser erster Versuch, das Tor zu schließen, fehlgeschlagen ist. Durch das Versagen dieses Niemands war ich also durchaus gezwungen, in eure Welt zu gehen.«

In meinen Ohren machte Tammos Erklärung durchaus Sinn, auch wenn ich noch nicht wusste, warum die Besucher überhaupt zu uns kamen.

Sander hingegen schätzte die Lage anders ein. »Das ist doch alles Schwachsinn, du bist genau wie die anderen Besucher, nur dass du uns erst einmal in eine Falle gelockt hast wie eine Spinne, und nun versuchst du, uns einzuwickeln. Du kannst von Glück reden, dass Anouk dir eine Chance geben will, ansonsten wäre diese Sache schon längst vorbei. Wir haben so viele Grausamkeiten durch euch erlebt, dass deine Ausrede mit den bösen Randwandlern bei mir nicht zieht. Kennst du einen Besucher, kennst du alle – das ist meine Devise.«

Eine Devise, auf die Tammo mit einer ordentlichen Portion Genervtheit reagierte. Was man ihm, angesichts eines solchen Maßes an Sturheit, schlecht verübeln konnte. Sander war wirklich ein Spezialist darin, einen zur Weißglut zu treiben.

»Ich kann nachvollziehen, dass es dir schwerfällt, meine Erklärung zu akzeptieren«, zischte Tammo. »Gesteh mir bitte trotzdem die Zeit zu, weiterzuerzählen, und zwar ohne mir ständig Gewalt anzudrohen. Ich bin kein Randwandler und ich will weder dir noch Anouk etwas Böses. Wenn ich euch mit der Absicht zu töten entgegengetreten wäre, dann hätte mich nichts und niemand davon abhalten können. Nicht einmal du. Denn schließlich befindest du dich gerade in meinem Reich, hier gelten meine Gesetze. Halt dich also gefälligst mit deinen Drohungen zurück.«

Diese Herausforderung wirkte sich leider keineswegs entspannend auf die Lage aus. »Du traust dich vielleicht was, Alter.« Sander schüttelte langsam den Kopf, offenbar perplex über den Grad von Dreistigkeit, mit dem er herausgefordert wurde. In diesem Moment war ich ausgesprochen froh, dass ich auf seine Hilfe angewiesen war und er das wusste. Andererseits wollte ich mich auch nicht unbedingt darauf verlassen, schließlich fing Sanders Temperament schneller Feuer als leicht entflammbares Material.

»Ich glaube Tammo, wenn er sagt, dass er uns kein Leid antun will«, redete ich beruhigend auf Sander ein. »Schau doch, er hat rein gar nichts mit den Besuchern gemeinsam, die bislang durch das Tor vorgedrungen sind. Das einzig Ungewöhnliche an ihm ist, dass er einen vergrößerten Wassertropfen beherrschen kann. Ich möchte hören, warum er Tiamat überhaupt durchquert hat. Also hör auf, so …« Ich legte eine unfreiwillige Pause ein, um notgedrungen zu hecheln.

»Anouk, aus dir spricht ja der reinste Sauerstoffmangel.«

Zuerst dachte ich, Sander mache sich über mich lustig, aber dann legte er seine Stirn auf meine, woraufhin mich Frühlingsluft umwehte. Oh Gott, noch deutlicher konnte gar nicht werden, wie abhängig ich in dieser merkwürdigen Situation von ihm war. Das würde er mir bis in alle Ewigkeit unter die Nase reiben. Als meine Atmung wieder ruhig und tief war, löste ich mich so weit aus seiner Umarmung, dass ich Tammo betrachten konnte. »Warum bist du nach Marienfall gekommen?«

Sichtlich erleichtert strich Tammo das nasse Haar zurück. Es hatte ihm schon länger in die Augen gehangen, aber er bemerkte es erst jetzt. »Um einen Auftrag zu erfüllen. Dazu habe ich mich durch das Leck ziehen lassen und bin im Keller eures Hauses herausgekommen.«

»Leck ist wohl kaum die richtige Bezeichnung für euer kleines Schlupfloch in unsere Welt.«

Ich packte Sanders Ohr und zog daran. »Zuhören.«

»Leck, Bruchstelle, Riss oder Tor – die Bezeichnung ist nebensächlich. Was es anrichtet, ist entscheidend«, erklärte Tammo. »Von unserer Seite aus gesehen handelt es sich um ein Leck, aber meinetwegen können wir gern beim Namen Tiamat bleiben. Jedenfalls schwindet das Ewige Meer, das sich beim Durchfließen von Tiamat in Salz verwandelt. Außerdem wird der Strudel immer stärker, seine vernichtende Strömung zerrt bereits am Kern unseres Reichs. Wenn wir dieses Mal nicht erfolgreich sind, wird das für unsere Welt unabsehbare Folgen haben. Und auch an eurer wird der Sturm nicht spurlos vorbeiziehen. Die Barrieren stehen wegen der Randwandler-Angriffe kurz vorm Brechen, und wenn das passiert, dann wird eure Welt von Totem Wasser überschwemmt und ein Großteil der Erde in eine Salzwüste verwandelt werden, während unsere austrocknet.«

»Wir haben die Ausläufer des Sturms bereits zu spüren bekommen«, flüsterte ich Sander zu. »Die zunehmenden Überfälle durch die Randwandler, die Unmengen an Salz, die sich im Kellergewölbe türmen, die sich allmählich auflösenden Salzzeichen. Was Tammo sagt, passt zusammen und macht Sinn.«

