27. Funkenflug und Verdrängung
Auf der Fahrt nach Himmelshoch wurde mir erst bewusst, wie benommen ich gewesen sein musste, als Sander mit mir auf dem Rücksitz das Haus der Freibaums zurückgelassen hatte. Ich war nämlich derartig neben der Spur gewesen, dass mir sogar entfallen war, dass mir beim Motorradfahren schlecht wurde. Dafür holte ich das jetzt doppelt nach, besonders in den Kurven gab mir mein Magen unmissverständlich zu verstehen, dass er bald Tatsachen schaffen würde, wenn diese Horrorfahrt nicht umgehend zu Ende war. Gerade als ich dachte, nun sei alles zu spät und es würde ein Wiedersehen mit Grandmamas Spezialfrühstück geben, rollte die Bandit aus. Ich hob meinen Kopf an und stellte dabei fest, dass mein Nacken steif war. Allem Anschein nach hatte ich es ein wenig übertrieben, als ich mich mit der Stirn voran zwischen Sanders Schulterblätter in Sicherheit zu bringen versucht hatte, während die Landschaft eindeutig zu schnell vorbeigezischt war. Nun wagte ich einen Blick auf meine Umgebung.
Wir waren in der Efeugasse angekommen, an deren Ende Himmelshoch stand. Besagtes Ende war noch hundert Meter entfernt, trotzdem fuhr Sander lediglich Schritttempo. Nach der Raserei fühlte sich das an, als würden wir stillstehen.
»Was ist, warum fängst du so kurz vorm Ziel an zu schleichen?«
Sander deutete auf einen Fiat Punto am Straßenrand.
»Oh, Mist. Laboe ist zu Besuch.«
Nicht allein, wie sich herausstellte. Vor dem Eingangstor stand Moritz mit verschränkten Armen neben einer aufgeregt gestikulierenden Laboe, die ohne Punkt und Komma auf ihn einredete, um das blondhaarige Mädchen neben sich besser ignorieren zu können. Tatsache, dort stand niemand anderes als Becks mit Lutz an der Leine, der wild herumtänzelte, nachdem er uns bereits gesichtet hatte.
»Noch besteht die Chance zur Flucht.«
Ich schluckte schwer. »Nein, manchen Herausforderungen muss man sich stellen, da hilft nichts.«
Sander parkte die Maschine neben meinen Freunden und half mir abzusteigen, was unangenehmerweise notwendig war, weil ich kurz vorm Zusammenklappen stand. Wie viel Aufregung konnte ein einzelner Mensch vertragen?
»Mensch, Püppchen!«, schrie Laboe und umarmte mich eine Sekunde später mit einer Inbrunst, als seien wir seit Jahrzehnten voneinander getrennt gewesen. Dabei ließ sie sich nicht einmal von dem Helm beirren, der immer noch auf meinem Kopf saß. »Du siehst ja miserabel aus, wie einmal ausgekotzt. Grandmama hat mich hergeschickt, sie meinte, es ginge dir nicht gut und du brauchst dringend einen Freund, bei dem du dich kräftig ausheulen kannst. Deshalb habe ich Moritz mitgebracht, der weiß, wie man damit umgeht.«
Moritz verdrehte die Augen und winkte mir zu. Ich kam nicht zum Zurückwinken, weil Laboe mich stur festhielt. Wenigstens gelang es mir, den Helm vom Kopf zu bekommen.
»Ich übernehme im Anschluss das Aufmunterungsprozedere«, plauderte Laboe weiter. »Dafür habe ich sogar eine Schachtel von Grandmamas Keksen mit der lustig machenden Geheimzutat eingepackt. Ganz frisch aus dem Ofen. Ich wäre sogar bereit, Becks einen abzugeben, falls wir sie vorher nicht loswerden sollten. Ansonsten ist sie ja nicht zu ertragen.«
»Das habe ich gehört. Du könntest deine Giftspritzen wirklich subtiler verteilen, Jasmin.« Allerdings sah Becks nicht halb so angesäuert aus, wie ich es unter diesen Umständen erwartet hätte. Sie lächelte mich sogar an. Offenbar hatte ich mit meinem geistesabwesenden Auftritt beim Pool die Brücken zwischen uns nicht abgerissen.
