12. Sichtwechsel
Ich kuschelte mich in die Sofakissen, während die Schmonzette anlief, die Becks für unseren faulen Nachmittag ausgesucht hatte. Eigentlich war ich kein besonderer Filmfan und schon gar nicht, wenn es um eine vorhersehbare Liebesgeschichte ging, aber heute war ich damit überaus einverstanden. Mir gefiel die Aussicht, abzuschalten und mich einfach von bunten Hollywood-Bildern berieseln zu lassen. Nach der Aufregung des letzten Abends war ich mehr als froh gewesen, bei Becks unterzukommen. Ein Tag bei ihr zu Hause war die beste Therapie für mein in Schieflage geratenes Seelenleben. Ich brauchte dringend eine Auszeit, und die würde ich in diesem Einfamilienhaus mit eigenem Pool im Keller und Sofalandschaft am ehesten finden.
Trotzdem stand mir die Erinnerung an die vergangenen Ereignisse mehr als lebendig vor Augen. Die Katastrophe vom letzten Abend hatte nämlich noch keineswegs ihren Höhepunkt erreicht gehabt.
Ich versuchte, nicht daran zu denken, doch es gelang mir nicht …
Wie versprochen suchte ich am Morgen meinen Vater in seinem Arbeitszimmer auf, um ihm die Angelegenheit aus meiner Sicht zu erklären. Während mir der Magen nach der ganzen Aufregung schmerzte, saß Jakob gänzlich aufgeräumt hinter seinem Schreibtisch. Ich nahm ihm direkt ein wenig übel, dass die Auseinandersetzung keine Spuren bei ihm hinterlassen hatte. Und noch übler nahm ich ihm, dass unsere Unterhaltung letztendlich nur aus exakt zwei Sätzen von seiner Seite bestand.
»Ich will nichts darüber hören, dass du die Verantwortung an Sanders Fehlverhalten trägst, Anouk. Und jetzt lass mich bitte in Ruhe arbeiten.«
Dermaßen abgekanzelt, stieg ich in den verhassten Keller und klopfte an Sanders Kaninchenbau, doch es kam keine Antwort. Auch im Rest des Hauses war er nicht anzutreffen. Lutz faulenzte in seinem Körbchen in der Küche, während die Bandit nicht in der Garage stand, was dann wohl nichts anderes bedeutete, als dass Sander letzte Nacht noch einmal losgezogen war. Dabei hatte er angeblich nur einen Spaziergang machen wollen, nicht mehr. Vielleicht hatte er es sich anders überlegt und war einfach fortgegangen? Eigentlich wäre es kein Wunder, so gekränkt und aufgebracht, wie er nach dem Streit gewesen war. Aber er hatte doch gesagt, dass er bei mir sein wollte … Dieser Satz von ihm brachte mich vollkommen durcheinander, ich wusste einfach nicht, was ich davon halten sollte. Warum hatte er das gesagt, und wieso glaubte ich ihm das nicht nur, sondern verspürte auch eine recht verwirrende Freude darüber?
Vor Aufregung begann ich zu zittern, es fühlte sich an, als säße ich in einer Eiskammer. Obwohl Sanders Lederjacke noch klamm war, schlüpfte ich hinein und fühlte mich unmittelbar besser. Geborgen und beschützt.
Eine Stunde später, die ich mit intensivem Nägelknabbern verbrachte, tauchte Sander dann ziemlich abgefeiert, zerwuschelt und mit einem auf links gedrehten Wrestler-T-Shirt auf. Außerdem war er von seinem Fußmarsch klitschnass und roch wie eine Destillerie. Bei seinem Anblick kochte mir innerhalb von Sekunden das Blut hoch. So lief das also: Wenn es hart auf hart kam, ging Sander feiern und ließ sich anschließend abschleppen. Allein seine Augenschatten hätten verraten, dass er die Nacht durchgemacht hatte – genau wie ich, nur dass ich albernes Huhn mir den Kopf über seine Worte und die Tarotkarte zerbrach, während er kräftig auf den Putz haute. Ich kam mir wie ein Depp vor, ein überdrehtes Mädchen, das viel Drama um nichts machte. Es war demütigend, dass ich einen tieferen Sinn hinter seinen Worten zu erkennen geglaubt hatte, den es gar nicht gab. Ich war ihm nicht wichtig, kein Stück.
