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Bürger von London.
Die Metropolitan Police ist nicht aufrichtig zu euch. Sie enthält euch Informationen vor.
Ihr alle wisst, dass kürzlich Glenis Ward, Tess Underwood und Jessica Anderton ums Leben kamen. Aber ihr wisst nicht, warum sie sterben mussten.
Ihre Tode waren demonstrative Akte der Tugend in einer Gesellschaft, die moralisch verkommen ist. Wie viele ihnen noch folgen werden, hängt ganz von euch ab.
Alle unbescholtenen und rechtschaffenen Menschen haben nichts von mir zu befürchten. Aber jene, welche tief in ihrem Innern die ethischen Gesetze missachten, verdienen den Tod als abschreckende Beispiele für die restliche Menschheit.
Ich bin kein Feigling. Die Aufrechten unter euch werden verstehen, warum ich mein Gesicht erst dann zeigen kann, wenn ich sicher bin, dass meine Botschaft gehört, verstanden und umgesetzt wurde. Deshalb wird es eine neue Demonstration geben. An diesem Sonntag wird wieder eine Person sterben.
Bis dahin bin ich jemand, der euch im Zug gegenübersitzt oder seinen Hund im Park spazieren führt. Denkt an mich jedes Mal, wenn ihr einen Fremden auf der Straße anschaut.
Ich bin überall.
Nemesis
Das dumpfe Geräusch und helle Klicken draußen vor der Tür registrierte Antonia Hawkins kaum. Sie saß regungslos vor dem Bildschirm, auf dem eine Vergrößerung der zweiten Botschaft des Killers aufgerufen war. Erst als sie den Geruch des Automatenkaffees wahrnahm, schaute sie auf.
Seit gestern Abend kannte sie beide Botschaften von Nemesis auswendig.
»Mit einer Extraportion Zucker.« Mike stellte den Pappbecher ab. »Wie geht’s deinen Kopfschmerzen?«
»Danke der Nachfrage. Ganz ausgezeichnet.«
»Was man vom Kaffee nicht gerade sagen kann.« Mike nahm einen Schluck und setzte sich hin. »Ich kann auch einen guten Schuss Koffein brauchen.«
Sie hörte auf, sich den Nacken zu massieren, und schaute ihn an. Bis jetzt hatte sie es nicht bemerkt, aber auch er sah erschöpft aus. Natürlich, sie war ja nicht die Einzige, die unter immensem Druck stand. Kirby-Jones hatte gleich am Morgen allen die Leviten gelesen.
Die Medien hatten sich endlich wieder anderen Meldungen zugewandt, da hatte die groß aufgemachte Nachricht in der Mail ihre Begeisterung für den Adventkiller neu entfacht. Die neugierigen Reporter hatten sich trotz des Wetters wieder unten vor dem Hauptgebäude von Scotland Yard versammelt, und es waren mehr als je zuvor. Inzwischen belagerten sie sogar das Becke House.
In der Nacht hatte es begonnen zu schneien, und auch tagsüber fiel die ganze Zeit Schnee. Normalerweise drehten die Medien durch, wenn es Anzeichen für eine »weiße Weihnacht« gab, aber diesmal interessierten sich alle nur für das eine Thema.
Auch die Öffentlichkeit nahm die Botschaften von Nemesis sehr ernst. Zahllose Anrufe gingen bei der Polizei ein, meist über die Notrufnummer. Die Tatsache, dass Weihnachten vor der Tür stand, wenn die meisten Leute zu Hause waren und die Fernseher eingeschaltet hatten, war die perfekte Ausgangssituation für eine stetig anwachsende allgemeine Paranoia.
Bislang hatten sich 745 Frauen gemeldet, die einen verdächtigen Mann in ihrer Nachbarschaft beobachtet hatten. 268 glaubten, jemand hätte sie bis nach Hause verfolgt, und eine fürchtete, die Geschicklichkeit, mit der ihr Schwiegersohn mit der Heckenschere umging, sei ein Grund zur Besorgnis.
