24

Er beobachtete das Haus aus sicherer Entfernung, während die Lichter auf dem Weg ins Schlafzimmer hintereinander ein- und ausgeschaltet wurden. Kurz darauf verlosch auch die letzte Lampe.

Er wartete weitere zehn Minuten, bevor er mit gesenktem Kopf aus dem Schatten trat. Er musste auf dem Laufenden bleiben, was die Schachzüge seiner Gegner betraf, aber die Überwachung der Polizei wurde immer schwerer, je mehr Zeit verstrich. Jeden Tag schienen mehr Beamte für den Fall abgestellt zu werden, was natürlich nur darauf hinwies, wie verzweifelt sie waren. Jedes neu hinzugekommene Gesicht wirkte unbedarfter und schien weniger erfreut darüber, sich diesem Fall widmen zu müssen.

Er erreichte das Ende der Straße und ging nach links Richtung U-Bahn-Station. Von dort aus würde er in ungefähr vierzig Minuten zu Hause sein. Jetzt, wo die talentiertesten Beamten der Metropolitan Police Feierabend gemacht hatten, konnte auch er sich eine Ruhepause gönnen. Es war ein langer Tag gewesen, und irgendwann in den nächsten achtundvierzig Stunden würde seine Erregung wieder ansteigen.

Die Fassade des Bahnhofsgebäudes war aus dem gleichen düsteren Backstein, der die halbe Stadt verunzierte. Er kaufte sich eine Fahrkarte am Automaten und ging nach unten zum Bahnsteig. Er war leer, aber nur auf den ersten Blick.

Eine Frau trat aus dem Schatten des Sitzbereichs und kam auf ihn zu. Sie sah aus, als hätte sie schon eine ganze Weile hier gewartet.

Aber das stimmte nicht ganz. So nachlässig, wie sie auf ihn zuschlenderte, war sie keineswegs gelangweilt, sondern auf der Suche nach Kundschaft. Eine Hure.

»Hallo, Darling«, sagte sie. »Hast du eine Ahnung, wann der nächste Zug fährt?«

Er schüttelte den Kopf.

»Ich auch nicht. Die beschissene Anzeige ist schon seit Jahren kaputt.« Sie kam näher. »Ganz schön kalt heute Abend.«

»Hm-hm.«

Sie trat zurück und musterte ihn. »Du bist ja nicht sehr gesprächig. Es heißt immer, vor den Schweigsamen soll man sich hüten.«

Sie lachte.

Sie kam wieder näher. Ihr schwarzer Minirock war ziemlich abgeschabt, und ihre Strumpfhose war an den Knien schon fadenscheinig. Ihm wurde übel.

»Wie heißt du denn?«

Er antwortete nicht. Sein Blick fixierte ihre Hände. Sie war bestimmt nicht älter als dreißig, aber die Hände sahen aus wie die einer Rentnerin. Die Haut war ledern und schlaff, er konnte die Delle sehen, die ein kürzlich abgezogener Ring verursacht hatte. Ein Ehering.

Hass brandete in ihm auf. Er hätte ihr am liebsten mit bloßen Händen die Kehle aufgerissen. Die Gesellschaft wäre ihm bestimmt dankbar dafür, wenn sie ehrlich wäre. Diese Schlampe war doch ein wandelndes Laboratorium für alle nur denkbaren Geschlechtskrankheiten.

»Komm schon, Darling, ich bin nicht teuer. Aber gut in Schuss, wenn du verstehst, was ich meine.« Sie stellte sich in Positur und versuchte, Blickkontakt aufzunehmen.

Er schaute sich auf dem Bahnsteig um. Sie wurden garantiert von einer Überwachungskamera beobachtet. Er konnte so tun, als würde er auf ihr Angebot eingehen, und sie irgendwohin mitnehmen. Aber auf so etwas war er nicht vorbereitet. Er würde garantiert Spuren hinterlassen und damit die Chancen der Polizei erhöhen, seine Identität zu lüften. Wenn ihre Leiche gefunden wurde, würden die Bullen garantiert die Aufnahmen sämtlicher Überwachungskameras der Umgebung kontrollieren. Das Risiko war viel zu groß.

»Was ist denn los mit dir?«, fragte sie. »Bist du schwul, oder was?«

Er drehte sich um und ging Richtung Treppe.

»Verdammter Spinner«, rief sie hinter ihm her. Aber als er die dunkle Ecke erreicht hatte, lächelte er vor sich hin. Er konnte weggehen.

Er hatte sich immer noch im Griff.

Der Adventkiller
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