»Da ist ja unser pseudomelancholischer Held. Oh, Anouk, ich will hier sein, hier bei dir«, äffte ich Sander nach, der seine Schläfen massierte, hinter denen es vermutlich schmerzvoll pochte. »Immerzu bei dir, es sei denn, ich liege gerade zwischen den Beinen einer komplett betrunkenen Partygöttin.«
Genervt blinzelte er mich an. »Könntest du bitte leiser schreien? Mir platzt nämlich gleich der Schädel.«
Diese Dreistigkeit brachte das Fass zum Überlaufen. Ich warf ihm seine Lederjacke vor die Füße und noch ein paar Beschimpfungen an den Kopf, was er mit ausdrucksloser Miene hinnahm. Dann verließ ich das Haus. Lutz nahm ich mit, ansonsten würde das arme Tier noch eine Depression von der schlechten Stimmung bekommen. Nun schnüffelte er kreuz und quer durchs Wohnzimmer der Freibaums, auf der Suche nach Becks orangefarbenem Kater Fritzfratz, der schon vor Stunden beim Anblick der Bulldogge das Weite gesucht hatte.
Becks war zwar überrascht gewesen, als ich plötzlich vor ihrer Tür stand, aber letztendlich hatte sie sich gefreut, den Regentag nicht allein rumbringen zu müssen. Meine Ausrede, ich sei spazieren gewesen und hätte einfach nur Hallo sagen wollen, hatte sie auch bereitwillig geschluckt. Normalerweise hätte ich mich in einer solchen Situation zu Laboe oder Moritz abgesetzt, aber die Laboes hatten zu Ehren von Grandmama einen Wochenendtrip nach Hamburg geplant. Moritz hingegen weigerte sich wieder einmal, ans Telefon zu gehen, was bedeutet hätte, dass er mir zwar Unterschlupf gewähren, aber mich durchgehend anschweigen würde. Und eine Überdosis Niedergedrücktheit würde ich heute unmöglich schultern, dafür war ich selbst zu erledigt.
Die Freibaums hätten ohne Probleme den Preis als Vorzeigefamilie gewonnen, den ich ihnen wahnsinnig gern persönlich überreicht hätte, denn normal, ein bisschen etepetete und vorhersehbar fand ich im Augenblick ausgesprochen wohltuend. Mehr noch, ich bekam gar nicht genug davon. Schon das gemeinsame Mittagessen, zu dem Frau Freibaum mich spontan eingeladen hatte, war Balsam für meine geschundene Seele gewesen. Man saß beisammen an einem liebevoll eingedeckten Tisch und unterhielt sich über dieses und jenes. Die Stimmung war locker, nirgendwo lauerten Falltüren oder ein unausgesprochener Vorwurf um die Ecke. Und es gab auch keine bösartigen Besucher, die einem den Teppich ruinierten, indem sie dort Gänseblümchen sprießen ließen. Schon bei der Vorspeise atmete ich tief durch und verdrängte den Gedanken an die seltenen gemeinsamen Essen bei uns in Himmelshoch, bei denen das Wort ›ungemütlich‹ zweifelsohne erfunden worden war. Umso froher war ich, heute bei Becks unterzukriechen und das Gegenprogramm zu genießen. Und ich war noch froher, weil Becks älterer Bruder Tammo sich einen Magen-Darm-Infekt eingefangen hatte und auf seinem Zimmer blieb, sodass er die Stimmung nicht mit seinen Basketball-Geschichten vermiesen konnte.
Da es seit gestern in einer Tour regnete, gab es keinen besseren Platz auf Erden als ein gemütliches Sofa, eine Schale voller Süßigkeiten in Reichweite. Becks saß in eine Decke gemummelt neben mir und blickte abwechselnd vom Bildschirm auf die Haarenden zwischen ihren Fingern. Wenn sie ein gespaltenes Haar fand, zupfte sie es resolut ab. Ihr lag etwas auf der Seele, das war mir durchaus nicht entgangen.
»Was hast du gestern Abend denn gemacht?«, fragte mich Becks unvermittelt.
