41

Er starrte zur Küchentür.

Ohne dass er es wollte, hob sich seine Hand und griff nach dem Riegel.

Sein Mund war trocken, und er zuckte zusammen, als der schwergängige Mechanismus ein schabendes Geräusch von sich gab. Das Geräusch musste eigentlich jeden auf der anderen Seite alarmieren, aber er machte weiter, bis die Tür aufschnappte.

Die Launen seiner Mutter waren nur schwer einzuschätzen, aber falls sie in der Küche war, würde ein Blick genügen, und er wusste, welche Reaktion ihn erwartete. Jetzt ging es nicht mehr allein darum, etwas zu trinken, jetzt machte er sich Sorgen um sie.

Das würde sie doch sicherlich verstehen.

Er schluckte und drückte die Tür auf. Sie öffnete sich ein Stück, und er konnte einen Teil der Küche überblicken. Das Licht war aus, aber es fiel genug Mondlicht durch die breiten Fenster, dass er etwas erkennen konnte. Die Tür schwang weiter auf, und er sah die Kommode, dann die Stühle und den Tisch. Kein Anzeichen von seiner Mutter. Die Tür zum Hof, der Schrank, der Herd. Der Ausguss kam in sein Blickfeld und das Regal mit den Tellern und Tassen. Sonst nichts.

Er war verwirrt und horchte, aber das Geräusch der Türangeln übertönte alles andere. Mit klopfendem Herzen trat er in die Küche.

Ein leiser, dumpfer Schlag durchbrach die Stille. Er fuhr herum und bemerkte, dass die Tür gegen etwas gestoßen war.

Dann flüsterte jemand seinen Namen.

Er fasste nach der Tür und schob sie zu.

Seine Mutter lag zusammengesunken in der Nische dahinter. Ihr langes rotes Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden. Auf den ersten Blick schien alles mit ihr in Ordnung zu sein. Aber als er sich an die Dunkelheit in der schattigen Ecke gewöhnt hatte, bemerkte er, dass ihr Make-up verschmiert war und ihre Augen glänzten. Und als sie zu ihm aufschaute, wurde ihr Blick unstet. Auf dem Boden lagen drei Flaschen. Alle leer, eine zerschlagen. Der Kachelboden war mit Scherben übersät.

Sie sagte immer wieder seinen Namen, als wollte sie ihn aufwecken. Sie klang eher müde als wütend, aber er schaffte es nicht, ihr zu antworten.

Er hatte sie schon oft schlafend angetroffen, auf irgendeinem Möbelstück liegend oder dagegengelehnt. Aber diesmal war etwas anders an der Stellung ihrer Gliedmaßen und der Art, wie sie den Kopf neigte.

Dann bemerkte er die Prellungen und die dunkelroten Furchen an ihren Oberarmen. Tiefrote Schnitte, immer vier nebeneinander. Sie bluteten.

»Bitte … Liebling«, flüsterte sie. »Komm her.«

Seine Knie wurden schwach, als er auf sie zutrat. Seine Wangen waren plötzlich feucht. Aber als sie die Hand nach ihm ausstreckte, bemerkte er die gezackten Einschnitte an ihren Handgelenken. Blut quoll aus der zerfetzten Haut, und er sah Fleischstücke aus der Wunde ragen.

Er merkte kaum, dass er zu schreien versuchte, während er zurückprallte. Er tastete nach der Sitzbank, fand aber keinen Halt, glitt die Schranktür hinunter zu Boden und machte sich ganz klein.

Dann bemerkte er den großen Blutfleck, der sich unter ihrem anderen Arm auf ihrem Nachthemd ausgebreitet hatte, und das Küchenmesser auf dem Boden neben ihr. Er starrte sie aus tränenverschleierten Augen an. Sein Atem ging schnell und unregelmäßig.

Zitternd saß er da und beobachtete seine Mutter. Ihr Kopf war nach hinten gegen die Wand gesackt, aber sie atmete noch.