Panik war gar kein Ausdruck.
Wenigstens hatte Danny Burns zugestimmt, ihnen alle weiteren Nachrichten des Killers zukommen zu lassen. Allerdings konnte er sich nicht verkneifen, im Gegenzug die Exklusivrechte an den Bildern des nächsten Tatorts zu fordern. Davon rückte er wieder ab, nachdem Hawkins ihm angedroht hatte, ihn wegen Erpressung zu verklagen. Trotzdem war sie nicht so naiv zu glauben, dass er sich zurückhielte, wenn es zu dem nächsten Mord kam. Falls es dazu kam, ermahnte sie sich, nicht wenn.
Danny hatte allerdings recht gehabt, was die Ermittlung des Absenders der E-Mail betraf. Hawkins hatte sich einem Crashkurs zu diesem Thema unterzogen. Nachdem sie den E-Mail-Provider angesprochen hatten, stellte sich natürlich heraus, dass der Absender sich nicht mit Namen registriert hatte. Überraschender war da schon, dass die Techniker nicht in der Lage gewesen waren, eine IP-Adresse zu finden. Das bedeutete, dass Nemesis entweder über eine sehr moderne Verschlüsselungssoftware verfügte oder ein altertümliches Modem benutzte.
Beides sagte Hawkins nicht sehr viel, machte ihr aber klar, dass sie mal wieder in einer Sackgasse gelandet waren.
Kirby-Jones verlangte, dass der Mörder gefasst wurde, bevor es ein weiteres Opfer gäbe. Das war ja schön und gut, aber heute war bereits Samstag – Heiligabend, der Tag vor dem ersten Weihnachtstag, wie sie grimmig zur Kenntnis nahm. Das bedeutete, dass sie und ihr Team weniger als vierundzwanzig Stunden Zeit hatten, um den Adventkiller ausfindig zu machen, bevor er sich erneut in den Schlagzeilen des ganzen Landes zu Wort meldete.
Also musste eine Krisensitzung anberaumt werden.
Hawkins hatte die wichtigsten Beamten zusammengerufen, um die Lage zu diskutieren. In kleiner Runde ging das besser als im Durcheinander einer Vollversammlung der gesamten Einsatzgruppe.
Hunter war dazugekommen und hatte seine Erkenntnisse eingebracht. Nachdem er beide Botschaften vorgelesen hatte, hatte er sein Notizbuch zugeschlagen und verkündet, dass es sich bei Nemesis um einen »sendungsbewussten Mörder« handelte.
Anschließend hatte Hunter erklärt, dass ein Mensch durchaus in der Lage sei, eine ganze Reihe brutalster Bluttaten zu verüben, ohne die geringsten Schuldgefühle zu empfinden, wenn er davon überzeugt war, absolut im Recht zu sein.
Die E-Mails von Nemesis machten deutlich, dass es ihm bei seinen schrecklichen Morden darum ging, andere zu belehren; die Gesellschaft sollte seine Ansichten übernehmen und danach leben. Die Dauer seines Feldzugs hing davon ab, wie lange die erwünschten Resultate auf sich warten ließen. Gegenwehr würde nur zu weiteren Attacken führen, wenn die Gesellschaft sich ihm aber unterwarf, konnte es sein, dass er aufhörte oder sich sogar stellte.
Doch sogar Hunter hatte zugeben müssen, dass diese Möglichkeit eher unrealistisch war.
Der Profiler hatte mehrmals vorgeschlagen, dass sie den Mörder über die Medien direkt ansprachen, und zwar auf eine ähnliche Art, wie man dies in Entführungsfällen tat. Wenn der Kommunikationskanal erst mal etabliert war, konnte man auf Nemesis einwirken und ihm vielleicht sogar suggerieren, dass sein Kreuzzug erfolgreich war.
