EPILOG

»Wie fühlen Sie sich?«, fragte der Krankenpfleger. »Brauchen Sie noch was gegen die Schmerzen?«

»Es geht schon«, antwortete Hawkins verbissen. Sie zuckte zusammen, als er die neuen Verletzungen anschaute, sie aufforderte, den linken Arm zu heben und still zu halten. Wegen ihres Sturzes aus dem Bett konnte sie der Liste ihrer Blessuren den schon vorhandenen Stichwunden nun noch zwei gebrochene Rippen hinzufügen. Immerhin hatte die Betäubung der Anästhesie, die noch nachwirkte, verhindert, dass die Schmerzen sofort spürbar waren.

Sie habe Glück gehabt, behauptete er, weil ihre frisch genähten Wunden an der Brust nicht aufgeplatzt waren. Vielleicht hätte sie ihm recht gegeben, wären da nicht diese brennenden Schmerzen in ihrem Brustkorb gewesen.

Sie ließ ihn gewähren und lenkte sich von der Untersuchung ab, indem sie ihre neue, wesentlich lebhaftere Umgebung begutachtete. Sie war in eine normale Abteilung verlegt worden, anscheinend kurz nachdem sie mit einigen Schüssen dafür gesorgt hatte, dass John Barclay niemandem mehr Schaden zufügen konnte.

Hawkins hatte darum gebeten, sich selbst davon überzeugen zu dürfen, aber der freundliche Arzt hatte ihr versichert, er könne durchaus beurteilen, ob jemand wirklich tot war. Abgesehen davon war Barclays Leiche aus dem Krankenhaus transportiert worden, noch bevor Hawkins aus ihrem zwölfstündigen Erschöpfungsschlaf aufwachte.

»Hallo, Chefin.« Mikes Stimme zauberte zum ersten Mal seit zwei Wochen ein echtes Lächeln auf ihr Gesicht. Dann rollte ihr Stellvertreter langsam in ihr Sichtfeld. »Und wie geht’s unserer Heldin heute?«

»Ganz gut, danke. Du hast dich aber auch nicht schlecht gehalten. Was ist mit dir?«

»Wenigstens werde ich nicht frühmorgens von meinem Wecker aufgeschreckt.« Mike warf der Krankenschwester, die ihn hereingeschoben hatte, einen Blick zu. »Keine Panik wegen des Rollstuhls. Mir geht’s prächtig.«

Die Krankenschwester parkte ihn direkt neben dem Bett und lächelte Hawkins zu. Offensichtlich hatte sie Mike dazu überreden können, wenigstens so lange den Rollstuhl zu benutzen, bis die Nachwirkungen des Taser-Angriffs abgeklungen waren. Er hatte keine schwerwiegenden Verletzungen davongetragen, also war es wahrscheinlich gar nicht nötig. Aber Mike hatte sich schon immer gern von hübschen Mädchen herumkommandieren lassen.

In Wahrheit waren sie nur am Leben, weil Barclays Geisteszustand schon sehr gestört gewesen war. Sie, weil er sich bei ihrer letzten Begegnung zu leicht hatte ablenken lassen, und Mike, weil der Taser nicht seine volle Wirkungskraft entfalten konnte. Da Elektroschockpistolen dafür vorgesehen waren, nur kurze Stromstöße abzugeben, erschöpfte sich die elektrische Ladung schnell, wenn man einen Taser manipulierte, um länger anhaltende Schockwellen auszusenden. Und genau das hatte Barclay zuvor bereits sechsmal getan.

Mikes scherzhafte Bemerkung hatte ihr deutlich gemacht, dass ihre Freundschaft noch immer intakt war. Sie hatten vor sechs Stunden schon einmal kurz miteinander gesprochen, als Hawkins nach dem Drama am frühen Morgen zum ersten Mal aufgewacht war.

Mike hatte ihr erzählt, wie er die Ereignisse der vergangenen Nacht erlebt hatte. Er berichtete, wie er die von ihrem Handy abgeschickte SMS erhalten hatte und wie er daraufhin im Auto quer durch London gejagt war; wie er sie auf dem Boden ihrer Küche in einer Blutlache halb tot vorgefunden hatte.

Glücklicherweise hatte Barclay nicht versucht, sie sofort zu töten, was ja der irrwitzigen Logik entsprach, die ihn zu seinen Handlungen trieb. Sein Ziel war offenbar gewesen, sie ausbluten zu lassen, indem er ihr Schnittwunden um die lebenswichtigen Organe herum zufügte. Dadurch wollte er seinem Opfer genug Zeit geben, die Taten, die zu dieser Bestrafung geführt hatten, zu bereuen. Das hatte im Grunde auch gut funktioniert, bis auf die Tatsache, dass sie noch rechtzeitig gefunden worden war.