»Gern doch, Becks.« Dabei machte Laboe eine eindeutige Mundbewegung, die wohl auf den Ursprung des ungeliebten Spitznamens hinweisen sollte.
Bevor der Zwist zwischen meinen beiden Freundinnen einen weiteren Höhepunkt erklomm, ging die Haustür auf und Jakob trat hinaus. Er hatte seinen Mantel übergezogen und sah ausgesprochen verstimmt aus. Das Gesicht erstarrt, abgesehen von einer senkrechten Zornfalte auf der Stirn, und die Lippen eine blasse Linie.
»Alexander, ich habe mehrmals versucht, dich übers Handy zu erreichen. Warum bist du nicht drangegangen?«
Sander zog das Handy aus der Tasche seiner schwarzen Jeans und schüttelte es, bis Wassertropfen davonflogen. »Das Teil scheint nicht wasserdicht zu sein. Schöne Scheiße.«
Jakob, der Kraftausdrücke hasste, riss sich mit Mühe und Not zusammen, denn was er noch mehr hasste, waren Szenen vor Dritten. Vermutlich irritierte ihn auch der Freundesaufmarsch vor unserer Tür, denn schließlich ließ sich hier nie jemand blicken, wenn er zu Hause war. Mit langen Schritten stieg er die Treppe hinab und grüßte knapp in die Runde, bevor er Sander erneut ins Visier nahm. »Ich muss sofort zurück ins Büro. Unser Computersystem spielt verrückt, und offenbar ist niemand gewillt, sich der Sache mit dem notwendigen Nachdruck anzunehmen. Wir werden später über diese Angelegenheit reden.« Endlich schenkte mein Vater mir Beachtung … Oder eher leider. Er maß mich von Kopf bis Fuß mit reiner Missbilligung. »Es ist mir ein Rätsel, was du dir dabei gedacht hast, trotz deiner Erkrankung einen Jungen zu besuchen. Mir ist zwar bewusst, wozu verliebte Mädchen in deinem Alter imstande sind, aber eine solche Dummheit in Anbetracht deines Zustands … Ich möchte, dass du dich sofort von deinem Besuch verabschiedest und dich ins Bett legst, wo du zweifelsohne hingehörst. Morgen früh werden wir als Erstes Dr. Weinbrecht einen Besuch abstatten. Du siehst grauenhaft aus.«
»Ja, Papa.« Mehr brachte ich nicht heraus.
Voller Erleichterung hörte ich das herannahende Taxi, dem Jakob auch schon entgegeneilte. Es musste wirklich dringend sein, wenn er auf seinen Spaziergang zum Zug verzichtete. Der einzige Luxus, den er sich für gewöhnlich gönnte, war eine zwanzig Minuten lange Auszeit von der Arbeit. Unsere kleine Gruppe stand stocksteif da, bis das Taxi außer Sichtweite war, so als wolle keiner etwas Unbedachtes tun, das meinen Vater dazu veranlassen könnte, uns doch noch alle der Reihe nach zusammenzufalten.
Es war Sander, der die Sprache als Erster wiederfand. »Na, das nenne ich doch mal eine ordentliche Galgenfrist. Was auch immer das für ein Notfall mit deren PC-Kram sein mag, die Nacht kostet er Jakob auf jeden Fall. So ist das doch immer, die Bank ist einfach zu geizig, um einen anständigen IT-Fachmann einzustellen. Aber warum auch, wenn sie im Zweifelsfall auf das Allroundgenie Parson vertrauen können, der allzeit bereit ist, um die Welt der Kleinkredite und überzogenen Dispos zu retten? Nicht, dass zum Schluss noch Familie Müllers Überweisung an die Stadtwerke verloren geht.« Dann klopfte er Moritz auf die Schulter, wobei der leicht in die Knie ging. Der Junge war wirklich nur noch Haut, Knochen und jede Menge Barthaar. »Alter, darfst du schon Bier trinken? Ich brauch jetzt nämlich eins.«
Moritz blickte mich fragend an.
