8. Der Besucher
Ich war fünf Jahre alt, als Sander zu uns kam.
Noch Jahre später erinnerte ich mich ganz genau daran, wie ich ihm zum ersten Mal gegenübergestanden hatte, aber ich weiß nicht mehr, ob meine Eltern beide anwesend waren oder nur mein Vater, dessen Hand auf meiner Schulter lag. Es war Sommer und ich trug ein sonnengelbes Kleid mit Trägern. Die Hand – damals noch unversehrt – meines Vaters war eiskalt und zitterte stark, als sei er zu lange in den Kellergewölben unter Himmelshoch gewesen und nicht draußen auf der Straße, wo in diesen Tagen unaufhörlich die Sonne schien.
Und von der Straße musste er gekommen sein, denn schließlich hatte er jemanden mitgebracht.
Einen Besucher, wie ich erfreut feststellte.
Denn in Himmelshoch, in dem mein Großvater bis zu seinem Tod vor einigen Tagen allein gelebt hatte und das wir gerade bezogen, gab es keinen Besuch. Vielmehr noch: Er war verboten. Wegen des Geheimnisses im Keller, über das meine Eltern unentwegt flüsterten.
»Das ist Alexander, er wohnt ab jetzt bei uns, er hat nämlich kein Zuhause«, hörte ich Jakob sagen mit seiner tiefen, Respekt einflößenden Stimme, bei der ich stets zusammenzuckte. Trotzdem registrierte ich, dass da noch etwas anderes war, ein Bruch, als sei meinem Vater etwas Schreckliches widerfahren. Rasch schob ich den Eindruck beiseite, denn er konnte nur falsch sein. Wir hatten schließlich einen Besucher. Nein, keinen Besucher, sondern einen neuen Mitbewohner!
Ich sah mir den fremden Jungen an und war sofort auf fast magische Weise erfüllt von dieser Zuneigung, die man verspürt, obwohl das Gegenüber noch nicht einmal den Mund geöffnet hat. Es ist ein Instinkt, der sagt: Auf diese Person hast du gewartet, sie ist ein wichtiger Teil deines Lebens, ob du willst oder nicht.
»Alexander …« Der Name wollte mir nicht recht über die Lippen gehen, es klang, als würde er bei dem ›X‹ in der Mitte durchbrechen, und wurde dadurch zu einem »Ale-Sander«. Der Junge blinzelte, vermutlich weil es ihm zusetzte, wie ich dank meiner Zahnlücke seinen Namen verschandelte, was mir leid tat. Unter Hochdruck suchte ich nach etwas Freundlichem, mit dem ich es wieder gut machen konnte. »Ale-Sander. Das ist ein schöner Name, den mag ich. Klingt wie ›Hallo, Sander!‹, nicht wahr?«
Der Junge lächelte nicht über meine Bemerkung, wie ich es eigentlich erwartete, sondern schaute mich lediglich aus seinen zu Schlitzen verengten Augen an, als habe er Probleme, mich zu sehen. Als blicke er direkt ins Sonnenlicht …
»Den Namen habe ich ihm gegeben«, erklärte mein Vater, wobei ich etwas wie Besitzerstolz herauszuhören glaubte.
Dass dieser Junge, der ungefähr drei Jahre älter als ich sein mochte, nicht einmal einen eigenen Name hatte, stimmte mich traurig. Wenn man so groß war, dann sollte man doch eigentlich wissen, wer man ist. Das dachte ich zumindest. Erst nach und nach begriff ich, dass ihm noch weitaus wichtigere Dinge fehlten, wie etwa seine Sprache oder gar das Wissen, wie man sich benahm und was eine rote Ampel war.
Alexander – oder Sander, wie er sich schon kurz darauf zum Widerwillen meines Vaters nannte – faszinierte mich vom ersten Moment an. Mir war, als blickte ich hinter die Maske des vor Erschöpfung zitternden Jungen, der klitschnass und lediglich in Jakobs Hemd gewickelt im Foyer von Himmelshoch, inmitten der noch unausgepackten Umzugskartons stand. Wenn ich mir unsere Begegnung jetzt vor Augen führte, hatte er wie ein Welpe gewirkt, den man kurz vor dem Ertrinken aus dem Wasser gefischt hatte. Ein schmaler Junge mit langem schwarzem Haar, das in nassen Strähnen an seinem Hals klebte. Ein Junge, der kaum wusste, wie ihm geschah, und der unentwegt blinzelte, weil er von seiner Umgebung bestenfalls Umrisse erkannte und entsprechend nervös war. Der mit Ausdauer den kleinen Hund ignorierte, der hartnäckig, wie es nur Bulldoggen sind, an seinem Fußknöchel knabberte und dabei knurrte.