»Ich war bei Laboe, ihre Großmutter ist nämlich zu Besuch. Die Frau ist genial, die müsstest du echt mal kennenlernen.«
In meiner Begeisterung für Grandmama redete ich Unsinn, schließlich war Becks alles, was irgendwie mit Laboe zusammenhing, höchst suspekt. Es schien sie zu irritieren, dass Laboe aus ihrer Vorliebe für Mädchen keinen Hehl machte. Und genau das war es, was ich nicht verstand. Kein halbwegs klar denkender Mensch hatte heutzutage ein Problem mit Homosexualität, selbst wenn er – wie Becks – eher konservativ gepolt war. Bei uns an der Schule fanden die meisten Mitschüler das eher spannend und ein Großteil der Jungs hielt es schlicht für grausame Verschwendung. Nur Becks reagierte allergisch und Laboe entsprechend zickig. Es brannte mir auf den Nägeln, dieses Thema endlich einmal anzusprechen.
»Ich weiß, Laboe steigt dir gern auf die Füße, aber das macht sie nur, weil sie deine Vorbehalte spürt. Die übrigens ziemlicher Unsinn sind.«
»Falls du glaubst, es widert mich an, dass sie bei jeder unpassenden Gelegenheit erwähnt, wie umwerfend süß sie Jennifer Lawrence findet, dann irrst du dich. Sie kann stehen, auf wen sie will. Das interessiert mich nicht.«
Und warum bist du dann so gereizt?, fragte ich mich im Stillen. »Laboe ist echt toll und eine super Freundin, du solltest ihr eine Chance geben.«
»Nimm es mir nicht übel, aber das ist eine Schnapsidee. Es ist nämlich keineswegs so, dass nur ich es bin, die mit Laboe nichts zu tun haben will. Bei ihr herrscht nämlich sofort Zickenalarm, wenn sie mich sieht. Zwischen uns stimmt die Chemie nicht, da kann man nichts machen.«
Trotz dieser deutlichen Ansage hatte ich nach wie vor das Gefühl, dass sich hinter ihrer Abneigung noch etwas anderes verbarg. Nur war ich schlicht zu platt, um nachzubohren. Ein anderes Mal, sagte ich mir. Dafür braucht es Fingerspitzengefühl und vor allem eine gute Taktik.
Gerade als sich das Liebespaar im Film zum ersten Mal so richtig stürmisch in den Armen lag, klingelte Becks Handy. Sie warf einen Blick aufs Display, gab ein Schnaufen von sich und drückte das Gespräch weg. Dann richtete sie den Blick starr auf den Bildschirm, aber ich konnte hören, wie es hinter ihrer Stirn ratterte. Wer auch immer angerufen hatte, war der Grund für ihre wachsende Unruhe.
»Sag mal, wie war die Party gestern Abend eigentlich?«
Becks legte den Zeigefinger über ihre Lippen. »Psst.«
Fein, dann eben nicht.
Dann klingelte das Handy erneut und nach dem dritten weggedrückten Gebimmel sah Becks mich verlegen an. »Das ist Klaas, der war gestern ebenfalls auf der Party und … Ich bin rückfällig geworden.«
Das erklärte einiges. Klaas war Becks Exfreund, wobei man sich nie ganz sicher sein konnte, ob die beiden wirklich ›Ex‹ waren. Das Spiel ging schon länger so, allerdings nicht, weil sie lichterloh füreinander brannten, obwohl sie nicht zueinanderpassten. Denn auf den ersten Blick passten sie sogar hervorragend zusammen und Klaas war offenbar ernsthaft von ihr angetan. Je länger ich Becks jedoch kannte, desto mehr bekam ich das Gefühl, dass Klaas eine Art Notlösung war. Sie neigte zu Perfektionismus und zum perfekten Leben gehörte einfach der Idealpartner. Deshalb wollte Becks allzu gern wahr werden lassen, dass Klaas genau das für sie war, aber in Wirklichkeit brizzelte es von ihrer Seite aus nicht. In der Hoffnung, dass die Gesetze der Physik nicht ganz so ehern waren wie bislang angenommen, testete sie ab und an, ob es nicht vielleicht doch endlich zu einem Blitzeinschlag zwischen ihnen kam, sodass sie endlich das Traumpaar wurden, an das alle glaubten.