Dieser Plan zog aber nicht in Betracht, dass der nächste Mord praktisch vor der Tür stand. Hawkins hatte den Profiler daran erinnert, dass Rom nicht an einem Tag erbaut wurde und es mehr als vierundzwanzig Stunden dauerte, in den Medien ein Desinformations-Szenario mit einem Serienkiller aufzuziehen.
Sie hatte auch laut darüber nachgedacht, dass der Mörder vielleicht ein Zeichen setzen wollte, das etwas mit der Adventszeit zu tun hatte – so sahen es auch die Zeitungen. Womöglich würde der nächste Mord sogar sein letzter sein. Zumindest für dieses Jahr. Falls das der Fall war, hätten sie nur noch eine Möglichkeit, ihn zu fassen.
Was die Frage betraf, wie Nemesis seine Opfer aussuchte, hatte Hunter die Vermutung geäußert, dass der Mörder angesichts seines selbsterklärten Kriegs gegen die Unmoral wahrscheinlich Opfer aussuchte, die auf irgendeine Weise ihre ethischen Verpflichtungen verletzt hatten. Allerdings konnten für einen derart verwirrten Kopf schon so schlichte Vergehen wie das Anrempeln eines Fußgängers ohne nachfolgende Entschuldigung relevant sein. Jedenfalls gab es keine Hinweise, die helfen konnten, das nächste Opfer zu identifizieren.
Um sich vorhersagen zu lassen, wen Nemesis sich als Nächstes aussuchen würde, konnten sie genauso gut die Telefonauskunft anrufen.
Hawkins hatte vor fünfzehn Minuten eine Kaffeepause angeordnet, weil nach dreistündiger Diskussion die Nerven allmählich bloß lagen. Keiner von ihnen konnte begreifen, dass sie nach zwei Wochen, drei Morden und zwei direkten Statements des Täters noch keinen blassen Schimmer hatten, wo sie suchen mussten. Dementsprechend waren auch kaum Vorschläge zur Ergreifung des Täters gemacht worden.
Sie stand auf und spähte durch die Jalousie. Das Fenster war mit schlaff herunterhängendem rotem Glitzerkram dekoriert. Im Nebenzimmer hatte sich ihr Team wieder zusammengefunden. Connor und Barclay hatten sich offenbar nichts mehr zum Fall Nemesis zu sagen: Der junge Kollege deutete neugierig auf Connors Glock 17; der ältere Kollege weigerte sich jedoch standhaft, ihm die Waffe zu geben, und behielt sie im Halfter. Ein Stück weiter entfernt stand Todd regungslos und, ohne es zu bemerken, direkt unter einem Mistelzweig, den jemand unter die Decke gehängt hatte. Yasir lehnte am Türpfosten und las die Notizen durch, die sie sich während der Besprechung gemacht hatte.
An einem anderen Tisch beendete Brian Norton gerade ein Telefonat. Als Leiter der Telefonzentrale war er eigentlich bei Scotland Yard stationiert, aber er hatte sich trotz Arbeitsüberlastung die Zeit genommen, ihnen ins Becke House zu folgen. Er sah aus, als hätte jedes seiner dreiundvierzig Lebensjahre ihm besonders zugesetzt, aß gerne Kuchen, hatte eine Aversion gegen Sport und einen entsprechenden Körperumfang. Mit seinen ungekämmten Haaren und der Angewohnheit, dasselbe Hemd drei Tage hintereinander zu tragen, war er perfekt geeignet für unangenehme Verhörsituationen.
Jetzt stemmte er sich aus seinem Stuhl, kam auf sie zu und blieb in der Tür stehen. »Entschuldigen Sie bitte, aber das war Barry. Er hält die Stellung in der Zentrale im Yard. Es kommen noch immer jede Menge Anrufe rein, aber er meint, so langsam wird es albern. Ich würde gern wieder hin, wenn das in Ordnung geht.«
Sie nickte. »Kein Problem. Ich halte Sie auf dem Laufenden. Viel Glück.«
Brian Norton schnaubte abfällig und machte hinter sich die Tür zu.
