11. Der Anfang vom Ende
Zu meiner Überraschung wurde der Abend bei den Laboes trotz der missglückten Tarot-Session noch richtig schön. Das lag einerseits an dem überirdisch leckeren Essen – in der Hinsicht kannte Sander mich wirklich gut –, andererseits an der Wiedersehensfreude, die im Übermaß verstrahlt wurde. Bei uns daheim gab es so etwas nicht: Beisammensitzen, plaudern und die Zeit verstreichen lassen. Im Leben meines Vaters war jede Sekunde wegen seines Jobs und seiner Pflicht als Wächter verplant, und Sanders Vorstellung von Zweisamkeit bestand darin, mir vorzuzählen, wie viele Liegestütze ich beim Training absolvieren musste. Wenn wir dann ausnahmsweise einmal zu dritt beisammensaßen, endete das meistens in einer Auseinandersetzung der beiden männlichen Hausbewohner und dem stets folgenden eisigen Schweigen, das mich rasch auf mein Zimmer trieb.
Es war also kein Wunder, dass der Abend wie im Flug verging und ich wie aus einem Traum erwachte, als Werner jun. plötzlich mit dem Telefon vor mir stand. »Dein Vater.« Es war dem Jungen anzuhören, wie eingeschüchtert er war – eine solche Wirkung erzielte Jakob bei den meisten Menschen.
»Anouk, ruf dir ein Taxi und komm nach Hause«, forderte mein Vater mich ohne große Umschweife auf. »Herr Laboe soll dir das Geld für die Fahrt bitte auslegen.«
»Ein Taxi? Ich dachte, du würdest mich abholen kommen. Die Reichbachs von nebenan leihen dir bestimmt ihren Wagen, wenn du sie bittest.«
»Beeil dich, verstanden?«
»Papa, ich …« Ich stoppte, als das Piepen mir verriet, dass Jakob bereits aufgelegt hatte.
Siedend heiße Finger strichen über meinen Rücken. Etwas war zu Hause vorgefallen und vermutlich nichts Gutes. Die zwanzig Minuten, die es dauerte, bis das Taxi kam, verbrachte ich damit, aufgeregt in der Küche auf- und abzugehen, während mir die fürchterlichsten Ideen durch den Kopf spukten. Was auch immer passiert war, das Herrenhaus stand offenbar noch, sonst hätte Jakob nicht von dieser Nummer aus anrufen können. Und Sander musste trotz seiner Fahrkünste heil nach Hause gelangt sein, ansonsten wüsste mein Vater schließlich nicht, wo ich mich aufhielt. Ich war derartig in meine Gedanken versunken, dass ich gar nicht mitbekam, wie Grandmama neben mich trat und den Arm um meine Taille legte.
»So viel Unruhe in deinem Leben und ich mache es mit meinen dummen Karten noch schlimmer. Mein armes Mädchen.«
»Ich bin froh, heute Abend bei Ihnen gewesen zu sein, Eulalie. Wirklich. Und was Sander anbelangt, der hat sich schon viel üblere Dinge über seine Zukunft anhören müssen, mein Vater nimmt in dieser Hinsicht kein Blatt vor den Mund. Unser Vater, meine ich natürlich.« Prompt fing ich mir wieder einen von diesen Ich-kann-hinter-deine-Fassade-sehen-Blicken ein. »Haben Sie schon einmal meine Karten gelegt?«, fragte ich misstrauisch.
Grandmama lächelte breit. »Und dabei, ohne deine Erlaubnis, eins deiner Geheimnisse aufgedeckt? Das würde ich niemals tun. Aber ich möchte dir einen Rat mitgeben: Lauf niemals vor der Wahrheit davon. Du bist stark, sehr viel stärker, als du denkst. Stell dich ihr.«
Ich nickte, weil ich außerstande war, einen Ton herauszubringen. Nicht gerade ein Beweis meiner enormen Stärke. Und auch auf der Taxifahrt durch die Dunkelheit fühlte ich mich eher verängstigt und sorgenschwer. Ich verkroch mich in der Lederjacke, die durch die Nässe einen schweren Geruch verströmte. Es roch gut, männlich. Nach Sander. Umgehend rief ich meine Gedanken zur Ordnung, schließlich war es zu abstrus, da half auch Grandmamas Stimme nicht, die mich auffordert, die Augen nicht vor der Wahrheit zu verschließen. Sanders Geruch ging mich nun wirklich nichts an.
Kaum hatte ich das Taxi verlassen, hörte ich das Gebrüll. Es war unverkennbar Sanders Stimme.
Laut, kräftig und vor allem verdammt wütend.
S wie superwütend.
Der Fahrer ließ das Fenster auf meiner Seite runter und beugte sich über den Beifahrersitz. »Willst du da wirklich reingehen, Mädchen? Klingt nach mächtig Ärger.«
»Das ist doch nur der Fernseher, im Spätprogramm schreien die doch ständig rum, das ist Schauspielkunst«, winkte ich ab und stürmte zum Haus.
