16. Erblüht

Als ich nach Hause kam, herrschte hinter meiner Stirn das reinste Chaos. Die Zeit mit Tammo war nur so dahingeflogen, denn nach dem eher tiefsinnigen Einstieg war das Gespräch locker und zum Schluss richtiggehend witzig geworden. Vermutlich hätten wir noch viel mehr gelacht, wenn die heiße Schokolade bei Tammo nicht am falschen Ausgang angeklopft hätte und er dadurch die Cafétoilette besser kennenlernte als ihm lieb war. Danach hatte ich schweren Herzens beschlossen, dass er wirklich ins Bett gehörte, und er hatte sich widerstrebend an der Bushaltestelle von mir verabschiedet.

Seitdem fragte ich mich, ob das, was ich für ihn empfand, möglicherweise Verliebtheit war. Oder wenigstens der Anfang davon. War Verliebtheit ein stilles, angenehmes Gefühl? Oder war ich einfach zu durcheinander, um das Feuerwerk in meiner Brust zu empfinden, wie es in sämtlichen Liebesromanen beschrieben wurde? Vielleicht war ich ja gar kein Spätzünder in Sachen Verliebtheit, sondern bloß nicht in der Lage, dieser Empfindung den notwendigen Raum zu geben, weil mir immerzu andere Dinge – wie mein seltsames Leben und meine noch seltsameren Mitbewohner in Himmelshoch – durch den Kopf gingen.

Kaum war ich im Haus, begrüßte Lutz mich überschwänglich, zumindest für eine Sekunde, dann schnüffelte er an meinen Händen herum und begann zu knurren.

»Erwischt«, gestand ich. »Tammo war nicht nur in meiner Nähe, sondern ich habe ihn auch angefasst. Schande über mich, ich leichtfertiges Frauenzimmer.«

Als Lutz sich immer noch nicht beruhigte, ging ich ins Gästebadezimmer und wusch meine Hände. Dieser Hund war schlimmer als ein eifersüchtiger Vater. Obwohl ich mir bei genauerer Überlegung nicht vorstellen konnte, dass Jakob gereizt auf einen Jungen reagieren würde, den ich ihm vorstellte. Vermutlich würde mein Vater ihn geradewegs fragen, ob ich nicht bei ihm einziehen dürfte, damit er sich meinetwegen keine Sorgen mehr zu machen brauchte und ich auch nicht länger im Weg stand, während die Herren Wächter ihrer Tätigkeit nachgingen. Andererseits hatte Papa selten die Gelegenheit dazu, sich Sorgen um mein Wohlergehen zu machen, dafür war er zu oft mit anderen Dingen zugange. Wenn er sich nicht für seinen Job aufrieb, beschäftigte ihn Tiamat in ihrer ganzen Pracht. Seine Tochter war angesichts dieser beiden zu stemmenden Herkulesaufgaben bestenfalls eine lästige Nebenbaustelle, die in seinen Augen mehr Schwächen als Stärken an den Tag legte.

Beim Stichwort ›Schwäche‹ wanderten meine Gedanken automatisch in Richtung Keller. Nur für eine Sekunde, dann riss ich mich zusammen. Es war für uns alle das Beste, wenn Sander im Keller und ich oben auf meinem Zimmer blieb. Außerdem hatte ich auch noch was anderes zu tun, als mich mit ihm herumzuplagen: Ich musste Laboe anrufen und bei Becks sollte ich mich auch rasch melden, damit wegen der Klaas-Sache auf dem Schulhof keine Missstimmung zwischen uns aufkam. Oder wegen ihres Bruders, der plötzlich meine Hand hielt. Musste ich ihr gegenüber erwähnen, dass ich mit Tammo im Café gewesen war? Kein Wunder, dass mir der Kopf schwirrte, es war ja auch zum Verrücktwerden.

Ich war bereits vor meiner Tür angelangt und tippte fleißig aufs Display ein, als ein Klirren vom Dachboden her ertönte. Es klang wie Glas, das auf einen Steinboden fällt.

Der Krakenmann ist zurück!, schoss es mir durch den Kopf.

Das war natürlich Unsinn, schließlich hatte Sander ihn höchstpersönlich in Calamares am Spieß verwandelt. Es musste also die lang ersehnte Veränderung sein, die endlich einsetzte.

Hastig schmiss ich meine Schultasche ins Zimmer und stürmte die Stiege zum Dachboden hinauf, auf der mir ein blumiger Duft entgegenwehte.

