35. Der Himmel ist besetzt

Ich hatte die Macht des Wächterzirkels, trotz meiner bisherigen Erfahrungen, eindeutig unterschätzt. Sie brauchten nicht länger als drei Stunden, um Himmelshoch mit Mann und Gerätschaft zu besetzen – ohne dabei in der Efeustraße Aufsehen zu erregen. In der Welt dort draußen waren die Wächter ganz normal und unauffällig, erst wenn sie die unsichtbare Grenze überschritten, die Himmelshoch zum ihrem Revier machte, zeigte sich ihre wahre Bestimmung. In Räumen, in denen sich außer meinem Vater, Sander und mir seit meiner Kindheit nur Filippa gelegentlich aufgehalten hatte, tummelten sich nun Fremde mit abweisender Miene. Die meisten von ihnen trugen Waffen bei sich oder waren mit mir unbekannten Maschinen und Apparaturen beschäftigt, andere verschanzten sich am Esstisch hinter Laptops, sicherten Fenster und Türen von beiden Seiten, damit ihnen bloß nichts und niemand entging. Einige in Zivil gekleidete Wächter, die wohl den Jägern zuzuordnen waren, besprachen sich mit Filippa und schwärmten anschließend aus, vermutlich um den verschwundenen Tammo zu suchen. Währenddessen organisierte Filippa die Untersuchung der Familie Freibaum, wobei sie dank Kreditkartenauskunft schnell feststellte, dass die Eltern gerade zu einem romantischen Wellness-Wochenende aufgebrochen waren.

»Komm ja nicht auf die Idee, deine Freundin Juliane Freibaum in irgendeiner Form am Telefon vorzuwarnen, damit würdest du alles nur noch schlimmer machen. Und damit du Bescheid weißt: Wir würden ohnehin mithören«, hatte Filippa mich zwischen Tür und Angel angefaucht, bevor sie mich des Esszimmers verwiesen hatte.

Auch im Kellergewölbe herrschte Aufruhr, da das Kraftfeld am Ende der Schleuse niemanden außer uns Parsons passieren ließ. Auch das kompliziert verpackte elektronische Equipment, wie Kameras und Messgeräte, das wir hinübertrugen, gab nach der Berührung mit dem Kraftfeld, wie erwartet, den Geist auf.

»Wir müssen Tiamat überprüfen«, fuhr Filippa meinen Vater an, was der mit stoischer Miene an sich abprallen ließ.

»Natürlich müssen Sie das, aber ich kann es nun einmal nicht ändern. Das Kraftfeld entzieht sich meinem Einfluss, einmal davon abgesehen, dass Sander der Spezialist für diese Veränderung ist. Sie werden also warten müssen, bis er von seinem Ausflug zurück ist, damit er ihnen bestätigt, dass am Kraftfeld nichts geändert werden kann.«

»Dass Sie seit Jahren nichts unternehmen, um dieses Kraftfeld unter Kontrolle zu bringen, lässt mich eine gewisse Absicht vermuten, Parson.«

»Gewiss doch. Allerdings nicht die Absicht, die Sie unterstellen. Wir blockieren das Kraftfeld nicht, weil es ein wichtiger Bestandteil der Absicherung Tiamats darstellt. Schließlich wollen wir nicht nur vermeiden, dass eines Tages ein Besucher durch das Tor in unsere Welt dringt, sondern auch, dass jemand Unbefugtes von unserer Seite das Kellergewölbe betritt und Unheil anrichtet. Wir, für unseren Teil, haben jedenfalls aus dem Vorfall mit Sander gelernt.«

Ohne ihn einer Antwort zu würdigen, hatte Filippa auf dem Absatz kehrtgemacht und zwei grimmig dreinblickende Wächter am Schleusentor zurückgelassen. Dort standen sie nun noch immer im flackernden Licht der Tiamat-Leuchtröhren.

Mein Vater nahm mich beiseite und flüsterte mir ins Ohr. »Einer von uns beiden sollte dringend Sander kontaktieren, damit er schleunigst nach Hause kommt. Und dabei sollte derjenige Filippa möglichst unauffällig auf die Finger schauen. Für meinen Geschmack führt sie sich eine Spur zu herrisch auf, gerade so, als würde Himmelshoch ihr bereits gehören. Würdest du so lange beim Tor bleiben, Anouk? Du brauchst keine Angst zu haben, denn heute wird ganz bestimmt kein Besucher eindringen, so stabil, wie die Zeichen wirken. Und auch von frisch durch die Barriere gerieseltem Salz ist keine Spur zu entdecken.«