Ich brauchte gar nicht weit zu laufen, denn Sander und mein Vater waren in der Empfangshalle aneinandergeraten, in der sie sich wie zwei Ringer kurz vorm Angriff gegenüberstanden. Das hieß, Sander brüllte, während Jakob ihn nur abfällig anstierte.
»… ich friste mein verfluchtes Leben in dieser Gruft, weil du es so willst. Du hast ja Besseres zu tun, nämlich an deiner so überaus wichtigen Karriere zu feilen, während an mir alles vorbeizieht bis auf ein paar lausige Stunden in der Nacht, wenn ich mal Freigang bekomme. Und habe ich mich jemals beschwert? Niemals!«
»Es geht nicht darum, welche Versäumnisse du hinnehmen musst, sondern darum, dass du dich nicht an die Regeln gehalten hast. Regeln, die ich aus gutem Grund aufgestellt habe und nicht, um dir das Leben zu verleiden. Das weißt du ganz genau«, wies Jakob den aufgebrachten Sander zurecht.
»Natürlich weiß ich das, aber deine goldenen Regeln sind nun einmal nicht heilig, es gibt nämlich noch die ein oder andere wichtige Sache neben Tiamat – und damit meine ich nicht deine dämliche Bank. Oder wäre es dir lieber gewesen, wenn ich Anouk mit dem Fahrrad hätte fahren lassen, durch diese scheißverregnete Dunkelheit?«
»Reiß dich zusammen. In diesem Ton wirst du nicht mit mir reden.«
»Wieso, verstoße ich gegen irgendeine spezielle Regel, indem ich von deiner Heuchelei angekotzt bin?«
Der Streit stand kurz davor, die Ausmaße eines 3. Weltkriegs anzunehmen. Ich musste meinen ganzen Mut zusammennehmen, um die Eingangstür mit einem lauten Knall zuzuschlagen. »Da bin ich wieder«, flötete ich.
Die beiden Männer fuhren herum und starrten mich an.
Lutz, der neben Sanders Stiefeln kauerte, gab ein verhaltenes Begrüßungsgrunzen von sich. Von Monstern ließ sich unsere Bulldogge nicht einschüchtern, aber von seinen aufgebrachten Herrchen allemal. Mir ging es genauso, aber leider reichte es in meinem Fall nicht aus, verstört zu fiepen – ich musste schlichten, das war mein Job in diesem ungleichen Dreieck.
»Wie schön, dass ihr euch streitet«, sagte ich mit Engelszungen. »Ich habe schon gedacht, es wäre etwas Schlimmes passiert, weil Papa mich nicht abgeholt hat.«
»Dein Herr Papa wollte mich keine Sekunde allein lassen, ich bin nämlich unberechenbar und kein Stück zuverlässig. Es gab noch ein paar andere schwerwiegende Vorwürfe, die er mir an den Kopf geworfen hat, aber die fallen mir gerade nicht ein. Vermutlich habe ich die Stiefel nicht korrekt abgetreten oder eine ähnliche Lappalie begangen, die nach Jakob Parson mindestens mit totaler Missachtung bestraft werden muss«, knurrte Sander, wobei er Jakob herausfordernd anfunkelte.
Mein Vater ballte die Hände zu Fäusten, allerdings nicht um sie einzusetzen, so weit würde er sich nie gehen lassen. Um jemanden zu maßregeln, standen ihm ganz andere Techniken zur Verfügung. Aber allein dass er es tat, zeigte, dass Sander mehr als einen wunden Punkt getroffen hatte. »Alexander, du gehst zu weit«, warnte er ihn, ohne jedoch einen Erfolg zu erzielen. Dafür war Sander viel zu aufgebracht.
»Jakob«, setzte er bedrohlich leise an, »könntest du, verdammt noch einmal, endlich akzeptieren, dass mich kein Schwein außer dir Alexander nennt? Ich finde den Namen nämlich hochgradig ätzend – nur für den Fall, dass dir dieser Umstand in den letzten zehn Jahren tatsächlich entgangen sein sollte.«
Ich hatte schon oft erlebt, dass Sander unzufrieden oder gar zornig auf meinen Vater war. Wenn sie nicht gerade gemeinsam am Tor arbeiteten, herrschte zwischen den beiden Funkstille, und nur gelegentlich fuhr ein Störgeräusch durch das Schweigen, hinter dem sie ihre gegenseitige Abneigung verbargen. Dass Sander seine Gefühle jetzt offen zeigte und auf Angriff ging, war auf diese Weise noch nie vorgekommen – einfach aus dem Grund, weil Jakob solche Ausbrüche nicht duldete. Auch jetzt verhärteten sich die Gesichtszüge meines Vaters zusehends. Sogar Lutz bekam das Stimmungstief mit und jaulte leise.
Fieberhaft dachte ich über ein Ablenkungsmanöver nach, irgendeinen Unsinn, der das Blickduell der beiden unterbrach, bevor die Situation vollkommen außer Kontrolle geriet.