»Lass mich raten: Von deiner Seite aus war es eine Runde Rummachen und für Klaas der Startschuss für einen weiteren Beziehungsversuch.«
Becks zog sich die Decke bis zum Kinn, als stehe sie kurz vorm Erfrieren. »Das wird er sich dieses Mal bestimmt nicht so schnell ausreden lassen. Die Party bei Joschi war riesig, total gute Stimmung und ständig wurde einem Sekt nachgeschenkt. Ich bin ja eigentlich nicht so der ausgelassene Typ, aber dieser Sekt … Irgendwie ist es mit mir durchgegangen. Ich sollte wirklich keinen Alkohol trinken, ich baue dann immer nur Mist. Wie damals mit dieser dämlichen Bierflasche. Man sollte meinen, dass ich bestens Bescheid weiß, dass man die Fehler nie wieder rückgängig machen kann, die einem im betrunkenen Zustand unterlaufen. Egal, wie sehr man sich anstrengt, total normal zu wirken. Wie auch immer, auf einmal war Klaas da, und ich hatte dieses irre »Alles geht«-Gefühl, auf das ich mich dummerweise eingelassen habe.«
»Hast du Klaas denn irgendwas versprochen oder angedeutet, dass es dir nicht nur darum geht, der Party einen würdigen Abschluss zu verpassen?«
»Nun, weißt du … Wir haben nicht sonderlich viel miteinander geredet. Ich habe ihn auf der Tanzfläche getroffen und Klass trug so ein knallenges Oberteil … Es sah schlicht sexy aus, wie seine Brustmuskeln sich unter dem Shirt abzeichneten. Den Rest kannst du dir ja bestimmt denken.«
Ja, das konnte ich, obwohl ich selbst bislang noch nie im angesäuselten Zustand die Brustmuskeln eines Jungen bewundert hatte. Übrigens auch nicht im unangesäuselten Zustand. Vermutlich hing das mit meinem Desinteresse an der hiesigen Männerauswahl insgesamt zusammen, die zwar ganz passabel, aber keinesfalls umwerfend war. Die eigneten sich als Kumpels, aber das war es dann auch schon. Zum Schwärmen hatte mich bislang keiner gebracht, und schon gar nicht zu der Art von Gefühlsausbrüchen wie gerade im Liebesfilm, in dem sie ihm voller Verzweiflung und mit Tränen in den Augen Vorwürfe machte, während er männlich-stoisch dreinblickte, obwohl klar war, dass es in ihm vor Leidenschaft kochte. Nein, damit hatte ich nichts am Hut.
»Dein Bruder ist übrigens auch auf der Party gewesen, der ist allerdings erst kurz vor knapp eingetrudelt«, unterbrach Becks meine Grübeleien. »Dafür ist Sander ja bekannt: Als letzter kommen und am härtesten feiern.«
Ich schmiegte mich tiefer in die Kissen und biss die Zähne fest aufeinander. Bestimmt war er mit großem Hallo begrüßt worden, bevor er den Weg zur Bar und dann in die Intimbereiche eines Vorstadtmodels antrat. Aus lauter Frust hätte ich Becks fast verraten, dass Sander, dieser elender Herumtreiber, keineswegs mein Bruder war. Sondern nur ein Idiot, der unangenehmerweise im gleichen Haus wie ich lebte.
»Sander ist bei Joschi und den anderen Verrückten hängen geblieben, die haben gerade Strippoker gespielt. Wer verliert, muss ein Kleidungsstück ablegen. Pokern ist übrigens gar nicht so einfach, wie man denkt. Ich habe es ausprobiert, bevor ich Klaas getroffen habe. Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, kapiere ich endlich, warum der so große Augen gemacht hat – ich hab meinen Pulli nicht wieder übers Camisole gezogen.«
Becks musste ernsthaft nervös sein, wenn sie solche Informationen freiwillig preisgab. Für gewöhnlich schwieg sie sich über ihre Eskapaden genauso aus wie über Sander, vermutlich weil sie annahm, dass wir uns nicht sonderlich nahestanden. Womit sie absolut recht hatte.