Unter anderen Umständen hätte ich den Vorschlag liebend gern angenommen. Meine Gedanken eilten trotz der ganzen Aufregung unentwegt zu Sander, von dem bislang noch kein Zeichen auszumachen gewesen war. Zwar wäre es albern gewesen, seine sofortige Rückkehr zu erwarten, schließlich würde ihm ein rascher Blick auf das Ewige Meer nicht ausreichen, um zu begreifen, wer er in Wahrheit war. Er war jedoch nun schon so lange fort und mit jeder Minute nahm meine Sorge zu. Was wäre, wenn es den Randwandlern gelungen war, die Fließenden zurückzudrängen und Sander ihnen direkt in die Hände gefallen war? Oder hatte er es erst gar nicht geschafft, die Salzzeichen-Barriere im Ewigen Meer zu durchdringen? Ich hätte niemals zulassen dürfen, dass er geht. Wenn ich ihn darum gebeten hätte, dann wäre er geblieben … Habe ich ihn in den Tod gehen lassen, den Grandmamas Karten vorhergesagt hatten? Um diese Fragen drehten sich meine Gedanken unentwegt, trotzdem konnte ich mich jetzt nicht wartend vors Tor setzen.

»Hör mal, Papa. Ich pass auf Tiamat auf, sobald ich kann, aber vorher muss ich noch ein paar Sachen erledigen. Tammo steckt meinetwegen in großen Schwierigkeiten, ich muss zusehen, dass er gewarnt ist, bevor die Jäger ihn finden.«

Jakobs Miene verfinsterte sich, und ich befürchtete schon, nun würde er mir auf den Zahn fühlen, was es mit dem plötzlich auftretenden Wasserstrudel in unserem Foyer in Wahrheit auf sich hatte. Aber dann nickte er. »Das ist vermutlich eine gute Idee, wir sollten den Schaden, den die Wächter anrichten werden, möglichst begrenzen. Für alles andere ist später noch Zeit genug. Hast du eine Möglichkeit, Sander zu erreichen?«

Mein wunder Punkt. Ich schluckte, dann sagte ich: »Sobald ich von ihm höre, gebe ich dir Bescheid. Versprochen.«

»Bitte tu das. Wir Parsons müssen zusammenhalten, wenn wir vermeiden wollen, dass der Zirkel auf die Idee kommt, dass er nicht nur Tiamat unter seine Herrschaft bringen kann, sondern uns gleich mit. Ich befürchte, wir können ihre Möglichkeiten und ihren Einfluss gar nicht hoch genug einschätzen. Wenn sie herausfinden, dass durch das Tor nicht bloß Salz dringt …«

»Ich weiß.« Ich begann zu zittern, unfähig, mich der sich ausbreitenden Kälte zu erwehren.

Einen Augenblick lang glaubte ich, Jakob würde mich umarmen, wenigstens flüchtig, doch er sah mich nur an. Es hatte ganz den Anschein, als bräuchte es ernsthaftere Gefahren, damit er mir seine Zuneigung zeigte. Andererseits brachte ich es ja auch nicht fertig, die Hand nach ihm auszustrecken. Es stand einfach zu viel Unausgesprochenes zwischen uns.

Zu meiner Verwunderung stellte ich fest, dass es bereits spät am Abend war, als ich das Kellergewölbe verließ.

Sander war demnach schon seit über zwölf Stunden fort.

Nach einiger Wartezeit und Miniverhören durch Wachtpersonal durfte ich mich endlich mit Lutz im Schlepptau auf mein Zimmer zurückziehen. Allerdings erst, nachdem mich Wächter in Schutzanzügen einer halben Leibesvisitation unterzogen und mich schließlich mit den Worten »Keine Veränderung vorhanden« freigegeben hatten. Noch bevor ich die Tür richtig verschlossen hatte, spuckte Lutz das Veränderdich auf den Bettvorleger und schaute mich auffordernd an.

»Fein gemacht«, lobte ich und tätschelte seinen breiten Kopf, während ich mir das sich windende Veränderdich schnappte. Offenbar hatte es niemand gewagt, das Maul unserer Bulldogge nach kontaminiertem Material abzusuchen. Auch Wächter erkannten allem Anschein nach, wann sie an ihre Grenzen stießen.