»Hier ist übrigens die Quittung für die Taxifahrt, dieser Halsabschneider hat mir 23 Euro abgenommen. Unglaublich, was?« Als sei es die wichtigste Neuigkeit der Weltgeschichte, schwang ich über meinem Kopf den Zettel, den ich aus der Tasche von Sanders Lederjacke gefischt hatte, und lachte dabei äußerst verdreht. Egal, Hauptsache die beiden Kampfhähne lenkten ihre Aufmerksamkeit auf mich.
»Das ist keine Quittung«, klärte mein Vater mich auf.
»Ach, nein?« Ich starrte auf das Papier und wirklich: Es war eine Tarotkarte. Grandmama musste sie mir bei unserer Verabschiedung zugesteckt haben. Das ist Sanders letzte Karte in dem gelegten Kreuz gewesen, begriff ich.
»Wir haben alle einen anstrengenden Abend hinter uns, deshalb schlage ich vor, dass sich jeder zurückzieht. Und, Alexander, dein Verhalten wird Konsequenzen nach sich ziehen, nicht nur, weil du deine Wacht fahrlässig vernachlässigt hast, sondern auch für deine unangemessene Reaktion auf meine Zurechtweisung. Du wirst mich in meinem Haus nicht noch einmal anschreien, ansonsten kannst du gehen.« Mein Vater nickte mir noch einmal zu, dann schlug er den Weg in Richtung Keller ein, wo er vermutlich die halbe Nacht vor Tiamat verbringen würde, in den Maelstrom starrend, während er über eine Möglichkeit sinnierte, es zu schließen und die verhasste Wacht endlich zu beenden.
Ich stand mit der Tarotkarte in der Hand da und begann am ganzen Leib zu zittern. Mir war gar nicht bewusst gewesen, unter welcher Anspannung ich gestanden hatte. Wenn Sander und Papa sich stritten, war es, als bebten die Fundamente meines inneren Hauses.
Sander stand einige Atemzüge reglos da, dann ging er an mir vorbei.
In mir brach Panik aus. »Wo gehst du hin? Du willst doch wohl nicht Himmelshoch verlassen, nur weil Papa dir einen Rausschmiss angedroht hat? Sobald er sich beruhigt hat, gehe ich zu ihm und sage, dass dir gar nichts anderes übrig geblieben ist, als mich zu Laboe zu bringen. Dass ich dich quasi gezwungen und erpresst habe. Dann wird alles wieder gut. Sander, geh nicht!« Meine Stimme überschlug sich.
Sander schlug sich beide Hände vors Gesicht und stöhnte, als würde meine Panikattacke das Fass zum Überlaufen bringen. »Ich will nicht abhauen, sondern nur frische Luft schnappen. Ein Spaziergang mit Lutz, mehr nicht. Also krieg dich wieder ein, ich kann mit deiner panischen Art jetzt echt nicht gut umgehen. Ich kann dich jetzt nicht trösten, jetzt nicht, sonst …«
Das war ja nett. Trotzdem beschloss ich, nicht klein beizugeben. »Das renkt sich also wieder ein mit Papa? Dafür wirst du sorgen?«
»Dein lieber Papa hat mir einen ellenlangen Vortrag gehalten, nachdem ich ihm erzählt habe, dass ich dich rasch mal zu Laboe rübergebracht habe. Und in diesem Vortrag war ein ganzer Sack voller ziemlich übler Vorwürfe verpackt gewesen. Der heftigste Vorwurf bestand übrigens darin, dass ich ein Auge auf dich geworfen habe und alles daransetzen würde, dich um mich herumzuhaben. Ehrlich gesagt habe ich die Schnauze voll, mir das ständig anzuhören, egal, was ich Jakob für meine Rettung schuldig bin. Ich lasse mich nicht länger von ihm schikanieren, schließlich braucht er mich. Sieh mal, ich will hier sein, hier bei dir, aber nicht um jeden Preis. Daran gehe ich kaputt.«
Bei mir?
Während ich das noch verdaute, verschwand Sander mit Lutz in der Nacht und ließ mich mit lauter unbeantworteten Fragen zurück.
Vorwürfe … Abhängigkeit … Schuld … Erpressung – solche Worte waren bislang nie zwischen den beiden gefallen. Offenbar war mit dem Besuch bei den Laboes etwas lang unter Verschluss Gehaltenes hervorgebrochen.
Unwillkürlich musste ich an die Karten denken, die Grandmama für Sander gelegt hatte. Der schwierige Weg hatte offenbar bereits begonnen. Ich betrachtete die Karte, die sie mir zugesteckt hatte. Es musste diejenige sein, die sie nicht mehr aufgedeckt hatte, als Sander überhastet aufgebrochen war. Sie zeigte ein Paar, dessen Hände sich berührten.
Die Liebenden.
War es das, was er am Ende finden würde? Das hoffte ich aus vollem Herzen, auch wenn mir der Gedanke, ihn zu verlieren, damit diese Karte ihre Erfüllung fand, unerträglich war.