29. Blitzschlag

Sanders Zimmer lag verlassen da, über dem Stuhl hing lediglich die Kleidung, die er gestern getragen hatte.

Unschlüssig blieb ich im Türrahmen stehen.

Auf dem Schreibtisch lugte unter dem Bücherhaufen ein Zipfel hervor.

Das musste das Plakat oder Foto sein, das er bei meinem letzten Besuch abgenommen und versteckt hatte, bevor ich einen Blick darauf werfen konnte. Obwohl es alles andere als korrekt war, in seinen Sachen herumzukramen, ging ich zum Schreibtisch und zog das Papier hervor. Es war eine arg zerknitterte Seite aus einem Ringblock, und ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, was darauf verewigt war: Eine Skizze von meinem Gesicht, die Laboe im letzten Sommer angefertigt hatte. Wir hatten einen Nachmittag auf der Picknickdecke im Garten verdöst – genauer gesagt hatte ich ihn verdöst, während Laboe aus lauter Langeweile ein Porträt von mir gezeichnet hatte. Das fertige Bild bewahrte ich in meinem Zimmer auf, es war ihr wirklich gut gelungen und zeigte, dass sie Solanges Kreativ-Gen geerbt hatte. Sanders Exemplar musste ein erster Versuch gewesen sein, den Laboe wegschmissen hatte. Dabei war es ebenfalls geglückt, nur hatte sie die Proportionen falsch eingeschätzt, sodass nicht mein ganzes Gesicht auf das Blatt gepasst hatte, sondern lediglich ein Ausschnitt: mein leicht geöffneter Mund, Nase und ein Blick, als würde ich gerade erwachen oder mit halb geöffneten Augen träumen. Sander musste die Skizze gefunden und aufbewahrt haben. Mehr als das, er hatte sie an seine Wand gehängt.

Augenblicklich wurden meine Hände feucht und ich schob die Zeichnung an ihren ursprünglichen Platz zurück.

Wie lange empfand Sander schon auf diese Weise für mich?

Länger, als ich vermutlich dachte.

Und was mochte es ihn gekostet haben, diese Empfindungen vor mir zu verbergen und jeden Tag den Genervten zu spielen, um seine Gefühle zu vertuschen?

So viel Täuschung, dachte ich bedrückt. Wo ich auch hinblickte, alles veränderte sich und zeigte endlich sein wahres Gesicht.

Aber was war mit mir? War ich trotzdem noch die gleiche Anouk, die vor einigen Tagen Bücher auf den Dachboden hatte bringen wollen? Ein ganz normales Mädchen in einer ganz normalen Kleinstadt, dessen Geheimnisse noch nicht einmal ihre eigenen waren, sondern ihrer Familie und ihren Freunden gehörten?

Bislang hatte ich Tiamat, Besucher und Wächter für einen Part meines Lebens gehalten, der zwar vorhanden war, aber keinen größeren Einfluss auf meinen eigentlichen Alltag nahm – von den Sorgen, dass mein Vater mich auf ein Internat schicken könnte, einmal abgesehen. Ich ging zur Schule, hatte einen Freundeskreis, der andere Dimensionen für einen spannenden Kinostoff hielt, und so gewöhnliche Interessen wie Lesen und meinen Hund verziehen. Damit war jetzt Schluss, so konnte ich die Welt nicht länger sehen, denn die Wahrheit über Tiamat und alles, was mit ihr zusammenhing, betraf mich von nun an persönlich. Es war der Weg zu meiner Mutter, und es war eine Grenze, die sich möglicherweise schon sehr bald zwischen Sander und mir auftun würde. Zum ersten Mal stellte ich meinen Vater, sein Tun und seine Entscheidungen infrage, nachdem ich bislang alles stillschweigend akzeptiert hatte: seine Distanziertheit, seine Arbeitssucht und besonders die Kälte, die er Sander entgegenbrachte und die unser Zuhause in eine Eiskammer verwandelte. Nein, ich war nicht mehr die gleiche Anouk. Ich war erwacht und ich konnte es nicht wieder rückgängig machen. Wenn ich bislang eine Zuschauerin der Ereignisse gewesen war, würde ich ab heute anfangen, sie mitzubestimmen. Ich hatte ein Recht darauf – und keine Täuschungen, Lügen und Verwirrspiele würden mich länger davon abhalten.