Zurück in seinem Marmeladenglas machte das Veränderdich einen bekümmerten Eindruck, doch damit konnte ich mich nun wirklich nicht beschäftigen. Nach einigem Nachdenken versteckte ich es in meiner Sockenschublade. Nachdem die Wächter meine Einrichtung bereits gründlich auf den Kopf gestellt hatten, sollte es dort in Sicherheit sein. Mit einem Anflug von Beklemmung blickte ich mich um. Nichts lag an seinem urtümlichen Platz, die Möbel waren verrückt und an einigen Stellen machte sogar die Stofftapete einen mitgenommen Eindruck, als habe man sie mehr als nur abgetastet. So mussten sich Menschen nach einer Hausdurchsuchung fühlen, ganz entfremdet im eigenen Reich. Bei mir schlich sich zusätzlich noch der paranoide Gedanke ein, ob bei der Durchsuchung vielleicht auch Wanzen oder Minikameras zurückgelassen worden waren. Hektisch begann ich, Lampenschirme und Vorhänge abzusuchen, während Lutz – aufgebracht durch mein Verhalten – jede Ecke beschnüffelte und dabei vor sich hin knurrte, ohne jedoch etwas Interessantes aufzustöbern.

Nach einer halben Stunde wilder Sucherei ließ ich mich aufs Bett fallen und holte mein Handy aus dem Nachtschrank. Zweifelsohne war jemand meine Anruflisten und Nachrichten durchgegangen, ein jemand, der es nicht einmal für nötig gehalten hatte, diese Schnüffelei zu verdecken. Warum auch? Filippa hatte sie ja ganz dreist angekündigt. Mein Vater wusste scheinbar ziemlich genau, warum er Filippa auf die Finger schauen wollte. Ich war heilfroh, kein Tagebuch zu führen, ansonsten wäre es bestimmt sofort beschlagnahmt worden.

Nervös scrollte ich die SMSs durch, die seit gestern Abend reingekommen waren. Einige der Nachrichten stammten von Mitschülern und von Becks, die sich nach meinem Wohlbefinden erkundigte und nachfragte, ob ich wisse, wo Tammo stecke. Sie hätten gemeinsam einen faulen Abend machen wollen, aber er sei nicht aufgetaucht. Die meisten SMS stammten jedoch von Laboe, die auf diese Weise dokumentiert hatte, wie sich die Nachricht über Sanders und meine Beziehung langsam setzte, während die Wirkung der Kekse verflog. Im Laufe des heutigen Schultages, den ich verpasst hatte, kamen Anspielungen herein, ob ich mich lieber daheim vergnügen würde, anstatt mich in Bio mit Genetik zu beschäftigen. Dann, am Nachmittag, kam die entscheidende Kurznachricht:

Wir haben Besuch.

Ich starrte diese letzte Nachricht an, während es in meinen Schläfen wild zu pochen begann.

Die Wächter sind bei Laboes Familie aufgeschlagen. Sie müssen irgendwie herausgefunden haben, dass ich bereits früher gegen die Besucher-Regel verstoßen habe und sie ebenfalls auf Himmelshoch gewesen ist. Nun horchen sie sie nach allen Regeln der Kunst aus und setzen sie zugleich unter Druck, damit sie niemandem jemals etwas davon berichtet, was sie gesehen hat.

Ich hatte meine beiden Freundinnen, sowohl Becks als auch Laboe, an die Wächter ausgeliefert, wurde mir schlagartig klar. Ich hätte sie niemals auch nur in die Nähe von Himmelshoch kommen lassen dürfen. Und Tammo? Ich musste ihn umgehend kontaktieren. Nur wie? Die Wächter waren gewiss meine Kontaktliste durchgegangen, in der auch Tammos Nummer stand. Bei dem ganzen Technikequipment, das die nach Himmelshoch gebracht hatten, stand für mich fest, dass sie nicht nur mein Handy überwachten, sondern auch Tammos zu orten imstande waren.

Während ich noch das Display anstarrte, als könne es mir die dringend benötigte Antwort geben, fing es in meinen vier Wänden an zu rappeln. Genauer gesagt, rappelte es in der Kommode, und zwar so heftig, dass die Schublade herauszufallen drohte. Offenbar war mein Zimmer nicht verwanzt, denn spätestens jetzt hätte eigentlich eine Brigade Wächter hereinstürzen müssen, um nach dem Rechten zu sehen. So war es nur Lutz, der aufgeregt herumhopste.

»Aus dem Weg«, scheuchte ich meinen Hund beiseite.

Gerade noch rechtzeitig fing ich die Lade auf, nur um sie sogleich fallen zu lassen, weil das Veränderdich zum Befreiungssprung ansetzte. Ich schnappte es mir aus der Luft und brauchte beide Hände, damit es sich beruhigte. Was es nicht tat. Stattdessen schmolz es zwischen meinen Fingern hindurch und tropfte auf den Boden, wo es eine Pfütze bildete.

»Zurück, Lutz. Nicht dran lecken!«

Doch das hatte der kluge Hund gar nicht vor, er wollte lediglich einen guten Blick auf die schimmernde bläuliche Lache haben. Ich kniete mich neben ihn und erschrak leicht, als sich der Umriss eines Gesichts abzeichnete und nach und nach auch Augen, Mund und ein Wust von Haaren deutlich wurden.