Hawkins sah durchs Fenster, wie er Richtung Aufzüge davonstapfte, und drehte sich resigniert zu Mike um.
Er trank seinen Kaffee aus. »Soll ich die anderen wieder hereinrufen?«
»Ich denke, ja.«
Er schob die Tür auf. »Runde zwei, Leute.«
Die Kollegen standen auf und trotteten herein. Yasir zuerst, dann Todd. Yasir lächelte, Todd verzog missgelaunt das Gesicht – der gebeutelte ältere Beamte aus Nordengland und die exotische Prinzessin. Hawkins sah zu, wie sie ihre Plätze einnahmen. Sie wunderte sich noch immer über die effektive Zusammenarbeit der zwei. Hinter ihnen kamen Barclay und Connor. Letzterer trug eine geöffnete Dose mit Schokolade bei sich. Sie setzten sich Todd und Yasir gegenüber.
Hawkins wartete, bis die Schokoladendose einmal herumgegangen war und alle zur Ruhe kamen, bevor sie loslegte.
»Okay, ich möchte nicht noch mal dasselbe herunterbeten wie vorhin, deshalb nur kurz die Frage: Hat inzwischen jemand einen bahnbrechenden Vorschlag, wie wir heute Abend vorgehen sollen?«
Leere Mienen.
»Also gut.« Sie warf Mike einen Blick zu. »Dann ziehen wir Plan A durch: Wir benutzen die Öffentlichkeit als Radar, achten auf alle Anrufe, die über Brians Hotline reinkommen, und versuchen, so vielen Hinweisen wie möglich direkt nachzugehen, indem wir Bereitschaftsteams losschicken. Die Teams werden aus allen diensthabenden Beamten plus denen, die Überstunden schieben, gebildet und mit Schusswaffen ausgestattet. Ihr vier«, sie schaute Todd, Yasir, Connor und Barclay an, »werdet die Bereitschaftsteams draußen unterstützen, während Mike und ich im Yard bleiben, wo wir die Meldungen direkt aus der Einsatzzentrale bekommen und die Teams per Funk koordinieren. Wenn wir auf Draht sind, haben wir vielleicht Glück. Irgendwelche Fragen?«
Todd meldete sich sofort. »Wir müssen aber verdammt viel Glück haben, um den richtigen Anruf zu erwischen. Es werden sich garantiert Tausende von Arschlöchern melden, und die meisten werden Unsinn labern.«
Hawkins ignorierte seine Ausdrucksweise. »Ja, Frank, davon gehe ich auch aus. Aber das kann auch ein Vorteil sein: je mehr anrufen, desto besser. Wenn wir die Schwerpunkte richtig setzen, werden sich die ernst gemeinten Hinweise von ganz allein herausschälen.«
»Von ganz allein herausschälen?«, wiederholte Todd. »So drücken sich Manager aus, wenn sie in der Scheiße rühren.« Er lachte, wahrscheinlich um seine harsche Kritik etwas abzumildern.
Hawkins war froh, dass niemand einstimmte.
Yasir kam ihr zu Hilfe. »Hunter hält die Idee für gut und ich auch. Wenn wir zweihundert Beamte in Teams von je drei Personen aufteilen, dann sind diese sechsundsechzig Teams in der Lage, zweihundertsechzig Anrufe pro Stunde zu bearbeiten. Jedenfalls wenn wir mal davon ausgehen, dass pro Anruf durchschnittlich fünfzehn Minuten veranschlagt werden. Um Mitternacht, wenn der statistisch größte Ansturm zu erwarten ist, haben wir dann immerhin über fünfhundert Möglichkeiten, Nemesis auf die Spur zu kommen.«
»Okay, Amala«, meldete Barclay sich zu Wort. »Aber was ist, wenn die Reaktionszeit dreißig Minuten beträgt und es zwanzigtausend Anrufe gibt? Nach Adam Riese könnten wir uns dann nur mit zwei Prozent der möglichen Spuren ernsthaft befassen.«
Connor gab ihm einen Stoß in die Rippen. »Echt, jetzt? Also ich spiele jede Woche Lotto, und diesen Mittwoch hab ich zehn Pfund gewonnen. Ich bin für den Plan der Chefin.«
Mike sprang ihm zur Seite. »Fünfhundert Möglichkeiten sind besser als keine, oder?«
Einen Moment lang herrschte Schweigen.
