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Während sie aßen, erzählte Hawkins von ihrem Treffen mit Charles Anderton; sie hatte entschieden, dass die von Kirby-Jones ausgegebenen Richtlinien bezüglich der Geheimhaltung nicht für jemanden wie Mike galten.
Maguire war ebenfalls der Ansicht, dass man dem Politiker entgegenkommen sollte. Selbst wenn Anderton irgendwie in den Fall verwickelt war, sollten sie ihn als Verbündeten sehen, jedenfalls so lange, bis überzeugende Beweise gegen ihn vorlagen.
Hawkins berichtete von Jessica Andertons beiden Exliebhabern und von den Fortschritten der Techniker, die sich ihren Laptop vorgenommen hatten. Sie waren inzwischen zu den Adressen diverser Chatrooms vorgedrungen, die Jessica regelmäßig besucht hatte.
Das Durchsuchen des PCs von Tess Underwood verlief weniger erfolgreich. Das altertümliche Gerät hatte in einer Ecke gestanden, seit die jüngste Tochter ausgezogen war, und war vollgestopft mit den Spuren jahrelanger Web-Aktivitäten der ganzen Familie. Um dies alles zu sortieren, würde das Technikerteam mindestens drei Tage zu tun haben.
Die Websites ausfindig zu machen, die Tess allein besucht hatte, selbst wenn es nur die der letzten drei Monate waren, stellte eine echte Herausforderung dar. Aber Barclay zufolge waren ihr Ehemann und ihre Freunde schon bei der Idee, sie könnte Chatrooms aufgesucht haben, derart verwundert, dass Hawkins das Thema Untreue erst gar nicht angesprochen hatte. Damit konnte man noch warten, bis es echte Beweise gab, die dieses unangenehme Gespräch auf die Tagesordnung setzten.
»Herrje«, sagte Mike, als sie fertig war. »Ein Psychopath des digitalen Zeitalters. Technologie für die Jäger und Technologie für den Mörder. Zumindest wäre damit klar, was wir als Nächstes unternehmen müssen.«
»Tatsächlich?«
»Oh, ich hatte ganz vergessen, dass du eine Höllenangst vor Computern hast.« Mike grinste sie an. »Ich will nur hoffen, dass unser Killer nicht Bill Gates höchstpersönlich ist.«
»Ach, meinst du?« Hawkins sah zu, wie er das Einweggeschirr auskratzte. »Aber das hat mich nicht davon abgehalten, deine Chefin zu werden, stimmt’s?«
Mike stöhnte auf und ging in die Küche. Er stieß einen bewundernden Pfiff aus, als er sah, dass dort seit seinem letzten Besuch renoviert worden war. »Alles klar, Chefin, ich werd dir das alles ganz langsam und freundlich verklickern. Aber zuerst sag mir, wo der Kaffee steht.«
»Im mittleren Schrank auf der linken Seite.« Hawkins ließ sich aufs Sofa zurückfallen. »Ich nehme Tee.«
»Tee?« Er machte ihren Akzent nach. »Was findet ihr Briten bloß an diesem Zeug? Ihr dreht durch, wenn er nicht die perfekte Farbe hat, aber es macht euch nichts aus, wenn er in einem Fingerhut serviert wird und ihr auch noch für den Nachschub bezahlen müsst.«
»Soll ich dir etwa erklären, was es mit der Verfeinerung der Sitten auf sich hat?«, gab sie zurück. »Aber ob das der Bürger eines Landes versteht, wo man es nicht schafft, gleichzeitig zu lenken und die Gangschaltung zu betätigen, und wo man Häuser noch aus Holz baut?«
»Verfeinerung der Sitten.« Er drückte auf den Einschaltknopf des Wasserkessels. »Nimmst du immer noch drei Stück Zucker?«
Ein paar Minuten später reichte er ihr einen Becher und setzte sich wieder in den Sessel. »Du bist also der Ansicht, dass der Mörder seine Opfer im Internet findet?«
»Ja.«
»Hast du mal einen Chatroom besucht?«
Hawkins warf ihm einen herablassenden Blick zu.