Aber das war natürlich die Sicht einer Sechzehnjährigen, die genau weiß, dass Sander eine Brille benötigte und dass er möglicherweise zitterte, jedoch auf keinen Fall aus Angst, sondern höchstens aus Anspannung … Wenn überhaupt. Und Lutz hatte ihm schon bald nachgesehen, dass er einfach in sein Revier eingedrungen war. Als Kind hatte ich ohnehin etwas anderes in Sander gesehen, eine Art Versprechen, das eines Tages eingelöst werden würde. Verrückt, ich weiß. Nur kam es mir damals keineswegs verrückt vor. Und es passte auch zu Sanders Reaktion auf die seltsame Gegebenheit, wie er in unserem Foyer stand, wo mein Vater ihm kurzerhand einen neuen Namen gab und ihn damit zu seinem Besitz erklärte.
Damals machte Sander einen verwirrten Eindruck, aber nur kurz, dann strich er sich Wassertropfen von den Wangen und folgte meinem Vater, der ihm das Gästezimmer zeigen wollte.
Rückblickend erinnerte ich mich nicht, was vor oder nach dieser Bekanntmachung geschehen war – ich sehe nur Sander als Kind und höre die Stimme meines Vaters. Mit fünf Jahren bekommt man bereits eine Menge mit, aber man behält nicht viel im Gedächtnis, bestenfalls Bruchstücke. So steht mir das blaue Muster auf Sanders Schulter noch lebhaft vor Augen, auf das ich einen Blick erhaschte, als das zu große Hemd aufklaffte. Die Stelle sah aus, als habe dort jemand einen mit Schnörkeln geprägten Stempel abgerollt. Später erfuhr ich, dass es sich um den Abdruck der Salzzeichen handelte, die sich seit diesem Tag wie ein kunstvolles Netz vor das Tor spannten. Der kleine Sander hatte es offenbar berührt und dabei seine komplette Vergangenheit verloren.
Mein Vater vermutete, dass Sander heimlich ins Kellergewölbe eingedrungen war – um zu spielen oder auf der Suche nach Essen und einem Platz zum Schlafen. Es wäre sogar möglich gewesen, dass er sich schon länger dort unten herumtrieb, denn Jakob hatte, als einziger Erbe seines Vaters, die Wacht erst vor einigen Tagen und mit viel Widerwillen übernommen, weshalb er das Gewölbe weitgehend mied. Vermutlich war er die meiste Zeit über in Diskussionen mit meiner Mutter verwickelt gewesen, die nicht länger als unbedingt nötig auf Himmelshoch bleiben wollte. Wie auch immer, Sander hätte sich keinen schlechteren Moment aussuchen können. Denn Tiamat erwachte nach ihrem Jahrhunderte währenden Schlaf genau zu diesem Zeitpunkt. Als habe sie darauf gewartet, dass ein Wächter seine Aufgabe schleifen ließ. Durch Jakobs Nachlässigkeit wurde der Junge mit den schwarzen Haaren fast ein Opfer des erwachenden Tors, das seitdem von einer mysteriösen Barriere aus Zeichen versperrt wurde. Eine für uns Menschen undurchdringliche Barriere, wie mein Vater kurz darauf am eigenen Leib erfahren musste. Sander nannte zwar noch alle sein Finger sein Eigen, aber seine Erinnerung war danach nicht bloß unzuverlässig und löcherig wie meine in Kindheitstagen, sondern sie existierte schlichtweg nicht länger. Alles, was vor diesem Erlebnis lag, war aus seinem Gedächtnis gelöscht, komplett tabula rasa. Wie auch immer er gelebt hatte vor dem Tag, an dem Jakob ihn bewusstlos im Kellergewölbe fand, es war ausgelöscht worden.
Als Kind beneidete ich Sander manchmal darum, dass er keine Ahnung hatte, wer seine Eltern waren oder ob er überhaupt je welche gehabt hatte. Für mich wirkte er frei und unbelastet, während mir die zerbrochene Beziehung meiner Eltern zusetzte. Zwar suchte Jakob lange Zeit nach Sanders Familie, doch alle Spuren liefen ins Leere. »Vermutlich ist er ein Zigeunerkind, dessen Sippe längst weitergezogen ist«, hatte ich meinen Vater einmal sagen hören und war nicht weiter überrascht gewesen. Denn mit seinen rabenschwarzen Haaren und seiner wilden und zugleich stolzen Art konnte ich mir Sander hervorragend als Zigeuner vorstellen. Geboren, um ein freies Leben zu führen und die Feste zu feiern, wie sie fielen. Zumindest Letzteres nutzte er später als Jugendlicher bis zur Neige aus.