Ich ahnte, dass er jetzt lieber mit Sander zusammenglucken wollte, als sich meine Mädchenprobleme anzuhören oder Zeuge zu werden, wie sich die beiden Streithühner duellierten. Mir war das ganz recht, ich würde ruhiger sein, wenn ich Sander in Gesellschaft wusste. Dann kam er wenigstens nicht auf so dumme Ideen, wie einen Arm durch die Salzzeichen zu stecken.
»Nur zu, aber mit dem Bier, das lasst ihr besser sein, Moritz. Mein Bedarf an grenzwertigen Erlebnissen ist für heute nämlich gedeckt. Ich will dich weder nackt durch den Garten tanzen sehen, noch hören, wie Sander hackevoll koreanische Popsongs zum Besten gibt. Hockt euch einfach aufs Speermüllsofa in der Garage und hört ein Fußballspiel im Radio oder was Jungs sonst so machen, wenn sie nichts machen.«
»Nur keine Sorge, wir wissen uns schon zu beschäftigen.« Sander legte den Arm um Moritz’ Schultern, was dieser erstaunlicherweise zuließ. Sah ganz so aus, als habe Sander bei ihm Sonderrechte. Unsereins wurde immer sofort angepfiffen, wenn wir ihn berührten. Vermutlich roch unsere Zuneigung nach Mitleid, während sie bei Sander dieses spezielle Kumpelding war. Im Weggehen zog Sander Moritz sogar am Bart und kassierte dafür lediglich ein Knurren. »Wir könnten dich rasieren, du Nachwuchs-It, dann hätten wir eine Zeit lang was zu tun, ohne Anouk und ihre Geschlechtsgenossinnen in ihren Empfindlichkeiten zu stören«, hörte ich ihn noch sagen.
»Sander ist Punkrock.« Laboe sah ernsthaft beeindruckt aus. »Ich wette, wenn er Moritz regelmäßig unter seine Fittiche nehmen würde, dann ginge es dem bald besser. Ein paar Bierchen, ein paar Partys und ein paar Blondinen später sieht Moritz die Welt aus einer ganz neuen Perspektive – aus der Überflieger-Sander-Perspektive.«
»Klingt nicht gerade nach dem Originalrezept zum Glücklichsein.« Die Entgegnung kam nicht von mir – obwohl mir die Gleichsetzung von Sanders Glück und ein paar willigen Blondinen gar nicht gefiel –, sondern von Becks, die sich bislang eher im Hintergrund gehalten hatte. Nun rückte sie dicht an meine Seite und flüsterte mir ins Ohr. »Tammo hat mir erzählt, dass er wohl etwas voreilig gewesen ist in Bezug auf euch beide und Sander ihm das unmissverständlich klargemacht hat. Ich soll dir ausrichten, dass es ihm leid tut, wirklich sehr leid. Das Letzte, was er wollte, war, dir wehzutun. Und dass er hofft, dass du ihm verzeihst, er mag dich nämlich. Genau wie ich, und deshalb möchte ich nicht, dass dieser Zwischenfall einen Keil zwischen uns treibt.«
»Das wird er auf keinen Fall, das war doch ohnehin alles nur halb so wild. Tammo und ich … Es ist kompliziert, aber nicht schlimm.« Verlegen trat ich von einem Fuß auf den anderen, während Laboe der Unterkiefer runterklappte.