»Na ja, ich war wenigstens nicht die einzige Person, die halb nackt auf der Party herumgesprungen ist. Dein Bruder … Was ist das eigentlich auf seiner Schulter? So ein blaues Linienmuster, wie stilisierte Wellen in einer japanischen Zeichnung oder so.«
»Eine Tätowierung, was sonst«, brummte ich. Offenbar war Sander zu der Auffassung gelangt, dass es Zeitverschwendung war, jeder Marienfaller Dame einzeln seinen durchtrainierten Oberkörper vorzuführen, und nutzte stattdessen Pokerspiele zum Rundumschlag. Ob es Becks wohl etwas ausmachte, wenn ich zwecks Wutunterdrückung ins Kissen biss?
»Ich hätte nie gedacht, dass Tätowierungen so genial aussehen. Dieses Blau ist unglaublich lebendig, gar nicht wie Farbe, sondern als würde es zu seinem Körper gehören. Oh Mann, hör nur, was für einen Unsinn ich rede. Dieser Sekt hatte echt meinen Verstand ausgeschaltet.« Als ihr Handy erneut klingelte, zuckte Becks resigniert mit den Schultern. »Macht ganz den Eindruck, als ob ich das jetzt klären muss, ob es mir passt oder nicht. Tut mir leid, aber das kann ein Weilchen dauern, Klaas ist ein ziemlich sturer Brocken.«
»Kein Problem, ich halt den Film solange an, der haut mich eh nicht vom Hocker. Ich schnapp mir ein Buch und stopfe mich mit Schokocrossies voll, bis du wieder da bist.«
Becks lächelte schwach – bestimmt würde sie jetzt gern das Gleiche tun –, dann verschwand sie aus dem Wohnzimmer.
Ich wälzte mich ziemlich unelegant vom Sofa, gestand Lutz eine Handvoll Chips zu, und studierte dann das Bücherregal, das eine ganze Wand einnahm. Zu meiner Enttäuschung überwogen Sachbücher und Klassiker der Literatur, mit denen ich in der Schule schon genug in Berührung kam. Ich musste nur den Namen Thomas Mann lesen und sofort schwadronierte die entrückte Stimme meines Deutschlehrers, Herrn Gamsbach, über wichtige Zeitzeugnisse, Figurenführung und so fort in meinem Kopf. Unter packender Unterhaltung verstand ich etwas anderes. Doch egal, wie sehr ich suchte, ich fand nichts, das auch nur im Entferntesten nach meinem Geschmack war. Falls Becks gern las, so gehörte keins dieser Bücher ihr, da war ich mir sicher.
Gerade als ich mit der Fingerspitze über einen golden geprägten Buchrücken in der Abteilung in Leder gebundener Originale fuhr, begann Lutz zu knurren. Und zwar richtig bedrohlich.
Verblüfft drehte ich mich um.
In der Wohnzimmertür stand Becks älterer Bruder Tammo.
Schon eine Sekunde später baute sich Lutz vor dem Jungen auf und bellte ihn dermaßen aufgebracht an, dass ich mich selbst erschrak. Hastig packte ich ihn am Halsband und zerrte das kläffende Kraftpaket von Tammo weg, der sich keinen Millimeter regte, wofür ich ihm sehr dankbar war. Jede andere Reaktion hätte die Bulldogge in ihrer Rage nur noch mehr herausgefordert.
»Jetzt gib endlich Ruhe, Lutz«, wies ich meinen Hund zurecht. »Egal, wie wohl du dich hier fühlst, das ist nicht dein Revier. Es gibt nichts für dich zu verteidigen. Schluss jetzt!«
Leider reagierte Lutz kein bisschen auf meine Kommandos. Englische Bulldoggen sind nicht nur stur, sondern auch massig, sodass es mir nur mit viel Ächzen gelang, den knurrenden Köter vor die Terrassentür zu zerren. Die frische Luft würde sein Mütchen schon kühlen und der folgende Chipsentzug erst recht. Lutz blieb vor der geschlossenen Schiebetür stehen und jaulte vor Empörung, aber seine angelegten Ohren verrieten, dass er vor allem wieder reinwollte, um Tammo in die Enge zu treiben.