Laboe! Das Veränderdich zeigte mir Laboe!

Sie gestikulierte wild, und es sah so aus, als würde sie dabei direkt auf mich zeigen, winken und breit grinsen. Dann wechselte die Richtung und zeigte mir eine freundlich nickende Grandmama, die einen Handspiegel anhob und seinen Winkel korrigierte, bis er Tammos Gesicht zeigte. Ein erschöpftes und bekümmert aussehendes Gesicht.

Tammo war also bei den Laboes untergeschlüpft! Mir fiel ein Stein vom Herzen. Dann hielt ich meinen hochgestreckten Daumen vor das Veränderdich, um zu signalisieren, dass er das einzig Richtige getan hatte. Nirgendwo auf der Welt konnte er gerade besser aufgehoben sein als bei Grandmama, verriet mir mein Bauchgefühl.

Tammo lächelte mir zu und ich lächelte zurück.

Mit den Fingerspitzen rollte ich das Veränderdich auf, formte es zu einer Kugel und gab sie Lutz, der sie gleich ins Maul nahm.

»Pass schön darauf auf, du braver Hund«, sagte ich zu ihm. »Das kleine Etwas darf auf keinen Fall die Aufmerksamkeit der Wächter erregen. Wir nehmen es mit ins Kellergewölbe zu Tiamat, das Kraftfeld kann ihm nichts anhaben. Wenn du das schaffst, bade ich dich als Belohnung in Leberwurst und Stinkepansen. Versprochen.«

Lutz’ Blick war so verständig, wie es nur einem blitzgescheiten Hund gelingen kann, und ich wusste, ich hatte eine Sorge weniger. Nun musste nur noch Sander zurückkehren, dann würde sich alles zum Guten wenden.

TIAMAT – Liebe zwischen den Welten
titlepage.xhtml
cover.html
Heitmann_TIAMAT_ePUB-1.html
Heitmann_TIAMAT_ePUB-2.html
Heitmann_TIAMAT_ePUB-3.html
Heitmann_TIAMAT_ePUB-4.html
Heitmann_TIAMAT_ePUB-5.html
Heitmann_TIAMAT_ePUB-6.html
Heitmann_TIAMAT_ePUB-7.html
Heitmann_TIAMAT_ePUB-8.html
Heitmann_TIAMAT_ePUB-9.html
Heitmann_TIAMAT_ePUB-10.html
Heitmann_TIAMAT_ePUB-11.html
Heitmann_TIAMAT_ePUB-12.html
Heitmann_TIAMAT_ePUB-13.html
Heitmann_TIAMAT_ePUB-14.html
Heitmann_TIAMAT_ePUB-15.html
Heitmann_TIAMAT_ePUB-16.html
Heitmann_TIAMAT_ePUB-17.html
Heitmann_TIAMAT_ePUB-18.html
Heitmann_TIAMAT_ePUB-19.html
Heitmann_TIAMAT_ePUB-20.html
Heitmann_TIAMAT_ePUB-21.html
Heitmann_TIAMAT_ePUB-22.html
Heitmann_TIAMAT_ePUB-23.html
Heitmann_TIAMAT_ePUB-24.html
Heitmann_TIAMAT_ePUB-25.html
Heitmann_TIAMAT_ePUB-26.html
Heitmann_TIAMAT_ePUB-27.html
Heitmann_TIAMAT_ePUB-28.html
Heitmann_TIAMAT_ePUB-29.html
Heitmann_TIAMAT_ePUB-30.html
Heitmann_TIAMAT_ePUB-31.html
Heitmann_TIAMAT_ePUB-32.html
Heitmann_TIAMAT_ePUB-33.html
Heitmann_TIAMAT_ePUB-34.html
Heitmann_TIAMAT_ePUB-35.html
Heitmann_TIAMAT_ePUB-36.html
Heitmann_TIAMAT_ePUB-37.html
Heitmann_TIAMAT_ePUB-38.html
Heitmann_TIAMAT_ePUB-39.html
Heitmann_TIAMAT_ePUB-40.html
Heitmann_TIAMAT_ePUB-41.html
Heitmann_TIAMAT_ePUB-42.html
Heitmann_TIAMAT_ePUB-43.html
Heitmann_TIAMAT_ePUB-44.html
Heitmann_TIAMAT_ePUB-45.html
Heitmann_TIAMAT_ePUB-46.html
Heitmann_TIAMAT_ePUB-47.html
Heitmann_TIAMAT_ePUB-48.html
Heitmann_TIAMAT_ePUB-49.html
Heitmann_TIAMAT_ePUB-50.html
Heitmann_TIAMAT_ePUB-51.html
Heitmann_TIAMAT_ePUB-52.html