»Tammo Freibaum und du? Da habe ich wohl was verpasst.«
»Nicht nur du«, gestand Becks ein. »Ich habe auch nicht wirklich eine Ahnung, was sich zwischen den beiden abgespielt hat. Hör mal, Anouk, Jasmin und ich, wir sind doch beide deine Freundinnen. Willst du uns denn nicht erzählen, was los ist? Ich habe grauenhafte Sorge, dass Tammo dich bedrängt und Sander ihm deshalb fast den Kiefer gebrochen hat. Mein Bruder ist manchmal ein Idiot, und falls er dir wehgetan hat, dann muss ich das wissen. Du bist mir wichtig.«
»Du mir doch auch.« Ich musste schniefen, und das machte es nur schlimmer. »Ihr seid mir beide wichtig, aber was passiert ist, lässt sich nicht so ohne Weiteres erzählen. Es ist kompliziert und schwierig, und irgendwie weiß ich von der Hälfte der Geschichte nicht, was überhaupt passiert ist.« Das traf es ziemlich genau. Trotzdem verspürte ich das dringende Bedürfnis, mich meinen Freundinnen anzuvertrauen, damit wenigstens ein Teil der Last von mir genommen wurde. Ich blinzelte unbeholfen, als Laboe mich ermutigend anlächelte. »Ihr werdet gleich nicht mehr so lieb gucken, wenn ich erst einmal ausgepackt habe. Das ist nämlich alles andere als leichte Kost.«
»Nur zu«, ermunterte mich Laboe. »Notfalls habe ich die Spezialkekse, die renken alles wieder ein. Die gute Becks und ich, wir stehen zu dir, egal, was Sache ist.«
Becks nickte und sogar Lutz, der brav neben ihren Füßen saß, gab ein zustimmendes Gebrumme von sich.
»Okay.« Ich atmete tief ein. »Sander ist nicht mein Bruder, wir sind nicht einmal miteinander verwandt. Mein Vater hat ihn als seinen Sohn angenommen, als er noch ein Kind war. Wir wissen nicht, woher er kommt, wir wissen gar nichts über ihn, sogar seinen Namen hat er von meinem Vater. Es war ein großes, oft auch belastendes Geheimnis für mich, aber jetzt kann ich es nicht mehr aufrechterhalten. Ich habe mich nämlich in Sander verliebt. Und was es richtig schlimm macht: Er ist auch in mich verliebt.«
Laboe steckte sich die zweite Hälfte von einem Grandmama-Spezialkeks in den Mund und spülte ihn mit einem großen Schluck Kakao runter. »Ich kann es nicht fassen, ich kann es einfach nicht fassen«, sagte sie zum ungefähr hundertsten Mal.
Zu meiner großen Verwunderung war es Becks, die die Nachricht verhältnismäßig locker aufnahm, während Laboe erst einen hysterischen Lachanfall erlitten hatte und danach in eine »Ich kann es nicht fassen«-Litanei verfallen war. Sie war sogar dermaßen von der Rolle, dass ich sie kurzerhand in die Küche verfrachtete, obwohl Becks mir auf dem Fuß folgte. Gott sei Dank gehörte die Küche zu den wenigen unveränderten Orte von Himmelshoch – schließlich gab es auch so schon massenhaft zu erklären, da wollte ich nicht auf die Besonderheiten unseres Hauses eingehen.
»Das mit Sander ist schon ein starkes Stück«, gestand ich ein, während ich Laboes Rücken tätschelte. »Deine Grandmama hat es übrigens gewusst, also nicht nur, dass wir keine Geschwister sind, sondern auch, dass wir uns zueinander hingezogen fühlen. Das hat sie sogar noch vor uns herausgefunden, wenn ich mich nicht irre.«
»Mir gegenüber hat sie das mit keinem Sterbenswörtchen erwähnt. Ist ja mal wieder typisch.« Laboe bekam vor lauter Aufregung einen Schluckauf, der ihren buschigen Haarschopf zum Wippen brachte.
Leidlich unterdrückte ich ein Kichern – das musste von den Keksen kommen, denn zum Lachen hatte ich wirklich keinen Grund. »Vermutlich dachte Grandmama, es sei besser, wenn ich es dir persönlich erzähle.«
»Wäre es ja auch – hicks. Und noch besser wäre es unter vier Augen gewesen.« Vorwurfsvoll deutete Laboe auf Becks, die einen unangetasteten Keks in der Hand hielt.