Mit Mühe gelang es ihm, etwas zu sagen: »Mum … was hast du gemacht?«

Eine Sekunde lang reagierte sie nicht, aber dann wandte sie sich ihm zu.

»Komm … her.«

Diesmal war es keine Bitte.

Er stand langsam auf. »Warum hast du dich denn … geschnitten?«

»Hab ich nicht«, sagte sie schroff.

Das Sprechen schien ihr wehzutun. Sie schloss die Augen. Aber als sie sie wieder öffnete, war ihr Gesichtsausdruck sanfter.

»Tut mir leid, mein Junge«, nuschelte sie. »Ich wollte dich nicht … beunruhigen … ich verspreche dir … bin nicht böse … auf dich.«

Er hockte sich neben sie. Ihre Gesichter waren jetzt auf gleicher Höhe.

»Ich bin ja hier«, flüsterte er.

»Das ist … jetzt.« Ihre Stimme war brüchig. »… Du musst … gut zuhören … wichtig.«

Ihre Hand bewegte sich, stieß gegen sein Knie. Sie schob sie hinter seinen Rücken und hinterließ blutige Schlieren auf seinem T-Shirt. Am liebsten wäre er weggelaufen.

»Tut mir leid, dass ich … dir wehgetan habe. Weiß auch nicht, was ich … manchmal tue.«

»Das ist schon okay. Dir geht’s bald wieder besser.«

»Glaub das … nicht.« Sie machte ein Geräusch, das beinahe wie ein Lachen klang und in einem keuchenden Husten endete.

»Ich hab Angst, Mum. Warum hast du das gemacht?«

»Ich hab doch gesagt, Liebling, … ich … war’s nicht. Dein Vater … ist … das gewesen.«

»Was?«

»Hör zu, Liebling … ich möchte, dass du gleich … die Polizei anrufst. Sag ihnen … dein Vater hat das getan, und dann … ist er weg. Sag ihnen …«

»Dad hat dir das angetan?«

»Hat er … er hat … er hat’s schon mal gemacht. Schon oft … aber … noch nie so schlimm.«

»Warum denn?«

»Hör zu … sag ihnen, dass er es … schon mal gemacht hat. Sie glauben dir … vielleicht nicht, aber … das will er ja. Versprich mir, dass du mir glaubst … bitte?«

»Ja, tu ich.«

Ihr Arm rutschte seinen Rücken hinab. Er griff nach ihrer Hand und hielt sie fest.

»Sie wollen … dir vielleicht einreden, ich hätte das getan.« Ihre Stimme war kaum noch vernehmbar. »Dein Vater … hat es gut eingefädelt. Aber du … wirst nie vergessen … dass er es war, stimmt’s?«

»Nein.« Er umklammerte ihre Hand, während die Tränen über sein Gesicht liefen. »Ich vergesse es nicht.«

Der Atem seiner Mutter ging langsamer, aber sie schien jetzt ruhiger zu werden. Er sah sich in der Küche nach etwas um, mit dem er sie verbinden konnte. Aber dann wurde ihm plötzlich klar, dass sein Vater womöglich noch im Haus war, und er nahm stattdessen das Messer. Er würde sie beide verteidigen, wenn es sein musste.

»Mum?« Er berührte ihre Schulter. »Was ist, wenn Dad kommt?«

»Keine Sorge.« Diesmal blieben ihre Augen geschlossen. »Er ist … längst weg. Ruf einfach … die Polizei. Sie stecken ihn … ins Gefängnis … wenn er zurückkommt.« Ihr Kopf fiel nach hinten gegen die Wand, und sie stöhnte auf.

Er wartete und sah dabei ihr Gesicht im Halbdunkel an. Sie hatte aufgehört zu atmen.

Und draußen im Flur gab die alte Standuhr ein schabendes Geräusch von sich, bevor sie einmal schlug.

»Mum?« Er zerrte an ihr, heftig atmend. »Mum?«

Aber sie antwortete nicht.