Nachdem meine Mutter uns kurze Zeit nach diesem Ereignis verlassen hatte und im Herbst ein neues Schuljahr begann, gab mein Vater Sander als seinen Sohn aus. Das war insofern leicht, weil wir ja gerade erst nach Marienfall gezogen waren und niemand wusste, ob die jungen Parsons nun ein oder zwei Kinder hatten. Irgendwie gelang es meinem Vater auch, alles Offizielle zu regeln, wobei ihm in die Hände spielte, dass wir zuvor wegen seines Jobs überwiegend im Ausland gelebt hatten. Auf diese Weise wurde Sander zu einem Parson. »Nur vorübergehend, eine leider unumgängliche Notlüge«, hatte er Sander gegenüber beteuerte, der sich gegen eine solche Vereinnahmung heftig wehrte. Zum einen vermutlich, weil er sich nicht sonderlich gut mit Jakob verstand und ihn unter keinen Umständen ›Vater‹ nennen wollte. Zum anderen – und das verstand ich weitaus besser – weil es bedeutet hätte, seine Vergangenheit endgültig verloren zu geben. Irgendwo musste doch eine Familie auf ihn warten, ihn vermissen … Zwar sprach Sander nicht darüber, aber ich wusste, dass er auf eigene Faust Nachforschungen anstellte, seit er alt genug dafür war. Ein zusammengeschnürter Packen von den Briefen der Ämter und Krankenhäuser, die er angeschrieben hatte, war mir in die Hände gefallen, als ich ihm beim Brillesuchen in seinem chaotischen und restlos vermüllten Zimmer geholfen hatte. Seitdem durfte ich nur mit seiner ausdrücklichen Erlaubnis im Türrahmen stehen und ansonsten keinen Fuß in sein Terrain setzen. Nicht, dass ich mich darum riss, in seiner Lotterhöhle herumzuhängen, in deren Ecken Moos wucherte.
Ob ich mich darüber freute, plötzlich einen großen Bruder zu haben? Ich weiß nicht recht, denn es war ja eine Lüge, der darüber hinaus ein bitterer Beigeschmack anhaftete. Es ging Jakob zu keinem Zeitpunkt darum, dass wir drei eine echte Familie bildeten. In seinen Augen war Sander zuerst ein Findelkind, später ein geduldeter Gast, der seiner von der Trennung verstörten Tochter zur Seite stand, und dann, als er älter war und ein erstaunliches Talent im Bewachen Tiamats an den Tag legte, sein Lehrling. Ein Sohn war Sander ihm jedoch zu keinem Zeitpunkt, und er gab sich auch keinerlei Mühe, wenigstens so zu tun, als ob. Sander schien das auch nicht weiter zu bekümmern, denn er ging von sich aus ebenfalls keinen Schritt auf Jakob zu. Falls er jemals etwas unternommen haben sollte, um die Beziehung zu vertiefen, dann habe ich das nicht einmal ansatzweise mitbekommen. Sander und mein Vater nahmen sich nichts in ihrer Distanziertheit, sie sprangen bestenfalls so höflich wie zwei Fremde miteinander um.
Und ich? Ich wünschte mir oft, der Klebstoff zu sein, der unser Dreieck zusammenhielt. Nur hatte ich ebenfalls so meine Probleme mit Jakob, den außer seiner Arbeit wenig kümmerte. Was mein Verhältnis zu Sander anging … Wir waren wie zwei Magneten, die glaubten, voneinander angezogen zu werden, um dann – Überraschung! – mit einem Riesenknall auseinanderzufliegen. Immer wieder aufs Neue, ich konnte die blauen Flecke, die ich mir dabei geholt hatte, schon gar nicht mehr zählen.
Vielleicht sah ich Sander niemals als Bruder, weil er sich beharrlich weigerte, diese Rolle einzunehmen. Die ersten Monate – möglicherweise auch Jahre – war er mir zwar zugetan, aber eben auf eine verschlossene Weise, die er nur in seltenen Momenten abstreifte. Wenigstens akzeptierte er mich während dieser Zeit als eine Freundin, auch wenn ich kichern musste, als er seine ersten Versuche, mit einer Gabel zu essen, unternahm oder mir die Aufgabe zufiel, ihm den Sinn von Seife zu erklären. Seitdem wusste ich, dass Zitronenseife nicht nur appetitlich riecht, sondern offenbar auch appetitlich aussieht, denn Sander hatte voller Genuss hineingebissen. Allerdings war es kein reines Geben von meiner Seite gewesen, er revanchierte sich stets. Für mich gab es als Kind nichts Tröstenderes als seine wärmende Umarmung, wenn ich wieder einmal in Tränen über die Tatsache ausbrach, dass meine Mutter uns verlassen hatte. Und das tat ich oft. Damals.