»Ach komm, wollen wir dieses alberne Mit-dem-Finger-aufeinander-Zeigen nicht endlich lassen? Das ist doch nun echt überflüssig, nachdem wir beschlossen haben, in dieser schwierigen Situation beide hinter Anouk zu stehen. Unsere Grabenkämpfe um ihre Gunst können wir gern im Anschluss wiederaufnehmen.«
Meine Bewunderung für Becks nahm sekündlich zu, weil sie trotz allem nicht die Nerven verlor und sich nicht länger durch Provokationen herausfordern ließ. Zweifelsohne war Laboe ein wenig neidisch, wo sie es doch für gewöhnlich war, die stets die Oberhand behielt. Becks war ein taffes Mädchen, das musste ich ihr schon lassen – sie verhielt sich ganz anders, als ich es von ihr erwartet hatte. Zu meiner Schande wäre ich nämlich nicht sonderlich überrascht gewesen, wenn sie mir nach meiner Eröffnung Lutz’ Leine in die Hand gedrückt und mir anschließend bis zum Sankt-Nimmerleinstag die kalte Schulter gezeigt hätte. Höchste Zeit für eine neue Lebensregel: Sei offen für Veränderungen. Darüber musste ich bei Gelegenheit in Ruhe nachdenken, jetzt war wohl kaum der passende Moment, wie die zwei eindringlichen Augenpaare verrieten, die auf mir lagen. Nun ja, es gab noch ein drittes Paar, unter dem Küchentisch, und sie forderten keine Erklärung, sondern Streicheleinheiten und einen Schmackofatz aus der Hundedose. Erst einmal kam ich Lutz’ Bedürfnissen nach, dann stellte ich mich meinen Freundinnen.
»Okay, wo soll ich mit dem Erzählen anfangen?«
»In medias res. Rück einfach damit heraus, wann das mit Sander angefangen hat«, schlug Laboe vor. »Am liebsten wäre es mir, wenn euer Gefühlschaos erst innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden ausgebrochen ist. Ich komme mir nämlich richtig dusslig vor, weil ich nichts davon mitbekommen habe. Nicht einmal einen schwachen Verdacht kann ich anführen, ihr zwei ward für mich bislang ein Geschwisterpaar, das zwar komplett verschieden aussah, sich aber ganz normal anzickte. Immerzu eure Neckereien und dann noch diese Spannung, die in der Luft lag, als würde gleich der Blitz einschlagen. Für mich stand gar nicht zur Debatte, dass die Spannung sich daraus speist, dass ihr nur mit eiserner Willensanstrengung die Finger voneinander lassen könnt. Jungs waren bei dir ja ohnehin nie ein großes Thema. Irgendwie bin ich davon ausgegangen, dass du einfach noch nicht reif bist für Typen aus Fleisch und Blut und deshalb lieber zu Romanen greifst. Von wegen! Meine Anouk hat in Wirklichkeit ein heftiges Geheimnis, ein grün-orange gestreiftes Geheimnis mit braunen Punkten, einer berühmt-berüchtigten Klappe und einer Brille auf der Nase.«
»Das mit der Brille auf der Nase stimmt so nicht wirklich. Außerdem scheint Sander das gute Stück jetzt endgültig verschusselt zu haben, zumindest habe ich es heute noch nicht gesehen.« Verlegen zupfte ich an meinem Oberteil herum, das durch den klammen Bikini drunter ganz zerknittert war. »Mit deinem Verdacht, dass mich die Herrenwelt nicht sonderlich interessiert, hast du ja durchaus richtig gelegen, Laboe, nur der Grund war ein anderer. Der Junge, der mich in so ziemlich jeder Hinsicht interessierte, stand schlicht nicht zur Debatte. Nicht einmal in meinen wildesten Träumen habe ich mir eingestanden, dass mir allein beim Klang seiner Stimme ganz schummerig wird, sondern ich habe mir überzeugend eingeredet, dass er mich deshalb nervös macht, weil er eben Sander ist, der ständig verrückte Dinge veranstaltet und mich mit seinem Gefoppe in den Wahnsinn treibt. Ich habe mir unmöglich erlauben dürfen, mich zu meinen Gefühlen zu bekennen.«
»Aber Sander und du, ihr seid doch nicht verwandt, es gibt also rein gar nichts gegen eure Gefühle einzuwenden«, warf Becks, die Stimme der Vernunft, ein. Vermutlich fiel es ihr leichter, sich in die neue Situation einzufinden, weil wir erst seit einigen Monaten enger befreundet waren und sie Sander – im Gegensatz zu Laboe – bestenfalls vom Sehen kannte.