Zum ersten Mal nahm ich den Weg, der durch das Kellergewölbe zu Tiamat führte, ganz bewusst wahr, während die kindliche Angst, die mich ansonsten immer fest im Griff hielt, verschwunden war. Hinter dem Tor verbargen sich nicht länger Ungeheuer und Monster, sondern Antworten, die ich dringend brauchte. Auf den Metallplatten, die den Weg säumten, bildete ich mir nicht länger besorgniserregende Wasserspuren ein. Meine Hand zitterte, als ich das Schleusenrad drehte, um die schwere Metalltür zu öffnen. Sie zitterte jedoch nicht, weil ich mich vor dem Anblick dessen fürchtete, was am Ende der Schleuse auf mich wartete, sondern es lag an meiner Ungeduld. Hastigen Schrittes stieg ich die Metallröhre hinab und hielt erst vor dem Kraftfeld aus weißem Nebel kurz inne, bevor ich hindurchtrat. Wie immer durchfuhr mich jener angenehme Schauer, dann sah ich mich Tiamat gegenüber.

Sander stand gut zwei Meter vom riesigen zweidimensionalen Maelstrom entfernt, mit dem Rücken zu mir. Er trug eine Trainingshose und ein ärmelloses T-Shirt. Seine rechte Schulter glühte in blauem Schimmer, als würden die Linien dort von den Wasserfluten jenseits von Tiamat zum Leben erweckt. »Ausgeschlafen?«, fragte er, ohne sich umzudrehen.

»Ich weiß jetzt endlich, warum es mich stets irritiert hat, durch das Kraftfeld zu treten. Es ist die gleiche Energie, die dich umgibt, wenn du unter Druck gerätst. Ihr hängt auf irgendeine besondere Weise zusammen, richtig?«

»Ich habe immer gedacht, dass Kraftfeld sei durch Tiamats Erwachen entstanden, ähnlich den Salzzeichen, nur mit ein paar Tagen Verspätung«, antwortete er. »Jetzt würde ich eher darauf tippen, dass es eine Veränderung ist, die zu mir gehört. Zumindest erklärt das, warum ich wahrnehme, was mit dem Feld in Berührung kommt. Am schlimmsten war es übrigens jedes Mal, wenn du hindurchgegangen bist … Als hätte ich dich vor mir und würde dich abtasten, ohne dich anzufassen.«

»Tausend feine Berührungen. Und dabei hast du immer so getan, als würdest du nichts spüren, als wäre ich bloß ein hysterisches Mädel.«

Das leise Lachen, das Sander ausstieß, verursachte mir eine Gänsehaut. »Was hätte ich denn sonst tun sollen? Ich war schon froh, wenn ich dabei nicht in die Knie ging. Ich wollte es ignorieren, wie vieles andere auch. Das begreife ich erst jetzt, und es erklärt, warum ich mich immer so verdreht gefühlt habe. Ich dachte, es liege daran, dass ich meine Herkunft nicht kenne und in Jakob niemals einen Vater gefunden habe. Dabei stand ich bloß schlicht und ergreifend auf der falschen Seite.«

Endlich drehte Sander sich um und sah mich durch seine Brillengläser an. Sein Anblick zerschnitt mich, trieb einen Graben in meine Brust. Unmöglich zu glauben, dass er nicht in meine Welt gehörte, dieser Junge mit seiner Brille und dem neonfarbenen Spruch auf seinem Shirt, den ich nicht einmal hochalkoholisiert laut vorgelesen hätte, obwohl es einem echten Kunststück gleichkam, ein und dasselbe Schimpfwort drei Mal in einem einzigen Satz unterzubringen. Und doch … Es ließ sich nicht leugnen: Sander war anders. Nicht im Sinne von ausgeflippt, unberechenbar und strange, sondern wirklich anders. Ich hatte es von Anfang an gewusst, hatte es in ihm und nicht an dem verräterischen Leuchten der blauen Linien gesehen.

»Du stehst nicht auf der falschen Seite.« Das entsprach meiner tiefsten Überzeugung.

»Ach nein?«

»Zumindest nicht, solange die richtige Seite die ist, auf der ich stehe. Falls du nämlich glaubst, ich lasse mich noch einmal auf Abstand bringen, weil du von irgendwelchen unbegründeten Schuldgefühlen heimgesucht wirst, dann irrst du dich.«

»Anouk, du hast ja keine Ahnung«, setzte er an, doch davon ließ ich mich nicht beeindrucken. Nicht mehr.