»Tut mir wahnsinnig leid, so ist mein Hund sonst überhaupt nicht drauf. Vermutlich hat er sich erschreckt, als du reingekommen bist.
Es war ein seltsamer Anblick, wie Tammo Freibaum in einem zerknautschten T-Shirt und Pyjamahosen vor mir stand, ein leeres Wasserglas in der Hand. Das rotblonde Haar des Mädchenschwarms bildete seitlich am Kopf einen Zipfel und auf seiner Wange zeigten sich Knitterfalten vom Bettbezug. Dabei hätte ich darauf gewettet, dass er selbst krank höllisch smart aussah. Ohne es mir erklären zu können, fand in ihn auf diese verratzte Tour sehr viel sympathischer.
»Dein Hund passt wirklich gut auf dich auf, was?«
Tammo kratze sich an der Brust, auf die ich gerade ziemlich ungeniert starrte. Das war ja mal ein fadenscheiniger Stoff … Hilfe! Offenbar hatte mir Becks mit den sich unter Shirts abzeichnenden Brustmuskeln einen Floh ins Ohr gesetzt.
»Wie geht es dir denn?«, fragte ich in die peinliche Stille hinein.
»Keine Ahnung, irgendwie verkehrt.« Tammo machte den Eindruck, als müsse er sich anstrengen, um die richtigen Worte zu finden. »Eigentlich wollte ich gestern Abend nach dem Basketball-Training noch auf Joschis Party, aber auf dem Weg dorthin ist mir plötzlich speiübel geworden. Muss wohl was Falsches gegessen haben oder so, jedenfalls habe ich mich gerade noch rechtzeitig nach Hause geschleppt und die komplette Nacht über … Na ja, du kannst es dir bestimmt vorstellen.«
Das konnte ich durchaus und tat es auch prompt: Sexy Tammo über der Toilettenschüssel. Ich musste grinsen. Das war natürlich eine unpassende Reaktion auf ein solches Geständnis, also schob ich schnell ein »du Armer« hinterher.
»Nur nicht zu viel Mitleid, Parson«, sagte Tammo in einem Ton, den ich zuvor noch nie bei ihm gehört hatte. Ich kannte seine »Jeder hört mir zu«-Stimme genauso gut wie den »Jetzt musst du beeindruckt sein«-Ton, aber Witze, und dann auch noch von der trockenen Sorte, waren neu.
»Tut mir leid, aber meine Ration an Mitleid habe ich heute Vormittag bereits für jemand anderes aufgebraucht, dem es schlecht ging«, rutschte es mir heraus.
»Lass mich raten: Der gute Sander hat es erst heute Vormittag von einer Party nach Hause geschafft und zur Begrüßung in den Hausflur gekotzt.«
»Das mit dem Hausflur warst du, soviel ich von Becks weiß.« Ich hätte mich selbst ohrfeigen können, dass ich ausgerechnet Sander, diesen Partyterroristen, in Schutz nahm, aber mir steckte schlicht die Überzeugung in den Knochen, dass ich die einzige Person war, die schlecht über ihn sprechen durfte.
Zu meiner Erleichterung nahm Tammo meine Entgegnung locker. »Ja, stimmt, das hatte ich bereits verdrängt. In meiner Erinnerung dominiert die Kloschüssel. Aber was ist mit dir? Du siehst auch mehr nach schlafloser Nacht als nach blühendem Leben aus. Warst du bei Joschi?«
»Ich? Natürlich nicht.«
Ich war kein Partygänger, das hatte ich bereits bei meinen ersten Versuchen herausgefunden. Zum einen nervte es, dass alle immerzu annahmen, ich wäre so ein Freak wie mein vermeintlicher Bruder, der in den Köpfen der Leute ständig feierte, so, wie er früher in der Schule nur Unsinn angestellt hatte. Noch heute hieß die Technik, schulfrei durch das Auslösen der Feuerlöschanlage herbeizuzwingen, die »Sander-Feierabend-Methode«. Darauf war ich nur bedingt stolz, denn schließlich wusste niemand, dass es Sanders Trick gewesen war, um früher nach Himmelshoch zu kommen und meinen Vater zu unterstützen, nachdem am Morgen ein Besucher beim Tor angeklopft hatte. Außerdem waren mir auf den Feten die älteren Mädchen rasch auf die Nerven gegangen, die mich löcherten, ob mein Bruder noch käme und ob der gerade eine Freundin habe. Sander und eine Freundin – was für eine lächerliche Vorstellung. Warum sollte er eine haben, wo für ihn doch auch so übermäßig viel Abwechslung drin war?