»Das stimmt, wir sind nicht einmal wie Geschwister aufgezogen worden, obwohl wir das nach außen natürlich vortäuschen mussten. Aber Sander hat mich, seit ich den Kinderschuhen entwachsen bin, konsequent auf Abstand gehalten. Dazu kamen dann auch noch die ganzen Gerüchte über seine nächtlichen Aktivitäten … Es wäre schlicht zu verletzend gewesen, mir einzugestehen, dass ich für diesen Herumtreiber etwas empfinde. Er durfte nichts anderes sein als eine Nervensäge, mit der ich gezwungen war, unter einem Dach zu leben. In der letzten Zeit wurde es dann immer schwieriger, diese Lüge aufrechtzuerhalten. Ich habe anfangen, mir einzureden, dass ich ihn wegen irgendwas trösten wollte, dabei habe ich in Wirklichkeit nur nach einer Ausrede gesucht, um ihn zu berühren. Und wenn ich ausgeflippt bin, sobald er von einer Party zurückkam, dann lag das angeblich an meiner ehrlichen Entrüstung über sein unverantwortliches Verhalten, das er sich selbst gegenüber an den Tag legte, und nicht etwa daran, weil ich eifersüchtig war. Vermutlich wäre ich als Jungfrau aus Überzeugung in die Geschichte eingegangen, wenn er nicht plötzlich vollendete Tatsachen geschaffen hätte.«
Becks drückte meine Hand. »Und, war Sander gut darin, vollendete Tatsachen zu schaffen, wie du es nennst?« Meine plötzlich brennend heißen Wangen beantworteten die Frage offenbar hervorragend, denn sie lächelte mich verschwörerisch an.
Laboe hingegen beschäftigte etwas anderes. »Was du da erzählst, erklärt einiges! Während du dich in deine Buchwelt zurückgezogen hast, in der alles ungefährlich und schön geordnet ist, ist Sander auf seine Weise mit der Situation umgegangen, indem er die Marienfaller Frauenwelt beglückte, wo er sich doch von dir fernhalten musste. Eine so idiotische Vorgehensweise passt zu ihm«, stellte sie grimmig fest.
»Du meinst, seine ganzen wahllosen Affären …«
»Na, klar. Liegt doch eindeutig auf der Hand. Das hatte schon was Verzweifeltes, dieses Hardcoreabtauchen ins Feiern. Reine Verdrängungsstrategie.«
»Das macht Sinn.« Becks hielt sich beim Sprechen die Hand vor den Mund, nachdem sie todesmutig in einen von Grandmamas Keksen gebissen hatte. Allem Anschein nach entfaltete die Geheimzutat bereits ihre Wirkung, sie lächelte nämlich Laboe an. »Wenn ich das, was ich mir von ganzem Herzen wünsche, nicht haben kann, dann suche ich nach einem Ersatz, einem, der scheinbar meine Bedürfnisse befriedigt, mir aber nicht nahkommen und mich auch nicht verletzen kann.«
Verblüfft blinzelte ich sie an. »Wow. Der Erklärungsansatz ist … so hellsichtig.« Und eine weitere Lebensregel: Weisheit findet man an den unverhofftesten Orten und bei den ungewöhnlichsten Personen. »Klingt fast so, als würdest du so ein Verhalten aus eigener Erfahrung kennen. Trifft das auch auf dich und Klaas zu?«
Becks zuckte mit den Schultern. »Irgendwie schon. Aber ich könnte mir durchaus vorstellen, dass jeder damit bereits seine Erfahrungen gemacht hat, auf die ein oder andere Art.«
»Ich nicht«, gab Laboe unumwunden zu. »Offenbar bin ich simpler gestrickt: Wenn ich etwas will, gebe ich es offen zu und versuche, es mir unter den Nagel zu reißen.«
»Na ja, Anouk hätte lange Zeit auch Stein und Bein geschworen, dass Sander in ihrem Leben keine wichtige Rolle spielt. Vielleicht weißt du bloß nur nicht, dass du dich selbst belügst, und bekommst deshalb gar nicht mit, wonach du dich in Wahrheit sehnst«, gab Becks zu bedenken.