Was mochte sich zwischen den alten Holzsparren ausgebreitet haben? Ich liebte Veränderungen, zumindest solange sie nicht kichernd in mein Badewasser plumpsten.

Der Anblick, der sich mir bot, war mehr als sensationell!

Wo vorher allerhand Gerümpel herumgestanden hatte, wuchsen nun Blumenranken, die mit dunkelroten Blüten bedeckt waren. Sanft wanden sie sich dem Licht entgegen, das von oben einfiel. Tatsächlich war ein Großteil des Dachstuhls durchsichtig geworden, zumindest beinahe, denn die Umrisse der Holzsparren und Dachschindeln waren erkennbar wie die bläulichen Kanten bei einer Glasscheibe. Der Dachboden machte dem Namen Himmelshoch nun alle Ehre.

Leider stellte sich heraus, dass ich nicht die Entdeckerin dieser spektakulären Veränderung war. Sander war bereits vor mir eingetroffen und kletterte gerade durch die Dachluke herein.

»Von außen sieht alles ganz normal aus«, teilte er mir ohne weitere Umstände mit. Wer verschwendete schon seine Lebenszeit mit Hallo sagen? »Als ich eine Schindel ausgelöst habe, hat sie sich zurückverwandelt. Sobald sie jedoch Kontakt zum Innenraum bekommt, verändert sie sich wieder in so was wie Glas.«

Ich blickte auf den Scherbenhaufen, der ein paar Schritte vor mir auf dem Boden lag. Das verstand Sander also unter Kontaktaufnahme.

»Jetzt haben wir einen Garten unterm Dach, das ist so dermaßen genial!«, platzte es aus mir heraus. Trotz Sanders düsterer Miene mochte ich meine Begeisterung nicht unterdrücken. Ein Gewächshaus! Wenn ich das Laboe erzählte, würde sie ausflippen vor Begeisterung. Ab jetzt konnten wir im Winter picknicken und im Grünen Bücher lesen, selbst wenn es regnete, und …

»Gib acht mit den Ranken, sie finden Menschen interessant«, unterbrach Sander meinen Glückstaumel. »Und du willst doch nicht als dekoratives Blumengitter enden, oder?«

Ich schüttelte selig den Kopf. Blumen mit einem Eigenleben – wie märchenhaft schön. Eine winzige Ranke wickelte sich um meinen Zeigefinger und öffnete an ihrer Spitze eine weiße Blüte, die sich langsam rosa und schließlich blutrot verfärbte und dabei diesen lieblichen Duft verströmte. Prompt war ich verliebt, ernsthaft und wahrhaftig verliebt.

»Hoffentlich müssen wir dieses Grünzeug nicht regelmäßig stutzen, ansonsten wäre ich für Totalrodung.« Sander machte ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter, was ziemlich seltsam an jemandem aussah, auf dessen T-Shirt ein neonfarbener Smiley prangte und der knallrote Doc Martens trug, als plane er einen Zirkusauftritt. Als er vor mir stand, schob er demonstrativ die Brille ins Haar.

»Man könnte meinen, du willst mich nicht sehen.«

»Keine Angst, ich sehe dich gut genug.« Sander klang mürrisch, und ich konnte mir nicht erklären, warum.

»Das schaffst auch wirklich nur du, von so viel Schönheit umgeben nölig drauf zu sein.«

»Während du heller strahlst als die liebe Sonne.«

Wir starrten uns an.

»Offenbar war Tammo nicht ganz so kotzig zumute, wie Frau Langhorst gedacht hat«, knurrte Sander.

Damit war unser Blickduell schlagartig beendet, weil ich bei dem Namen Tammo blinzeln musste.

»Deine Sportlehrerin hat hier angerufen, nachdem sie bei den Freibaums niemanden erreicht hat. Wollte hören, ob mit dem Nachhausebringen alles gut gegangen ist, nachdem es Tammo doch dermaßen verflucht elend ging, dass er dich als Stütze brauchte. Ich vermute mal, du bist nicht so blendend drauf, weil er unterwegs sein halb verdautes Frühstück auf dem Pflaster verteilt hat.«

Das also steckte hinter Sanders schlechter Laune. Zu allem Überfluss bekam ich sogleich Gewissensbisse, weil ich mit Tammo eine tolle Zeit verbracht hatte. Das war natürlich Unsinn, aber ich kam nicht dagegen an.