»Genau wie du, schließlich wissen wir beide nicht, was hier gespielt wird. In einem Punkt bin ich mir allerdings deutlich sicherer als du, nämlich darin, dass wir zusammengehören. Und damit meine ich nicht nur die stürmischen Küsse, Verliebtsein und so was, sondern dass es ein echtes Band gibt zwischen uns. Es ist eine Schande, dass mir Grandmama erst auf die Sprünge helfen musste, damit ich die Wahrheit erkenne. Aber jetzt weiß ich es, und du tätest gut daran, es ebenfalls zu akzeptieren, damit wir uns den echten Problemen stellen können. Gemeinsam – und nicht als Ein-Mann-Show, wie du dir das offenbar vorstellst.«

Sander zog die Augenbrauen hoch. »War das jetzt mehr eine Liebeserklärung oder eher eine Zurechtweisung?«

»Kommt drauf an, was es braucht, damit du begreifst, dass du mich unter keinen Umständen mehr von dir fernhalten kannst. Erinnerst du dich an die Tarotkarten, die Grandmama dir gelegt hat? Auf den Tod folgt die Liebe. Sie hat absolut recht behalten.«

»Oh Mann, du bist wirklich einzigartig – einzigartig und ziemlich heftig, Anouk. So eine Ansprache am frühen Morgen.« Mit einer vertrauten Geste schob Sander die Brille ins Haar und rieb sich ausgiebig die Augen. »Wäre wohl nicht verkehrt gewesen, mich ebenfalls kurz aufs Ohr zu hauen, anstatt hier Stunde um Stunde den verfluchten Maelstrom anzustarren, als habe er Antworten parat. Dann wäre ich dir jetzt vielleicht gewachsen und hätte möglicherweise sogar einen passenden Kommentar zur Hand, besonders für den netten Teil in deiner Ansprache.« Sander knabberte an seiner Unterlippe. War er etwa verlegen? So etwas hatte ich ja noch nie bei ihm erlebt. »Obwohl … Wenn ich so nachdenke, wohl eher nicht. Womit ich sagen will, dass ich inhaltlich mit dir übereinstimmen würde, aber nicht von der Form her.«

Ich spielte ernsthaft mit dem Gedanken, ihm den Mund zuzuhalten, bevor er sich noch tiefer ins Elend redete. »Versuchst du mir gerade auf deine verquere Weise zu sagen, dass du genauso für mich empfindest wie ich für dich?« Eigentlich hätte ich in diesem Moment lichterloh brennen oder mich zu Tode schämen müssen, weil ich ihm meine Gefühle ohne doppelten Boden offenbarte. Aber so war es nicht, ich fürchtete mich viel zu sehr vor dem, was uns im Anschluss erwartete. Fast glaubte ich, den Sog des Maelstroms zu spüren, der mit bedrohlichem Gleichmut seine Kreise zog, während durch das Netz aus blauen Linien Salz hinabrieselte und verriet, dass die Barriere zunehmend durchlässiger wurde.

»Also …«, setzte Sander erneut an, um gleich wieder innezuhalten. Ausweichend machte er einen Schritt nach hinten und federte gleich wieder zurück. Für eine solche Situation war er eindeutig nicht geschaffen. »Also, auf so einem Zettel aus Grundschulzeiten, wo man ›ja‹ oder ›nein‹ ankreuzen muss, würde ich in deinem Fall ganz klar das ›ja‹ ankreuzen. Okay?«

Okay, Sander war nicht nur verlegen, sondern schlichtweg überfordert. Ein ansonsten obercooler Junge, der über ein Liebesgeständnis stolperte und sich abmühte, das Ganze mit einer Prise Witz zu übertünchen. »Wenigstens sparst du dir ein selbstgefälliges Grinsen«, hielt ich ihm zugute.

»Nach Grinsen ist mir wirklich nicht zumute. Anouk, du weißt doch, wie es bei mir aussieht. Ich habe jahrelang alles darangesetzt, dass du nichts von meinen …« Sander schloss kurz die Augen, als würde sein Magen einen Doppelsalto schlagen. Das Wort »Gefühle« wollte ihm offenbar nicht über die Lippen kommen. »Ich dachte, ich hätte alles unter Kontrolle, sogar nachdem deine Sportlehrerin mir erzählte, du hättest ganz liebevoll deinen kranken Freund nach Hause begleitet, und mir daraufhin eine Tasse zu Bruch gegangen ist. Und als du dann auf dem Dachboden vor mir standest, habe ich alles darangesetzt, mich an meiner Wut festzuhalten, um nicht darüber nachdenken zu müssen, woher sie eigentlich stammte. Tja, und in einer Sekunde denke ich noch darüber nach, dass ich Tammo Freibaum hasse wie Pest und Cholera zusammen, und in der nächsten küsse ich dich auch schon. So etwas ist mir noch nie passiert.«