»Nichts leichter als das: Mila Kunis, nackt auf meinem Schoß.«
So schnell konnte man von einem philosophisch angehauchten Gespräch zurück auf den harten Grund der Realität geworfen werden – dazu brauchte es nicht mehr, als Jasmin Laboe nach ihren innigsten Wünschen zu befragen.
Mit Sorge beobachtete ich das Blickduell zwischen den beiden Mädchen und beschloss, dass es Zeit für ein Ablenkungsmanöver war. Wenn ich eine Sache in Himmelshoch gelernt hatte, dann, wie man zwei Hitzköpfe auf andere Gedanken bringt. »Apropos Funkenflug und Verdrängung …«
»Was hat das Ganze denn nun mit Tammo zu tun?«, unterbrach mich Laboe rüde. »Soweit ich mich erinnere, fandest du den Typen eigentlich ziemlich mau, womit du absolut richtig gelegen hast – sorry, wenn ich das jetzt so freiheraus sage, Becks. Ich weiß, er ist dein Bruder und du scheinst ihn ja zu mögen. Ich mag meine Brüder auch, obwohl sie zwei Pappnasen vor dem Herrn sind. Möglicherweise ist Tammo als Bruder ein Ass, aber als Typ zum Anschmachten … Nee, das geht gar nicht, dafür ist er schlicht zu dröge, total sport- und kumpelfixiert, der Mann. Wenn er nicht supersportlich wäre und so ein Strahlemanngesicht besäße, würde sich kein einziges Mädchen auch nur nach ihm umgucken.«
Becks grummelte etwas Unverständliches und schnappte sich einen weiteren Keks. Klang ganz danach, als wäre sie durchaus in der Lage, ihren Bruder aus der Perspektive eines weiblichen Wesens zu sehen, das nicht mit ihm verwandt war.
»So habe ich Tammo ja auch gesehen«, gestand ich ein. »Ein ganz normaler Junge, der nicht auf meiner Wellenlänge lag. Jedenfalls war das bis vor ein paar Tagen so, dann hat sich Tammo verändert, und zwar gewaltig.«
Ein zustimmendes Nicken von Becks zeigte, dass diese Entwicklung auch an ihr nicht vorbeigegangen war. »Mir ist schon klar, dass Tammo etwas zur Oberflächlichkeit neigt. Davon ist im Moment allerdings nichts mehr zu spüren, stattdessen wirkt er reifer, nachdenklicher und zu allem Überfluss ist er plötzlich sogar aufmerksam im Umgang – nicht nur mit mir, sondern auch mit meiner Mutter. Die wollte ihn unbedingt zum Arzt schleppen, weil er gesagt hat, dass er zu schätzen wüsste, wie sehr sie sich sein Leben lang um ihn gekümmert hat. Nachdem er dann jedoch ohne Aufforderung die Einkäufe ins Haus getragen hat, hat sie das ganz rasch vergessen. Der soll mal schön so bleiben, egal, ob es an seiner Krankheit liegt oder nicht. Es ist schwierig zu beschreiben, er ist noch Tammo, aber er hat eine ganz neue Seite an sich. Kann ich gut verstehen, dass die dich angesprochen hat, Anouk.«