»Ich hatte keine Lust auf Sport, darum haben wir Frau Langhorst die Geschichte aufgetischt, dass Tammo übel ist. Das war ja noch nicht einmal richtig geflunkert, er ist nämlich krank. Es ist mir allerdings ein Rätsel, warum dich das sauer macht, schließlich bist du früher der König unter den Schwänzern gewesen, das steht sogar schwarz auf weiß in deiner Abi-Zeitschrift im Statistikteil. ›Die meisten Fehlstunden: Sander Parson.‹«

»Mit dem kleinen Unterschied, dass ich nicht blaugemacht habe, um mit Überlangweiler Tammo das Nieselwetter zu genießen.«

»Wie konnte ich nur vergessen, was für ein pflichtbewusster Mensch du doch bist. Bei dir ist alles einzig und allein auf deinen Dienst an der Menschheit ausgerichtet, während Entgleisung ein Fremdwort für dich ist. Sander Parson, nicht Schwänzergott, sondern die Zuverlässigkeit in Person.« Ich biss mir auf die Zunge, doch es war zu spät. Wir dachten beide zeitgleich an unseren abendlichen Motorradausflug zu den Laboes. Er hatte seine Pflicht einmal vernachlässigt, und es hatte sogleich Folgen gehabt, auch wenn wir die bislang nicht absehen konnten.

Sander schluckte hörbar. »Übrigens habe ich die flummiartige Veränderung, von der du erzählt hast, bislang noch nicht gefunden, aber ich bin mir sicher, dass ein Besucher entkommen ist. Der Schacht zur Kohlengrube stand ein Stück offen, und es wird kaum Jakob gewesen sein, der ihn nicht richtig verschlossen hat. Den dreckigen Schacht meidet er, den zu überprüfen ist mein Job.«

»Ich war es auch nicht«, gestand ich halblaut ein. »Nach Möglichkeit gehe ich nicht einmal in die Nähe der Grube, in der sitzen mir eindeutig zu viele Spinnen. Doch selbst wenn die Luke einen Spalt offen stand, heißt das noch lange nicht, dass ein Besucher durch ihn geflüchtet ist. An diesem Haus ist alles alt und morsch, vielleicht hast du beim letzten Check einfach nicht gemerkt, dass die Luke nicht ordentlich verschlossen ist. Davon abgesehen hättet ihr schließlich an den Salzzeichen bemerkt, wenn einer entkommen wäre.«

Sander verzog bekümmert das Gesicht. »Jakob und ich haben nach der Krakenattacke ein paar Änderungen der Zeichen vorgenommen, in der Hoffnung, sie würden dadurch wirkungsvoller. Es sah auch ganz danach aus, aber nun habe ich Tests durchgeführt und festgestellt, dass die Zeichen wie festgebrannt sind. Deshalb verraten sie auch nichts darüber, was sich abgespielt hat. Es ist, als würde eine Sicherheitskamera ein perfekt aufgelöstes Standbild von einem leeren Raum zeigen, während in Wirklichkeit die Diebe zuschlagen. Ich habe Jakob erst letzte Nacht davon erzählt. Nur von den festgefrorenen Zeichen, nicht von meinem Verdacht, dass mir ein Besucher entwischt ist. Er glaubt, es sei noch einmal alles gut gegangen, obwohl er natürlich sofort wieder eine Ansprache gehalten hat.«

»Es ist auch alles gut gegangen«, behauptete ich, obwohl mein Mund ganz ausgetrocknet war vor Anspannung.

Sander lachte bitter. »Wohl kaum. Aber ich will dieses Problem allein geradebiegen, ohne dass Jakob mir im Nacken sitzt und mir unablässig mitteilt, was für ein mieser Versager ich bin. Zumindest ziehe ich das durch, solange die Zeichen nicht auf Weltuntergang stehen. Allzu monströs kann der Besucher letztendlich nicht sein, ansonsten hätten wir bereits von ihm erfahren … Oder vielmehr von dem Unheil, das er angerichtet hat. Insofern hast du recht.«

Wahnsinn. Hatte Sander mir gerade wirklich zugestanden, dass ich mal richtig gelegen hatte? Unter anderen Umständen hätte ich ein Freudentänzchen veranstaltet. »Was du für diese Geheimaktion brauchst, ist eine Komplizin, die dich unterstützt und die mit allen Wassern gewaschen ist.«

»Lass mich raten: dich zum Beispiel.« Endlich schlich sich ein Lächeln auf seine Lippen.