»Anscheinend nicht.« Mike rieb sich die Schläfe. »Okay, diese Dinger funktionieren so ähnlich wie ein … digitales Maskenfest, und niemand fragt an der Tür nach der Einladungskarte. Also kann es vorkommen, dass ein hundertfünfzig Kilo schwerer Lastwagenfahrer, der es auf Minderjährige abgesehen hat, sich als Zwölfjährige ausgibt. Das ist das Paradies für Kinderschänder. Andererseits, was er kann, können wir natürlich auch.«
Sie nickte nachdenklich. »Um ihn in seinem eigenen Netz zu fangen.«
»Genau. Wir basteln uns passende Opferidentitäten und werfen sie als Köder aus. Dann treffen wir ein paar Verabredungen und warten ab, wer auftaucht. Das wäre doch einen Versuch wert, oder?«
»Könnte funktionieren«, stimmte Hawkins zu. »Aber damit können wir nicht an die Öffentlichkeit gehen. Es ist die einzige Spur, die wir haben. Wenn die Presse davon erfährt und es in den einschlägigen Blättern ausgewalzt wird, dann wird er sich eine andere Möglichkeit der Kontaktaufnahme suchen.«
»Ich kümmere mich drum.« Mike trank seinen Kaffee aus und zwinkerte ihr zu. »Hab ja keine Freundin, die mich abends von der Arbeit abhält.«
Eine Stunde später standen sie an der Haustür. Mike zog sich seinen langen Wollmantel über, und Hawkins gab ihm die Liste, die sie angefertigt hatten. Darauf waren die persönlichen Merkmale der vier fiktiven Frauen festgehalten, die sie als Köder benutzen wollten. »Das bleibt aber unter uns, vergiss das nicht.«
»Die Liste oder dass ich heute Abend hier war?«
»Beides natürlich, wenn du schon fragst.« Hawkins lächelte und merkte plötzlich, wie eng der Hausflur doch war, wenn zwei Personen nebeneinanderstanden.
»Ganz wie in alten Zeiten.«
»Ja«, sagte sie und suchte nach irgendwelchen Gründen, warum sie nicht zusammen sein sollten. »Danke für das Essen.«
»Gern geschehen.« Sein Lächeln war wie immer entwaffnend. Er öffnete die Tür.
Die kalte Winterluft drang herein. Das war jetzt mal wieder der Moment, wo sich die spannende Frage stellte: Sollen wir uns küssen? Mikes Lächeln verschwand. Wie konnte er bloß so ruhig bleiben, während ihr Magen sich beinahe umdrehte?
»Bis dann, Chefin.«
Einige Sekunden schauten sie einander in die Augen, dann drehte er sich um und ging zur Straße.
Sie schloss die Tür, blieb im Flur stehen und wartete darauf, dass Mike dort draußen seinen Wagen startete. Aber es war nichts zu hören. Hatte er zu weit entfernt geparkt, oder saß er jetzt unschlüssig hinterm Steuer und überlegte, ob er zurückkommen sollte? Wäre es vielleicht angebracht, hinter ihm herzulaufen? Es gab eigentlich keinen triftigen Grund, es nicht zu tun. Aber trotzdem hielt irgendwas sie zurück.
Sie wandte sich um und trottete zurück ins Zimmer.
»Also«, fragte sie laut. »Bett oder Brandy?«
Sie entschied sich fürs Bett. Kaum hatte sie das Licht gelöscht, klingelte das Telefon. Ihr Herz klopfte, während sie durchs Schlafzimmer stolperte und nach dem Hörer griff. »Hallo?«
Stille.
»Hallo?«, wiederholte sie. Vielleicht war es einfach eine schlechte Leitung.
Immer noch nichts.
Hawkins begriff erst jetzt, was hier vor sich ging. Sie hätte gleich nach dem Namen fragen sollen.
»Paul, bist du das?«, fragte sie, obwohl sie wusste, dass keine Antwort kommen würde. Solche Schweigeanrufe hatten früher lautstarke Streitereien am Telefon abgelöst. »Hör bitte auf, mich anzurufen, Paul, das nervt jetzt langsam.«
Sie trennte die Verbindung und zog den Stecker aus der Buchse in der Wand. Dann stand sie in der Dunkelheit und war jetzt völlig durcheinander.
Schließlich legte sie den Hörer wieder auf und verzog das Gesicht, als das seelenlose Piepen sie darauf hinwies, dass der Akku geladen wurde. Sie zog den Vorhang auf. Besser, sie schaute noch mal nach.
Glücklicherweise stand Paul nicht unten im Garten.
Mike aber leider auch nicht.