Augenblicklich erwuchs in mir die Hoffnung, dass Tammos grundlegende Veränderung keinen allzu großen Verlust für Becks und ihre Eltern darstellte. Manchmal gingen Märchen doch auch gut aus, oder? Mutig geworden, holte ich tief Atem. »Es steckte keine böse Absicht dahinter, aber ich habe in Tammo die Möglichkeit gesehen herauszufinden, ob ich in der Lage war, mich in jemand anderen zu verlieben. Vor allem weil sich die Sache zwischen Sander und mir ziemlich überraschend zugespitzt hat. Mein veränderter Blick auf Tammo hat mir erst klargemacht, was ich für Sander empfinde – allerdings erst in dem Moment, als er uns beide bei euch im Pool überrascht hat.«
Während Becks sich den letzten Keks aus der Packung nahm, vermutlich um ihre Nerven zu beruhigen, pfiff Laboe anerkennend. »Du hast dich mit Tammo im Pool vergnügt? Ha! Und ich habe von Mathe nix mitbekommen, weil ich mich ständig gefragt habe, warum du heute nicht zum Unterricht aufgetaucht bist. Ich dachte, du wärst sterbenskrank.«
»Tut mir echt leid, aber heute Morgen ging es mir durchaus schlecht. Bis mich Tammo dann eben eingeladen hat …« Ab hier war geschicktes Auslassen und noch geschickteres Umverpacken der Wahrheit angesagt – beides keine Kunststücke, in denen ich gut war. Deshalb beschloss ich, beherzt mit der Tür ins Haus zu fallen. »Der Höhepunkt unserer Schwimmstunde bestand darin, dass Sander sie auf seine Spezialart beendet hat. Er war gekommen, um mich abzuholen, und hat Tammo kurzerhand eine gelangt, als er uns beide zusammen gesehen hat. Ich war so schockiert, dass ich davongelaufen bin. Das war einfach alles zu viel für mich.« Kein Wort über den wahren Grund für Tammos Veränderung, kein Wort über meine Mutter. Warum erzählte ich diese Geschichte überhaupt? Dann erinnerte ich mich wieder: Weil Becks eine Erklärung brauchte und ich ein wenig Seelenfrieden. »Dabei ist Tammo null aufdringlich gewesen, falls du das befürchtest, Becks. In dem Moment, in dem Sander mit von der Partie war, wurde es kompliziert, die Gefühle sind hochgekocht und …«
Becks sah mich erwartungsvoll an, ein sanftes Lächeln auf den Lippen. Allem Anschein nach entfalteten die Kekse mittlerweile ihre volle Wirkung. »Ja …?«
Ich brachte kein Wort heraus. Auf ihrer Schulter saß eine flummigroße blaugrüne Schleimkugel, die gerade zum Sprung in die Kakaotasse in Becks Händen ansetzte. Obwohl sie kein einziges Geräusch von sich gab, wusste ich, dass sie sekündlich loskichern konnte.
»Nicht bewegen, Becks«, flüsterte ich.
Dieses miese Veränderdich hätte sich wirklich keinen schlechteren Zeitpunkt für seine Wiederkehr aussuchen können.
Becks folgte meinem Blick zu ihrer Schulter, doch bevor sie begriff, was sich abspielte, sprang die Kugel, flog in einem hohen Bogen … Um von Lutz im freien Flug weggeschnappt zu werden. Beglückt trabte die Bulldogge ins Körbchen davon, wo es einige Sekunden später kicherte. Offenbar benutzte er das Veränderdich als Bällchen zum Spielen. Hoffentlich.
Ordentlich verdattert deutete Becks auf das Körbchen, während Laboe mit der Faust im Mund ihr Lachen zu unterdrücken versuchte. »Was war das?«
»Der Schlussakkord«, sagte ich. »Höchste Zeit für den Heimweg, Ladies.«