Dass Mike den Notarztwagen alarmiert hatte, während er zu ihrer Wohnung gerast war, hatte ihr das Leben gerettet. Die Ärzte stellten fest, dass die Wunden ihr erst ungefähr zwanzig Minuten vor ihrer Ankunft beigebracht worden waren. Diesem Umstand verdankte sie ihr Leben.

Doch trotz des rechtzeitigen Eingreifens hatte es an einem seidenen Faden gehangen. Ihr rechter Lungenflügel war verletzt und eine Vene in der Nähe des Herzmuskels durchstochen worden. Allen Unkenrufen zum Trotz war sie jedoch ziemlich schnell wieder zu Kräften gekommen und würde die Sache ohne Langzeitschäden überstehen.

Die vergangenen Stunden, erzählte Mike, waren für ihn die Hölle gewesen. Er hatte schwere Gewissensbisse gehabt, weil er der Ansicht war, er sei daran schuld gewesen, dass sie sich in einer so angreifbaren Position befunden hatte. Nemesis hatte sie nur deshalb allein angetroffen, weil er sich nicht um sie gekümmert hatte. Er war so erpicht darauf gewesen, einen Fahndungserfolg zu erzielen, dass er eine der am meisten gefährdeten Personen ungeschützt sich selbst überlassen hatte.

Und ausgerechnet Barclay hatte dafür gesorgt, dass sie wieder aufgewacht war. Die Ärzte meinten, dass ihr Körper nach der Trennung von der Beatmungsmaschine dazu gezwungen wurde, die lebenswichtigen Funktionen wieder selbst auszuführen. Wäre sie weiter angeschlossen gewesen, hätte sie ins Koma fallen können, und dann wäre sie sehr lange und mit ungewissem Ausgang auf die lebenserhaltenden Maßnahmen angewiesen gewesen. Eine so rabiat durchgeführte Wiederbelebung war mit Risiken verbunden und wäre deshalb von den Ärzten niemals in die Wege geleitet worden.

Glücklicherweise hatte sich Barclay nicht um ethische Zweifel geschert und musste auch nicht auf irgendwelche Regeln der medizinischen Zunft Rücksicht nehmen. Er hatte diese Entscheidung einfach getroffen.

Mikes Bewusstsein war allerdings noch immer leicht getrübt. Was das betraf, war sie ihm ein Stück voraus. In seinem Kopf fielen immer wieder Gedanken und Erinnerungsfetzen durcheinander. Aber ihm wurde jetzt klar, dass Barclay nie die Absicht gehabt hatte, das Team der Ermittler, also seine Kollegen, ins Visier zu nehmen. Der Tod von Connor war nur ein Unfall gewesen, eine leidige Notwendigkeit, um sein Inkognito zu schützen. Barclays eigenes Verschwinden war zwar tatsächlich von Nemesis bewirkt worden, doch auf ganz andere Art als angenommen. Hawkins allerdings war von Anfang an sein Ziel gewesen.

Immerhin wussten sie jetzt, warum Eddie gezögert hatte, als er an der Hintertür von Summer Eastons Haus plötzlich dem Killer gegenüberstand.

Er hatte nicht damit gerechnet, den Mörder zu kennen.

Mike hatte bereits mit Lawrence Kirby-Jones und Tristan Vaughn gesprochen. Sie waren beide froh, dass der Adventkiller endlich gestoppt war. Weniger begeistert waren sie darüber, dass sie nun vor der Öffentlichkeit zugeben mussten, der gefährliche Serienkiller sei ein Beamter der Metropolitan Police gewesen.

Der Krankenpfleger beendete seine Untersuchung und trat zurück. »Ich denke, Sie kommen wieder ganz in Ordnung. Aber Sie brauchen noch sehr viel Ruhe.«

»Super.« Sie schaute zu ihm hoch. »Kann ich dann jetzt gehen?«

»Das wohl nicht.«

Sie drehte sich zu Mike. »So wie es aussieht, muss ich noch eine Weile hier liegen.«

»Ich bleib in der Nähe«, sagte er lächelnd. »Was hältst du davon, wenn wir diesen Polizeikram in die Tonne treten und uns einen richtigen Job suchen?«

»Nach alledem?« Sie bemerkte, wie er ihr ironisch zuzwinkerte. »Danke der Nachfrage, aber ich glaube, ich bleib noch eine Weile dabei.«

Der Adventkiller
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