Ich zog eine Augenbraue hoch. »Dass du ein Mädchen küsst?«

Nun grinste Sander doch. »Dass ich ein Mädchen küsse, für das ich so viel empfinde, dass ich eigentlich die Flucht ergreifen müsste, um heil aus dieser Sache herauszukommen. Glücklicherweise liegt mir nicht allzu viel an meinem Seelenheil.«

»Endlich ist es einmal von Vorteil, dass du so kamikaze-mäßig veranlagt bist, ansonsten hätte ich nie herausgefunden, wie du in Wirklichkeit zu mir stehst.«

Langsam stemmte ich mich auf die Zehenspitzen, während ich Sanders Nacken umfasste und ihn zu mir herabzog. Er leistete absolut keinen Widerstand, wie ich erfreut feststellte. Unsere Lippen trafen sich, und ich schmeckte Salz, hauchfeine Kristalle. Als er seine Arme um mich legte, fiel eine Anspannung von mir ab, derer ich mir gar nicht bewusst gewesen war. Gleichgültig, auf welcher Seite Tiamats seine Heimat war, solange diese Umarmung andauerte, gehörte er mir, mit allem, was ihn ausmachte.

»Wir schaffen das«, wisperte ich und gab mir einige wunderbare Sekunden, in denen ich mich an seinen Oberkörper schmiegte und pure Geborgenheit erlebte. »Und wie geht es nun weiter?«

»Die Antwort, die wir jetzt am dringendsten brauchen, liegt hinter dem Tor. Bevor wir darüber nachdenken, wie wir es schließen können, ob es eine Möglichkeit gibt, deine Mutter zurückzubringen, oder was wir dem Wächterzirkel erzählen können, muss ich wissen, wer ich bin und was das Ewige Meer für mich bedeutet.«

Damit sprach Sander meine größte Sorge aus. »Deshalb bist du hier unten, der Maelstrom lockt dich. Die Welt, die hinter ihm liegt, ist jetzt nicht länger bloß Feindesland.« Ich musste hart schlucken, denn ich sprach nicht nur über Sanders mögliche Heimat, sondern auch über jenen Ort, an dem meine Mutter war, träumend. Allein diese Vorstellung veränderte alles, Tiamats Bedeutung hatte sich für mich vollkommen gewandelt. Sander blickte mich forschend an, und ich ahnte, dass es meine Worte sein würden, an denen er seine Entscheidung festmachte. »Ich glaube, dass Tammo uns die Wahrheit gesagt hat, und deshalb glaube ich auch, dass du durch das Tor gehen kannst, um herauszufinden, wer du in Wirklichkeit bist. Es gibt jedoch ein Aber, das mir schreckliche Angst macht. Du könntest die Fähigkeit, das Tor zu durchqueren, damals verloren haben, als Madelin an deiner Stelle im Ewigen Meer erschienen ist. Von den blauen Linien auf deiner Schulter abgesehen, bist du ein Mensch aus Fleisch und Blut. Und seit Jakobs Eigenversuch wissen wir, dass die Barriere keinen Menschen aus Fleisch und Blut gewähren lässt. Egal, wie sehr es dich drängt, sofort Gewissheit zu bekommen, sollten wir zuvor mit Jakob reden. Niemand kennt Tiamat besser als er, und er ist auch der Einzige, der jemals versucht hat, sie mit Absicht von dieser Seite aus zu durchqueren, seit die Salzzeichen erschienen sind.«

»Du meinst den Jakob, der sein Leben der Jagd auf Besucher verschrieben hat, das ehrenwerte Mitglied des Wächterzirkels? Der wird mir den Kopf abschlagen, bevor wir Tammos Geschichte auch nur zu Ende erzählt haben. Vermutlich tue ich ihm sogar einen Gefallen, wenn ich eingestehe, ein Besucher zu sein, schließlich bin ich ihm ohnehin ein Dorn im Auge. Zwischen uns wäre es über kurz oder lang zum Bruch gekommen, vor allem weil er bemerkt hat, dass ich ein Interesse an dir hege, das man nicht unbedingt als brüderlich bezeichnen kann. Ich denke nicht, dass er unsere Beziehung dulden würde. Eher würde er mich davonjagen, seinen heiß geliebten Job bei der Bank aufgeben und wieder rund um die Uhr Tiamat bewachen.«

»Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, schließlich hat Jakob dich aufgezogen.«

»Falsch. Er hat mich unter seinem Dach geduldet, weil er ein schlechtes Gewissen hatte. Und er akzeptiert mich in seiner Nähe, weil ich ihm einen nicht zu unterschätzenden Vorteil bei seiner Wacht einbringe. Den Job müsste er ansonsten allein machen, schließlich will er ums Verrecken niemanden aus dem Wächterzirkel für einen längeren Zeitraum im Haus haben. Mehr steckt nicht hinter unserer Beziehung.«

Mein Magen fühlte sich an, als hätte ich eine Packung Eiswürfel verschluckt. »Du siehst das falsch, du bedeutest Jakob mehr, er kann das nur nicht zeigen. Mir gegenüber ist er auch oftmals gleichgültig, aber ich bin mir trotzdem absolut sicher, dass er mich liebt und das Beste für mich will. Wenn du ihn um Hilfe bittest …«

»Das werde ich nicht tun, Anouk. Auf gar keinen Fall werde ich Jakob um etwas bitten oder mir von ihm die Chance rauben lassen, mich von Tiamat prüfen zu lassen. Darauf würde es nämlich hinauslaufen, wenn du mich fragst. Schon möglich, dass er nicht so weit gehen würde, mich zu töten, aber er würde zweifelsohne verhindern, dass ein Besucher auf die andere Seite des Tors zurückkehrt. Ich bin mir in dieser Hinsicht so sicher, weil ich es als Wächter genauso halten würde. Das Risiko, dass dieser Besucher in Wirklichkeit nämlich einen finsteren Plan verfolgt, wäre mir schlicht zu groß.«

Mit alter Vertrautheit kroch mir die Angst den Rücken hinauf, und ich verspürte das dringende Bedürfnis, meine Finger so fest in Sander zu graben, bis er sich unmöglich von mir lösen könnte. Nun, da er nicht mehr vor mir floh, würde er mir trotzdem verloren gehen.

»Das ändert jedoch nichts daran, dass wir keine Ahnung haben, ob du einen Wechsel unbeschadet überstehen würdest«, sagte ich. »Es mag ja sein, dass die Fließenden dich erwarten und diese Randwandler zurückdrängen, um dir eine sichere Ankunft zu gewähren. Egal, was Tammo über die Sicherheitsmaßnahmen gesagt hat, schließlich ist er schon seit einigen Tagen hier, und seitdem kann im Ewigen Ozean viel passiert sein. Allein die Vorstellung, dass dort irgendwo ein solches Biest lauern könnte, in einer dir unbekannten Umgebung, treibt mich in den Wahnsinn. Jahrelang durfte ich nie zeigen, dass ich in Sorge war, wenn du dich mal wieder Hals über Kopf in einen Kampf gestürzt hast. Und jetzt erwartest du von mir, dass ich so tue, als wäre alles bestens. Das ist es aber nicht! Und, Sander … Ich will dich nicht verlieren.«

»Das wirst du auch nicht.« Der Ausdruck, mit dem Sander mich betrachtete, war mir unbekannt, so ernst und zugewandt war er. Sanft streichelte er meinen Nacken und drängte auf diese Weise die Furcht zurück, die sich dort festgesetzt hatte. »Wenn ich mir nicht absolut sicher wäre, dass die Salzzeichen mich passieren lassen und ich von den Fließenden erwartet werde, würde ich es nicht drauf angekommen lassen, jetzt, wo ich einen sehr überzeugenden Grund habe, am Leben zu bleiben. Den hatte ich in der Vergangenheit nicht unbedingt … So idiotisch waghalsig, wie ich manchmal war, ist man nur so lange, wie man nichts zu verlieren hat. Und ich will dich genauso wenig verlieren wie du mich.«

»Und wenn du durch das Tor gehst und als ein anderer zurückkehrst?«

Sander zuckte mit den Schultern. »Dann hätte sich ja nichts verändert, schließlich war ich ja schon immer anders. So hätte mich Jakob korrekterweise nennen sollen: Anders – und nicht Alexander. Damit hätte ich mich glatt anfreunden können.«

Ich musste wider Willen lachen, hörte aber abrupt auf, als Sander sich meiner Umarmung entzog und seine Brille auf den metallenen Schreibtisch legte, als wolle er möglichst viel Ballast abstreifen.