»Jawohl, mich. Wen Besseres kannst du gar nicht kriegen.«

»Ohne Zweifel, wer sonst hat so viel Erfahrung darin, auf allen vieren vor Angreifern zu flüchten, seinen Retter bewusstlos zu treten oder quiekende Veränderungen entkommen zu lassen?«

Goldig wie eh und je, der alte Sander war zurück. »Das Ding hat nicht gequiekt, sondern gekichert. Kleiner Tipp, zu seiner Komplizin sollte man stets nett sein, sonst kommt sie vielleicht auf die Idee, einem den Feinden zum Fraß vorzuwerfen.«

»In dieser Hinsicht mache ich mir keine Sorgen, denn ich kenne deine schöne Seele. So etwas Böses würdest du niemals tun.«

»Kommt drauf an.« Mein Versuch, möglichst geheimnisvoll und verwegen zu klingen, scheiterte auf ganzer Linie. Das machte jedoch nichts, solange Sander von einem Ohr bis zum anderen grinste. Ich liebte es, wie er dabei aussah – vergnügt, einen Tick unverschämt und zu jeder Schandtat bereit.

»Wir sitzen in dieser Angelegenheit also in einem Boot. Ich bin mit von der Partie, weil mich sonst mein schlechtes Gewissen umbringt, und du, weil du keine schlüpfrigen Geschichten über Nächte im Mädcheninternat in deinen Erfahrungsschatz aufnehmen willst.«

»Yes, Sir!« Ich salutierte hoch professionell. »Aktion ›Anouk bleibt in Marienfall‹ kann starten.«

Sander musterte mich, die Augen plötzlich verengt. Mit jeder Sekunde wich das freche Grinsen mehr aus seinem Gesicht und ließ Platz für eine Distanziertheit, bei der mir unweigerlich kalt wurde.

»Was hast du denn, habe ich etwas Falsches gesagt?«

Sander zuckte mit den Schultern. »Nein, eigentlich nicht. Ich frage mich nur, wie weit du gehen würdest, um Marienfall nicht verlassen zu müssen. Das kam eben so rüber, als wäre das der Hauptgrund, warum du mir helfen willst, hierzubleiben. Alles andere ist nebensächlich.«

»Natürlich geht es mir darum, dass ich nicht weggeschickt werden will. Aber nicht nur, ich habe auch andere Gründe. Ich will zum Beispiel genauso wenig wie du, dass in unserer Stadt das große Chaos ausbricht, Papa über dich herfällt oder die Wächter bei uns Einzug halten. Ich begreife nicht, warum du das in einem so abfälligen Ton sagst.«

»Vergiss es, okay?«

»Wie bitte? Vergessen, dass du mich einfach aus heiterem Himmel anpampst?« Das schaffte wirklich auch nur Sander, die Laune auf dem Höhepunkt in Sekundenschnelle bodenlos tief abstürzen zu lassen. »Für dich braucht man echt eine Gebrauchsanweisung. Offenbar drücke ich ständig die falschen Knöpfe, anders kann ich mir deine Stimmungsschwankungen nicht erklären.«

»Dafür brauchst du keine Gebrauchsanweisung, sondern nur ein Stichwort: Poloshirt-Liebhaber Freibaum.«

»Ach, von daher weht also der Wind. Du bist eifersüch-tig.«

»Nein, absolut nicht.« Sander machte einen Schritt auf mich zu und funkelte mich wütend an. »Ich bin keineswegs eifersüchtig, sondern schlicht entsetzt über deinen Männergeschmack.«

Mittlerweile war er so nah, dass ich eigentlich zurückweichen musste, wenn ich nicht über kurz oder lang mit der Nasenspitze gegen seine Brust stoßen wollte. Doch zurückweichen? Das sah ich gar nicht ein. Schließlich war ich ebenfalls aufgebracht und voll gerechtem Zorn, deshalb streckte ich mich ihm entgegen. Sollte er doch den Rückzug antreten. »Woher willst du wissen, ob ich mich für Tammo interessiere? Davon abgesehen, dass es dich nicht das Geringste angeht, wie ich zu ihm stehe.«

Sander musste über die Antwort nicht groß nachdenken. »Weil du noch nie über einen anderen Jungen so geredet hast wie über ihn. Als wäre er ein Geheimnis, das du vor mir verbergen musst.«