»Mit dem kleinen Schönheitsfehler, dass er nicht der wahre Tammo ist, sondern ein Besucher. Ich trau dem Kerl nicht über den Weg.« Sander gab mir einen leichten Kuss auf die Lippen, dann hob er den Kopf und nahm Tammo ins Visier. »Ich habe so meine Schwierigkeiten, mir das alles von einem Besucher anzuhören, der das Aussehen eines Menschen geklaut hat. Mir würde diese Unterhaltung leichter fallen, wenn du uns dein wahres Gesicht zeigen würdest.«

Tammo zögerte. »Das ist mein wahres Gesicht, ich bin mit diesem Körper verschmolzen.«

»So ist das also.« Sander schnaufte abfällig. »Du hast dir den armen Tammo Freibaum als Opfer zum Einnisten ausgesucht. Super Wahl, diesen Langweiler wird wenigstens niemand vermissen. Außer seiner Familie vielleicht, aber wollen wir mal nicht kleinlich sein. Ist ja auch nicht so schlimm wie das, was deine Kollegen Randwandler mit ihm angestellt hätten, auf diese Weise ist zumindest seine hübsche Verpackung erhalten geblieben. Nett, wirklich nett.«

»Du bist mit Tammo verschmolzen? Das hat er doch bestimmt nicht freiwillig zugelassen.« Ich konnte es kaum fassen.

»Vielleicht war der echte Tammo nicht mehr lebendig, bevor sein Körper annektiert wurde. Vielleicht hat ihm ja ein gewisser Besucher zuvor die Lichter ausgeblasen«, gab Sander mit seiner zynischen Art zu bedenken.

Tammo hob beide Hände, als wolle er den Vorwurf weit von sich schieben. »Nein, so war es nicht, ich habe keine Gewalt angewendet, ich bin schlichtweg zu einem Teil von dem Jungen geworden, dem bewussten Teil. Wobei ich neben seinem Körper seine Erinnerung und seinen Wissensschatz übernommen habe, dadurch wusste ich, wer ihr seid und wie ich Kontakt zu euch aufnehmen konnte. Indem ich seinen Geist in mich aufgenommen habe, hat er mich ebenfalls verändert. Wir mussten beide ein Opfer bringen – so leid es mir tut, aber es ging nicht anders.«

»Bedeutet das, wir bekommen den alten Tammo Freibaum, der auf Basketball und die Mädchen von der Coverseite der Sports Illustrated steht, in dem Moment wieder, in dem du seinen Körper verlässt?« Ich war mir nicht sicher, ob mir persönlich die Vorstellung gefiel, aber für Becks und ihre Eltern war das gewiss von Bedeutung.

Tammo blickte gequält drein. »Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass ich es nicht überleben würde. Wenn es einen anderen Weg gegeben hätte, um mit euch zu sprechen, dann hätte ich ihn genommen. Mir blieb jedoch nichts anderes übrig, um den Untergang unserer beiden Welten zu verhindern. Und solange ich in diesem menschlichen Körper bin, kann ich die Salzzeichen nicht durchqueren.«

»Dann hättest du deinen Arsch besser auf der anderen Seite des Tors gelassen, anstatt hier aufzuschlagen und die Mitbürger von Marienfall in Zombies zu verwandeln«, fuhr Sander ihn an.

»Wie kann man nur so verflucht stur sein! Glaubst du etwa, ich bin freiwillig hier? Diese Welt ist mir fremd, sie will mich nicht und ich will sie nicht! Ich bin gekommen, weil es Wichtigeres gibt als mich oder diesen Jungen namens Tammo.«

»Und was, zur Hölle, soll das bitte schön Wichtiges sein?« Sander schrie mittlerweile.

Tammo hatte seine beschwichtigende Geste aufgegeben und schüttelte stattdessen seine Fäuste, während seine Schlagader am Hals sichtbar pochte. »Denjenigen unter den Fließenden zu finden, den wir damals ausgesandt haben, um das Leck zu verschließen und verschlossen zu halten. Nur leider hat der Trottel seinen Job nur halb gemacht und ist dann verschwunden. Während ich hier meine Zeit mit Reden verbringe, setzen meine Leute alles daran, die Randwandler auf der anderen Seite zurückzudrängen und den Weg für einen erneuten Versuch freizuhalten. Während im Ewigen Meer die Zahl der Opfer steigt, muss ich zusehen, dass ich ihn finde und ihn an seine Aufgabe erinnere.«

»Vielleicht hättet ihr bei einer so bedeutenden Aufgabe nicht auf einen Trottel setzen sollen.«

»Danke für den Tipp, den hätten wir allerdings früher gebrauchen können. Übrigens ist es besonders ärgerlich, dass der besagte Trottel seitdem alles daransetzt, mir das Leben schwer zu machen. Offenbar hat er vergessen, wer er ist.«

»Worauf willst du hinaus?«, flüsterte Sander, gefährlich beherrscht. Ich schlang meine Arme um seinen Nacken, als er aufstand und mich in seiner Wut kurzerhand mit in die Höhe zog.

»Worauf ich hinauswill?« Tammo funkelte ihn ungeduldig an. »Darauf dass du dich endlich erinnerst, Sander. Du musst dich daran erinnern, wer du in Wirklichkeit bist.«

TIAMAT – Liebe zwischen den Welten
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