»Schau, Anouk. Ich verspreche dir, dass ich auf keinen Fall länger als nötig im Ewigen Meer bleiben werde. Mir geht es nur darum, herauszufinden, ob alles, was Tammo gesagt hat, der Wahrheit entspricht. Und falls das der Fall ist, kehre ich sofort zurück, und wir beide besprechen gemeinsam, wie es weitergeht. Ich verspreche, dass ich so schnell wie irgendwie möglich zurückkehren werde.«

Es ist so weit, er wird mich verlassen, und ich darf ihn nicht davon abhalten, wenn ich sein Vertrauen nicht enttäuschen will. Aber ich habe Angst, schreckliche Angst.

»Hast du denn keine Abschiedsworte für mich?«, fragte ich, wobei meine Stimme mehr zitterte als mir lieb war, und ich auch nicht so aufrecht dastand, wie ich es mir wünschte.

»Die drei großen Worte zum Beispiel?« Sanders Lächeln war nicht zu deuten. »Du hast doch gerade erst mitbekommen, wie ich mich um Kopf und Kragen rede, wenn es um dieses Thema geht. Bestimmt würde ich alles vermasseln – und letztendlich weißt du es doch auch so.«

»Und ein Kuss?«

Sander blickte angestrengt nach oben, als müsse er ernsthaft darüber nachdenken. »Den gebe ich dir, sobald ich wieder da bin. Was unter diesen Umständen schneller sein wird, als du denkst. Und die drei Worte, die gebe ich dir dann auch. Nimm es als Versprechen.«

Ich nickte lediglich, unfähig, auch nur einen weiteren Laut hervorzubringen, ohne in Tränen auszubrechen.

Sander drehte sich um und berührte mit der Hand das Netz aus Salzzeichen, hinter denen das Tor zum Ewigen Ozean lag – der Heimat der Fließenden.

Für einen Sekundenbruchteil glaubte ich, mein Herz würde stillstehen und mit ihm die Welt. Dann bemerkte ich das blau schimmernde Licht, das über seinen rechten Arm hinab zu seinen Fingerspitzen geglitten war und sich wie ein Schutzschild zwischen seine Hand und die Zeichen legte.

In der Tiefe des Maelstroms begann es zu vibrieren, wie eine Antwort auf Sanders Forderung, durchgelassen zu werden. Ferne Blitze zuckten in seinem schwarzen Schlund, rasten heran und fanden einen Weg durch die Grenze zwischen den Welten. Wie goldfarbene Schlangen glitten sie über Sanders Handrücken, knisterten und funkelten. Die Linien auf seiner Haut antworteten, indem ihr Licht so hell wurde, dass es durch sein Shirt drang und sich wie ein Lichtspiel in der von feinen Salzkristallen durchzogenen Luft abzeichnete. Plötzlich war die Atmosphäre durchdrungenen von dem vertrauten Gefühl der Energie, die Sander verströmte. Die Zeichen aus Salz, die Tiamat gefangen hielten, begannen sich zu verändern, wurden vor meinen Augen umgeschrieben, während die weißen Kristalle wie Staub herunterrieselten und sich mit der veränderten Atmosphäre verbanden. Blitze sprangen auf sie über, und ein gleißend helles Netz spann sich, hinter dem der düstere Maelstrom verschwand.

Nur mit Gewalt gelang es mir, die Augen offen zu halten.

Sander war nicht mehr als ein Schatten.

Ein sich auflösender Schatten.

Plötzlich drohte meine Angst um ihn doch die Oberhand zu gewinnen. Was auch immer er ausgelöst hatte, es würde ihn umbringen, auslöschen! Ich sprang vor und griff nach ihm, doch meine Hand glitt ins Leere.

Tiamat hatte ihn passieren lassen.

»Nein!«

Mein Schrei verhallte unerwidert.

Ich schlug die Hände vor meine geblendeten Augen, gerade lang genug, bis der Schmerz wieder erträglich schien. Doch meine Mühe war umsonst. Ich stand allein in der Vorhalle des Tors, hinter dem der Maelstrom träge seine Runden zog, als sei nie etwas geschehen. Nur die klarer als sonst hervorstechenden Salzzeichen, die kaum noch rieselnden Kristalle und die Brille auf dem Schreibtisch verrieten, dass meine Welt soeben ein weiteres Mal auf den Kopf gestellt worden war.

TIAMAT – Liebe zwischen den Welten
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