»Ich mag mehr so gemütliche Abende, wo ich auch verstehe, was mein Gegenüber sagt«, hängte ich rasch noch zur Erklärung dran.
»Ist auch klüger, dieser Partykram stinkt auf die Dauer ohnehin.«
Das war eine ordentlich ungewöhnliche Aussage von einem Typen wie Tammo Freibaum. Wir sahen einander an, musterten uns vielmehr, und mir war, als würde ich ihn zum ersten Mal sehen. Der Aufschneider vom Pausenhof, der Basketball-Junkie und große Bruder von meiner Freundin Becks war verschwunden, stattdessen fand ich mich einem älteren Jungen gegenüber, den ich nicht uninteressant fand. Machte es einen Unterschied, ob man einander auf dem Schulgelände begegnete, wo alles vertraut und seit Jahren eingespielt war, oder plötzlich in einer anderen Umgebung? Tammo schien Ähnliches durch den Kopf zu gehen, denn im seinem Blick lag mindestens so viel Neugierde wie in meinem.
Als Becks schließlich ins Wohnzimmer zurückkehrte, waren Tammo und ich noch nicht viel weiter. Die intensive Spannung zwischen uns schien sie allerdings nicht zu bemerken, dafür war sie allem Anschein nach zu erschöpft von ihrem Gespräch.
»Hallo, du wandelnde Leiche. Bist du wieder auf den Beinen? Du musst dir mal was Anständiges überziehen, sonst bringst du Anouk noch in Verlegenheit«, begrüßte Becks ihren Bruder, ehe sie sich mir zuwendete. »Ich brauche jetzt dringend frische Luft. Bist du bei einem Spaziergang dabei?«
So gern ich wie angewurzelt stehen geblieben und Tammo in seine kornblumenblauen Augen geblickt hätte, aber Becks wollte bestimmt nicht bloß im Regen herumrennen, sondern mir unter vier Augen erzählen, was nun mit Klaas war. »Sicher, Spaziergang klingt klasse, wir machen einfach einen auf Singing in the Rain. Lutz muss sich eh mal gründlich austoben, der ist total neben der Spur. Der hatte wegen Tammo einen Knurranfall. Eindeutig unausgelastet, das Tier.«
Becks nickte dankbar.
Ich verharrte noch einen Moment, während sie bereits in die Diele verschwand. Bislang hatte ich allein beim Anblick von Tammos Feuerscheinhaar innerlich gestöhnt, davon konnte nun nicht länger die Rede sein. Da war etwas Neues an ihm oder vielmehr etwas, das ich erst jetzt entdeckt hatte.
»Gute Besserung, wir sehen uns dann am Montag in der Schule.«
Tammo lächelte, weder auf eine aufreißerische noch zuckersüße Weise, sondern ganz leicht, lediglich ein Heben der Mundwinkel. »Auf jeden Fall. Ohne deinen geifernden Bewacher wird es bestimmt auch netter. Ich freu mich.« Die Art, mit der er das sagte, zauberte mir ein Lächeln auf die Lippen.
Als Becks und ich durch die trübgrauen Felder hinter der Wohnsiedlung spazierten, auf denen noch nicht einmal ein Schimmer Frühlingsgrün lag, brauchte ich eine Weile, bis ich mich so weit gefangen hatte, um Becks richtig zuzuhören. Dabei ging keineswegs an mir vorbei, dass sie sich von Klaas tatsächlich zu einem Neustart hatte überreden lassen, nur weil sie Gewissensbisse quälten. Ich strengte mich ernsthaft an, aber in meine Gedanken schlich sich immer wieder Tammo … Oder vielmehr der neue Tammo, dessen Blick so nachdenklich auf mir gelegen hatte. Damit hatte er etwas in mir ausgelöst, doch um was es sich genau handelte, erschloss sich mir noch nicht.