»Also gut.« Hawkins stand auf. »Das Abstimmungsergebnis ist eindeutig. Jetzt gehen erst mal alle nach Hause und ruhen sich aus. Aber bitte pünktlich um neun zur Einsatzbesprechung im Scotland Yard sein! Ich weiß, dass heute Heiligabend ist, aber wir sind hier, um Menschenleben zu retten, das ist nun mal unser Job.« Sie verschränkte die Arme, um zu signalisieren, dass das Thema beendet war. Aber dann wollte sie ihre Kollegen doch nicht mit so einem harschen Statement ziehen lassen. »Auf geht’s, Leute.« Sie schaute von einem zum anderen. »Wir müssen diesen Kerl kriegen. Und wenn ihr euer Weihnachtsessen verpasst, lad ich euch später zu einem ein, okay?«
Nachdenkliches Nicken. Eddie und Amala standen auf, während die anderen zwei sitzen blieben. Frank atmete schwer, was bedeutete, dass er den Streitpunkt gern noch weiter erörtern würde, aber auch er hatte erkannt, dass die Entscheidung längst gefallen war. John wirkte gedankenverloren.
»Freut euch, Jungs.« Connor warf Barclay einen Schokoriegel zu. Der junge Mann schreckte zusammen. »Ihr habt eine Doppelschicht. Geht nach Hause und holt euch einen runter. Es wird eine lange Nacht.«
John grinste vor sich hin und wickelte die Schokolade aus.
Schließlich standen alle auf. Keiner sagte etwas, und alle bis auf Maguire und Hawkins verließen den Raum. Sie war froh, dass John und Frank, die Gegner ihres Plans, in verschiedene Richtungen verschwanden.
Sie starrte auf die beiden Resopaltische in der Mitte des Raums. Auf beiden lagen aktuelle Ausgaben der Daily Mail mit der heutigen Schlagzeile NEUES VOM ADVENTKILLER: »MEHR VON EUCH WERDEN STERBEN«.
Die Mail hatte bereits ein Logo entworfen, das die Artikel zum Thema kennzeichnete: Es erinnerte an blutrünstige Horrorfilm-Plakate aus den siebziger Jahren. Sie schob das Blatt, das vor ihr lag, beiseite und schaute durch den Raum zu Mike, der sich gerade ins Computerprogramm einloggte.
»Das ist ja super gelaufen.«
»Na ja.« Er drehte sich um. »Immerhin ist Frank noch auf deiner Seite. Er hat sich ja regelrecht eingeschleimt bei dir.«
»Benimm dich, ja?« Sie wickelte einen Schoko-Taler aus und warf ihm einen tadelnden Blick zu. »Nutz deine überschüssige Energie lieber für die Arbeit und sag mir mal, ob du mit der Chatroom-Sache weitergekommen bist.«
»Bin gerade dabei.« Er deutete auf den Bildschirm. »Noch kein Volltreffer, aber diese Chatroom-Typen geben schon heftige Sachen von sich. Schau dir das mal an.«
Hawkins trat neben ihn vor den Bildschirm. In den Foren wurde eifrig über Nemesis diskutiert. Beunruhigend war, dass viele ihn großartig fanden.
