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Er ließ Swanny’s Losbude hinter sich und tauchte ein in die Dunkelheit, ging unter in der Menge der Schaulustigen, in deren Gewühl er sich schon den ganzen Nachmittag versteckte. Vielleicht waren sie ja allesamt mit dem Bus hergekommen. Sie schienen gar nicht zusammenzupassen, und er wunderte sich, dass sie es so lange miteinander aushielten.

Er warf einen Blick zurück und sah, wie Swanny ihnen nachblickte. Der Schausteller war mindestens sechzig, aber er hatte aufgepasst wie ein Fuchs, als eins der Kinder versucht hatte zu mogeln.

Genauso vorsichtig, wie er sich beim Taxifahrer verhalten hatte, benahm er sich nun hier, denn er wollte nicht riskieren, dass Swanny oder einer seiner raubeinigen Kumpane auf ihn aufmerksam wurde, weil er sich länger als üblich auf dem Gelände aufhielt und sich nicht beteiligte.

Die Gruppe, der er sich angeschlossen hatte, blieb vor dem großen Zelt stehen, um einer der farbenfrohen Darbietungen zuzusehen, die gerade auf der Hauptbühne begann. Er fand einen Platz, von dem aus er ein ganz bestimmtes Zelt am östlichen Rand des Geländes im Blick hatte.

Die Zelte waren für seine Zwecke günstig angeordnet. Nachdem er den Stand mit dem über dem Eingang angebrachten bunten Schild »Psychic Summer« ausfindig gemacht hatte, konnte er die ganze Zeit über beobachten, was sie tat. Nicht dass es da viel zu beobachten gab. Easton kam nur drei Mal aus dem Zelt. Einmal, um anschließend im Wohnwagen zu verschwinden, der dahinterstand, und zweimal, um für einige Minuten auf die mobile Toilette zu gehen. Im Moment deutete eine kleine Schlange vor ihrem Zelteingang darauf hin, dass sie sich drinnen befand.

Er schaute auf seine Armbanduhr. Es war bald acht. Seit drei Stunden war es dunkel, aber er war noch nicht bereit zu gehen.

Sein eigentliches Ziel war gewesen, Summer Easton zu finden, aber nun wollte er wissen, was passierte, wenn der Zirkus seine Pforten schloss.

Wo würde sie die Nacht verbringen? Und war sie dort allein? Wenn er die Antworten auf diese beiden Fragen gefunden hatte, konnte er ihren Tod bis ins letzte Detail planen. Aber die Old Glad Soul’s Roadshow machte nicht vor elf Uhr abends Schluss, so stand es auf den Schildern.

Also musste er warten.

Er schlenderte zu einem Hamburger-Stand und bestellte etwas zu essen. Aus dem Augenwinkel beobachtete er währenddessen, wie ein Kunde Eastons Zelt verließ und der nächste eintrat. Er ging weiter und lehnte sich gegen einen alten Lastwagen. Hier war es so dunkel, dass niemand ihn sehen konnte. Er aß und beobachtete, was um ihn herum geschah.

Der Jahrmarkt lag vor ihm, ein großes Gelände ohne Zäune, mit zahlreichen Fluchtwegen, dunklen Ecken und zufälligen Menschenansammlungen. Ein feiner Sprühregen fiel und verursachte breite schillernde Lichtkreise um die großen bunten Lampen herum, deren Lichtschein sich grell von dem schwarzen Himmel abhob. Der beißende Geruch der Dieselgeneratoren hing in der Luft, und aus den von ihnen angetriebenen Musikanlagen dröhnten Bässe, die laut genug waren, das Scheppern der Lautsprecher zu übertönen.

Neben dem Eingang hieß die lebensgroße Figur von Old Glad Soul, dem Namenspatron des Zirkuses, die ankommenden Besucher mit erhobenen Armen willkommen. Nur Nemesis registrierte seine Anwesenheit in der dunklen Nacht. Überall kreischten Leute, waren ständig wechselnde Ansammlungen begeisterter Gesichter zu sehen, die sich wenig voneinander unterschieden und sich auch kaum gegenseitig wahrnahmen. Sie waren wie all die anderen, ahnten nichts von der Gefahr, amüsierten sich unbekümmert, bis Nemesis vor ihnen stand, um sie zu töten.