»Vielleicht hast du bislang nur niemals mitbekommen, wenn ich in einen Jungen verliebt war. Du verpasst nämlich eine ganze Menge von mir, weil du entweder im Keller sitzt oder damit beschäftigt bist, dir weibliche Unterhaltung im Nachtleben aufzureißen.«

Um Sanders Mundwinkel zuckte es und ein zynisches Lächeln kam zustande. »Es ist nicht notwendig, viel Zeit mit dir zu verbringen, um herauszufinden, dass deine Traumkerle bislang nur in Büchern vorkamen. Der verträumte Blick mit dem du diese zerlesenen Exemplare durch die Gegend getragen hast, war deutlich genug. Ich sage nur ›Lucas‹.«

»Und das willst du mitbekommen haben, obwohl diese blöde Brille nie auf deiner Nase sitzt, ja?«, zischte ich ihn an. Inzwischen war ich so sauer, dass ich ihm am liebsten einen Tritt vors Schienbein versetzt hätte.

»Das und noch eine ganze Menge mehr.« Sanders Stimme war lediglich ein Raunen. »Das Problem ist nicht, dass ich was gegen Tammo Freibaum habe. Der Typ ist ein Schwachmat, unter dessen Schädeldecke nur Platz für Basketball und eine Runde Dosenbiertrinken mit den Kumpels vorhanden ist. Aber das ist mir, offen gestanden, scheißegal. Nicht egal ist mir, dass er etwas tun wird, das ich unbedingt tun will. Dass er es darf und ich nicht.«

Mein Atem ging vor Anspannung stoßweise und das Blut rauschte durch mich hindurch. Es war ein Wunder, dass ich Sanders leise Worte überhaupt verstand. »Was willst du unbedingt tun?«

Sanders Brauen fuhren zusammen, als wundere er sich darüber, dass ich diese Frage wirklich ernsthaft stellte.

»Dich küssen natürlich.«

Während ich noch verblüfft über dieses Geständnis dastand, beugte er sich zu mir hinab und legte seine Lippen auf meine, sachte und bestimmt zugleich. Ich hielt still, staunend über diese unerwartete Berührung und voller Erwartung, was noch geschehen möge.

Es war ein sanfter Kuss, nicht mehr als eine Eröffnung des Spiels. Dann lösten sich Sanders Lippen, nur um sich sogleich wieder zu senken. Sie streiften, liebkosten, setzten mir zarte Küsse in den Mundwinkel, während sein Daumen mein Kinn umspielte, als wolle er mich auf diese Weise dazu bringen, meine Lippen zu öffnen. Das taten sie schließlich von ganz allein, genau, wie meine Hand nach Sander suchte und seine Taille fand. Im nächsten Moment legte er einen Arm um meine Schultern und zog mich an sich.

Innerlich zuckte ich für einen Sekundenbruchteil zurück, erschrocken über seinen drängenden Körper, nur um mich sofort nach noch größerer Nähe zu sehnen. Dieses Begehren tat sich unvermittelt auf, als wäre es schon immer ein Teil von mir gewesen, gut verborgen, und nun befreite es sich plötzlich mit einem Schlag. Es war irrational und wild, es begrub jeden Gedanken und weckte ein schmerzliches Verlangen nach dem Jungen, dessen Hand gerade meinen Nacken umfasste. Alles, was bisher gewesen war, war plötzlich aufgehoben, als habe er mich wach geküsst, damit ich in eine neue Welt eintrat.

Tat ich das wirklich? Stand ich wirklich eng umschlungen mit dem Jungen da, der mich in den letzten Jahren bei jeder Gelegenheit mit seiner bissigen Art auf Abstand gehalten hatte? Der sich niemals länger als nötig mit mir in einem Raum aufhielt und jede meiner Berührungen mied, als wären sie ihm zutiefst zuwider? Eine Antwort auf diese Fragen zu finden, war verblüffend leicht. Ich schmeckte Sanders Lippen, spürte die Wärme, die hinter ihnen lag, der Ort, den ich erforschen und mit dem mein Mund verschmelzen wollte – und war mir absolut sicher, dass ich mir nichts anderes so sehr wünschte.