»Hast du gehört, dass die Buchmacher Wetten anbieten, wann wir den Kerl gefasst haben?« Mike verdeckte mit der Hand die blinkende Anzeige eines Wettbüros. »Na ja, du willst bestimmt nicht wissen, wie unsere Chancen für heute Nacht eingeschätzt werden.«
»Was hab ich denn da nicht mitbekommen?«, rief Hawkins irritiert aus. »Ist Mord jetzt in die Unterhaltungsbranche abgewandert?«
»He«, Mike fasste sie am Arm. »Du musst das so sehen – solchen Stars wie dem Adventkiller verdanken wir unsere Jobs. Wenn wir ihn nicht bald finden, fordere ich einfach eine Autogrammkarte mit Foto bei seinem Fanklub an.«
Hawkins beruhigte sich wieder. »Entschuldige. Seit wann nehme ich das alles denn so ernst?«
»Pass bloß auf, sonst denken die Leute noch, du hättest Gefühle.«
»Ja.« Sie schauten sich an. »Danke.«
Hawkins blickte als Erste weg und tat so als hätte etwas auf dem Bildschirm ihre Aufmerksamkeit erregt. Sie sprach weiter: »Hast du inzwischen eine Wohnung gefunden?«
»Ja, dank der Kommunikation über das gute alte Schwarze Brett. Ich bin bei Johnston aus der Verkehrsabteilung untergekommen.«
»Na, mit Eric wirst du dich sicher blendend verstehen.« Während sie das sagte, fielen ihr die Kisten in ihrem Hausflur wieder ein. Sie musste unbedingt Paul anrufen, damit er sie abholte. Es würde bestimmt ein grauenhaftes Gespräch werden.
Überstunden hatten immerhin den Vorteil, dass sie nicht allein in ihrer Wohnung hocken und irgendwelche sentimentalen Weihnachtssendungen im Fernsehen anschauen musste, bis irgendwann wieder das Telefon klingelte und Paul ihr tränenerstickt Vorhaltungen machte oder, schlimmer noch, einfach nur schwieg. Es waren solche Tage mit Sonderschichten gewesen, bei denen sie und Mike sich nähergekommen waren. Und nun saßen sie wieder hier. Nur gab es diesmal keinen Grund für sie, sich schuldig zu fühlen.
Sie bemerkte, dass ihre Hand auf seiner Schulter liegen geblieben war, nachdem sie sich beim Vorbeugen abgestützt hatte, um besser auf den Bildschirm schauen zu können. Hastig nahm sie sie wieder fort. »Musst du nicht zu deiner Pressekonferenz?«
Mike warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Herrje! Ist es schon so spät?« Er stand auf und zog sein Jackett von der Stuhllehne. »Danach fahr ich direkt zum Yard. Wir können uns dort treffen.«
»Halt dich bedeckt«, rief sie ihm nach, als er den Raum verließ.
»Muss ich nicht«, rief er zurück. »Die lassen mich in Ruhe.«
Da hatte er recht. Die vielen fragenden Blicke der Kollegen beinhalteten alle die gleiche Frage: Wie dicht seid ihr wirklich dran, diesen Killer festzunageln? Aber mehr als Blicke waren es nicht.
Alle wollten es wissen, aber keiner traute sich zu fragen.
Es war schon alarmierend, wie viele Beamte inzwischen von anderen Fällen abgezogen worden waren: Einhundertfünfzig Polizisten aus dem ganzen Land waren zusätzlich im Einsatz. Wer sich für den Fall interessierte, wurde sofort genommen, aber die wenigsten hatten Lust, solche Alptraum-Fälle zu bearbeiten. Insgeheim war Hawkins über jede Entlastung heilfroh.
Sie ließ sich auf einen Stuhl fallen, ihr war schwindelig. War es Hunger oder die Angst vor dem, was kommen würde? Sie sah zu, wie der Sekundenzeiger der Wanduhr einmal ums Zifferblatt kreiste. Der Moment kam immer näher. Sie hatten noch nichts in der Hand, und in weniger als dreizehn Stunden sollte das nächste Kapitel in diesem grausigen Spiel aufgeschlagen werden.
Sie schaltete den Computer aus, als gerade die Werbezeile für die neuesten Nachrichten von SkyTV aufgeleuchtet war.
Sie schüttelte den Kopf.
Douglas Donald hatte die Big-Brother-Promi-Show gewonnen.