Zwei Teenies näherten sich kichernd. Eins der Mädchen hatte sich seine Jacke ausgezogen und benutzte sie als provisorischen Schirm gegen den Schnee, in den sich der Regen inzwischen verwandelt hatte.

»Entschuldigung«, sagte die eine, als sie vorbeihasteten. Er versuchte erst gar nicht, sein Gesicht zu verdecken. Individualität zählte nicht an diesem Ort.

Genau deshalb waren Städte wie London oder Brighton perfekt für seine Zwecke. Wer schaute schon zweimal hin, wenn er einem Fremden in der Großstadt begegnete? Oder auf einem Rummelplatz wie diesem hier, wo es normal war, dass schräge Typen sich unter die normalen Bürger mischten?

Hier auf der Old Glad Soul’s Roadshow gab es allerdings, im Gegensatz zu den Straßen der modernen Metropolen, nicht an jeder Ecke eine Überwachungskamera.

Er aß zu Ende und ging hinüber zu dem großen Zelt. Auf der Bühne stand ein kräftiger Kerl, der sich als Weihnachtsmann verkleidet hatte und riesige Wurfringe über Freiwillige aus dem Publikum warf. Musik dröhnte. Die Zuschauer klatschten Beifall.

Für den normalen Besucher sah er genauso aus wie alle anderen Schaulustigen, aber er dachte bereits an das, was morgen geschehen sollte.

Wie üblich wollte er nichts dem Zufall überlassen. Der Zug von der Victoria Station nach Brighton brauchte genau zweiundfünfzig Minuten. Um vom Bahnhof mit dem Taxi und zu Fuß bis hierherzukommen, benötigte er weitere achtzehn Minuten. Er würde auf dem Rummelplatz um 21:30 Uhr eintreffen, dreieinhalb Stunden, bevor Summer Easton sterben würde. Das gab ihm genug Zeit, um sein Ziel genau zu lokalisieren, eventuelle zusätzliche Sicherheitsvorkehrungen für das Wochenende auszukundschaften und sich eine Fluchtstrategie zurechtzulegen.

Und um ein Uhr nachts, wenn alle Polizeibeamten im Südwesten Englands in London nach ihm suchten, würde er hier in Brighton sein und sein neuestes Opfer strafen. Anschließend, noch bevor irgendjemand seine zuckenden Überreste gefunden hätte, wäre er längst über alle Berge.

Aber nun tat Summer Easton etwas völlig Unerwartetes.

Sie trat aus ihrem Zelt, sprach eine Weile mit den Menschen, die sich davor angestellt hatten, und schickte sie freundlich weg. Dann drehte sie das Schild über ihrem Zelt um, so dass das Wort »geschlossen« darauf zu lesen war, und verschwand in ihrem Wohnwagen. Ein Licht ging an, und man sah, wie sich ihr Schatten hinter den Vorhängen hin und her bewegte.

Zehn Minuten später stieg sie aus dem Wohnwagen. Sie trug einen Wintermantel und hatte eine Reisetasche bei sich.

Er machte einige Schritte in ihre Richtung, bevor er merkte, dass er dabei war, sich zu verraten. Aber die Menschen um ihn herum hatten nur Augen für die verschiedenen Darbietungen, keiner achtete auf ihn. Er ging an den Zuschauern vorbei, hielt sich am Rand, bemüht, sein Opfer nicht aus dem Blick zu verlieren.

Easton blieb kurz stehen, um sich mit einem anderen Schausteller zu unterhalten, doch dann ging sie auf den Ausgang zu. Sie mischte sich unter die vielen Menschen, die das Areal verließen, und schaute ab und zu in den Himmel, von dem immer dichtere Schneeflocken herabfielen. Dann überquerte sie das freie Feld und ging auf die Stadt zu.

Nemesis gab acht, dass sie ihn nicht bemerkte, und folgte ihr gespannt.

Der Adventkiller
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