Als spürte Sander mein inneres Eingeständnis, küsste er mich plötzlich auf eine Weise, die mit dem zärtlichen Drängen zu Beginn nichts mehr zu tun hatte. Und mir fiel es unbeschreiblich leicht, mich darauf einzulassen, als hätte ich nur abgewartet, dass er die Grenze zwischen uns aufhob. Ganz von allein glitt meine Hand unter sein Shirt und legte sich oberhalb seiner Hüfte ab, als böte nur seine nackte Haut den Halt, den ich brauchte, um mich nicht endgültig zu verlieren. Meine Finger fanden sein Haar, seine raue Wange und dann den heftig schlagenden Puls an seinem Hals. Atemlos nahm ich das Beben seines Körpers wahr, der sich immer enger an mich schmiegte.

All diese Eindrücke erreichten mich und doch wieder nicht. Es kam mir vor, als würde es nichts anderes geben als Sanders Kuss und meinen Herzschlag hart gegen seine Brust.

Als unsere Münder sich schließlich voneinander lösten, verlor ich fast das Gleichgewicht. Eine harte Landung nach der gerade erst erlebten Schwerelosigkeit. Nein, ich wollte nicht aufhören, sondern Sander sofort wieder zu mir herabziehen, ihn küssen und alles vergessen, was zwischen uns stand.

Ein Blick auf ihn genügte jedoch, um das Verlangen erlöschen zu lassen.

In Sanders Augen war Bestürzung zu lesen, von der gleichen Intensität, mit der er eben erst auf mich zugegangen war. Mir schwante, woher dieser Umschwung rührte: Er fühlte sich schuldig, mir meinen ersten Kuss geraubt zu haben, so vollkommen unvermittelt.

»Tu das nicht«, sagte ich. »Du hast nichts Falsches getan, ganz im Gegenteil.«

Trotz meiner Bitte gab Sander mich frei. Mit einem Ruck löste er sich aus meiner Umarmung, als könne er sie dadurch ungeschehen machen, während sein Gesicht verriet, dass ihn die Trennung ebenfalls schmerzte.

»Es war falsch und es tut mir leid«, flüsterte er. »Ich hätte das niemals tun dürfen.«

»Warum denn nicht? Wir sind nie wie Bruder und Schwester gewesen …«

Sander legte seinen Zeigefinger auf meine Lippen. »Nein, wir beide sind nie auf eine solche Weise zusammengewachsen, obwohl das nur natürlich gewesen wäre. Die Distanz, die ich zu dir gehalten habe, für die gibt es einen triftigen Grund.«

»Natürlich. Weil es eine Lüge gewesen wäre, wenn wir so getan hätten, als ob«, versuchte ich ihm zuvorzukommen, aber so leicht war der Kummer von Sanders Zügen nicht zu vertreiben.

»Das ist es nicht. Würde es nur darum gehen, gäbe es aus meiner Sicht kein Problem. Es ist vielmehr …« Sander fluchte lautlos. »Wenn ich dir sage, dass ich dir den Grund unter keinen Umständen verraten darf, würdest du dich damit als Begründung zufrieden geben, dass so etwas nicht noch einmal geschehen darf?«

Ich schüttelte ungläubig den Kopf. »Natürlich nicht. Nicht nach dem, was gerade zwischen uns geschehen ist. Wie könnte ich?«

»Das habe ich mir schon fast gedacht.« Sander lächelte traurig. »Du hast einen verdammt sturen Kopf, Anouk. Nur leider ändert das nichts an der Tatsache, dass ich dir nicht erklären kann, warum ich diese Grenze zwischen uns niemals hätte überschreiten dürfen. Aber ich kann dir versprechen, dass ich es nicht noch einmal tun werde.«

Voller Schrecken streckte ich die Hand nach Sander aus, doch er wich zurück. Er war schon immer zu schnell für mich gewesen.

»Bitte«, sagte ich, ohne recht zu wissen, worum ich bat. Um einen weiteren Kuss? Dass er mich nicht abwies, sich nicht vor mir verschloss? Dass er mir die Wahrheit nicht verschwieg?

Für einige Sekunden sah Sander mich gequält an, und ich hoffte, er würde nachgeben, aber dann drehte er sich um und ließ mich zwischen den betörend duftenden Blumenranken zurück, die meine Beine umspannten, als bräuchten sie meine Wärme dringender als die der Sonne.

Gleich einem Stich grub sich die Erkenntnis in meine Brust, dass es Sander stets leicht fiel, sich von mir abzuwenden. Selbst nach dem, was wir soeben miteinander geteilt hatten.

Sander Parson, der sich ansonsten vor nichts auf der Welt fürchtete, war vor mir immerzu auf der Flucht.

TIAMAT – Liebe zwischen den Welten
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