Spätestens als ich meine Blumen-T-Shirts gegen Oberteile mit einem nicht zu knappen Ausschnitt eintauschte, begannen Sander und ich auseinanderzudriften. Mir stand noch Jahre später lebhaft vor Augen, wie er mir mit verkniffenem Gesicht den Wäschekorb in die Arme gedrückt hatte, in dem zuoberst mein erster BH lag, der mit Erdbeeren bedruckt war.
»Ab heute herrscht beim Wäschemachen Arbeitsteilung. Ich wasche meinen Kram und du wäschst deinen. Übrigens, Erdbeeren gehen genauso wenig wie Teddybären – oder noch schlimmer: Blümchen. Wenn du schon unbedingt eine Frau werden musst, dann bitte ein coole. Sonst halte ich das nicht aus.«
Es ist wohl keine große Überraschung, dass meine dreizehnjährige Ausgabe lediglich stocksteif dastand, anstatt ihm für diese Unverschämtheit den Kopf abzureißen. Solche Zusammenstöße gab es noch viele, aber dieser erste verfolgte mich noch lange, vor allem der Blick, mit dem Sander mich bedacht hatte. Als sei ich ein fremdes Wesen, von dem er nicht wusste, ob er es fürchten oder erforschen sollte. Ich war verletzt gewesen, keine Frage, aber zugleich hatte mich die Intensität gefesselt, die von ihm ausgegangen war. Mir kam es vor, als hätte mich zum ersten Mal in meinem Leben jemand wirklich angesehen.
Ob ich wollte oder nicht, mich prägten vor allem zwei Menschen, die kein Teil meines Lebens sein wollten: Sander, der mich mied und dessen Unterhaltungskünste sich auf Bissigkeiten beschränkten, und meine Mutter. Als ich später begriff, dass mein Vater Sander keineswegs auf der Straße aufgegriffen hatte, sondern dass er sich unter Himmelshoch aufgehalten hatte, als Tiamat erwachte, hatte ich Jakob unter vier Augen gefragt, ob Madelin möglicherweise nicht nur wegen seiner Aufgabe als Wächter gegangen war, sondern auch wegen Sander. Weil Papa sich seinetwegen schuldig fühlte und die Wacht niemals abgeben würde, damit kein Kind je wieder in eine solche Lage geriet.
Jakob hatte mich lange angesehen und dann gesagt: »Deine Mutter ist fortgegangen, um ein anderes Leben zu führen. Marienfall hatte ihr nichts zu bieten, und ich musste hier bleiben, also hatte ich ihr auch nichts zu bieten. Es ist besser für dich, ihre Entscheidung zu akzeptieren, anstatt dich mit dem ›Warum‹ zu quälen. Vergiss Madelin, auch wenn es dir noch so schwer fällt, denn sie wird nicht wiederkommen. Und Hoffnung, die sich niemals erfüllt, verwundet einen mehr als ein eingestandener Verlust.«
Mehr war zu diesem Thema nicht aus Jakob herauszubringen gewesen, obwohl ich genau spürte, wie nah ihm meine Frage ging. Mein Vater war kein emotionaler Mensch, ganz im Gegenteil, aber ich ahnte, dass er selbst noch Hoffnung hegte, obwohl es ihn verletzte.
Meine Mutter verließ unsere Familie fast zeitgleich mit Sanders Erscheinen. Madelin ging mitten in der Nacht, heimlich, wie Menschen es tun, die schon lange unglücklich sind und ihren Entschluss ganz allein mit sich ausgemacht haben. Sie nahm nicht mehr mit als einen Koffer voller Kleider und mein Lieblingsschmusetier, ein lang gezogener Hase namens Löffel, dem ich fast genauso sehr hinterherweinte wie ihr. Trotzdem war mir nicht viel mehr von Madelin geblieben als eine Handvoll ausgefallener Möbelstücke, die sie nach Himmelshoch mitgebracht hatte, und ihre restliche Kleidung, die ich nicht tragen konnte, ohne dass mein Vater mich mit Nichtachtung abstrafte. Dann gab es noch eine Kiste mit Krimskrams, die zusammen mit ein paar Fotos in meinen Besitz übergegangen waren. Auf den ältesten Aufnahmen sah Madelin noch glücklich und dann immer verschlossener aus, als würde sie ein Lächeln für die Kamera Überwindung kosten. Nur auf den Fotos, auf denen sie mich im Arm hielt oder mir auf der Schaukel Schwung gab, lachte sie.