Er ließ ihre Hand los und rannte zum Telefon. Er wählte die Notrufnummer und gab ihre Adresse durch und was passiert war.

Dann rannte er hinaus und fuhr mit dem Fahrrad zu der verlassenen Mühle am Fluss, wo er manchmal spielte. Er versteckte das Messer in einer alten Schachtel, die er im nahe gelegenen Wald vergrub. Damit konnte er seinen Vater abwehren, falls er zurückkehrte. Anschließend rannte er zurück ins Haus und wartete bei seiner Mutter, bis der Krankenwagen kam.

Erst da spürte er den Schmerz von den Glasscherben, die seine Fußsohlen zerschnitten hatten.

Der Adventkiller
cover.html
978-3-641-14559-0.html
978-3-641-14559-0-1.html
978-3-641-14559-0-2.html
978-3-641-14559-0-3.html
978-3-641-14559-0-4.html
978-3-641-14559-0-5.html
978-3-641-14559-0-6.html
978-3-641-14559-0-7.html
978-3-641-14559-0-8.html
978-3-641-14559-0-9.html
978-3-641-14559-0-10.html
978-3-641-14559-0-11.html
978-3-641-14559-0-12.html
978-3-641-14559-0-13.html
978-3-641-14559-0-14.html
978-3-641-14559-0-15.html
978-3-641-14559-0-16.html
978-3-641-14559-0-17.html
978-3-641-14559-0-18.html
978-3-641-14559-0-19.html
978-3-641-14559-0-20.html
978-3-641-14559-0-21.html
978-3-641-14559-0-22.html
978-3-641-14559-0-23.html
978-3-641-14559-0-24.html
978-3-641-14559-0-25.html
978-3-641-14559-0-26.html
978-3-641-14559-0-27.html
978-3-641-14559-0-28.html
978-3-641-14559-0-29.html
978-3-641-14559-0-30.html
978-3-641-14559-0-31.html
978-3-641-14559-0-32.html
978-3-641-14559-0-33.html
978-3-641-14559-0-34.html
978-3-641-14559-0-35.html
978-3-641-14559-0-36.html
978-3-641-14559-0-37.html
978-3-641-14559-0-38.html
978-3-641-14559-0-39.html
978-3-641-14559-0-40.html
978-3-641-14559-0-41.html
978-3-641-14559-0-42.html
978-3-641-14559-0-43.html
978-3-641-14559-0-44.html
978-3-641-14559-0-45.html
978-3-641-14559-0-46.html
978-3-641-14559-0-47.html
978-3-641-14559-0-48.html
978-3-641-14559-0-49.html
978-3-641-14559-0-50.html
978-3-641-14559-0-51.html
978-3-641-14559-0-52.html
978-3-641-14559-0-53.html
978-3-641-14559-0-54.html
978-3-641-14559-0-55.html
978-3-641-14559-0-56.html
978-3-641-14559-0-57.html
978-3-641-14559-0-58.html
978-3-641-14559-0-59.html
978-3-641-14559-0-60.html
978-3-641-14559-0-61.html
978-3-641-14559-0-62.html
978-3-641-14559-0-63.html
978-3-641-14559-0-64.html
978-3-641-14559-0-65.html
978-3-641-14559-0-66.html
978-3-641-14559-0-67.html
978-3-641-14559-0-68.html
978-3-641-14559-0-69.html
978-3-641-14559-0-70.html
978-3-641-14559-0-71.html
978-3-641-14559-0-72.html
978-3-641-14559-0-73.html
978-3-641-14559-0-74.html
978-3-641-14559-0-75.html
978-3-641-14559-0-76.html
978-3-641-14559-0-77.html
978-3-641-14559-0-78.html
978-3-641-14559-0-79.html
978-3-641-14559-0-80.html
978-3-641-14559-0-81.html
978-3-641-14559-0-82.html
978-3-641-14559-0-83.html
978-3-641-14559-0-84.html
978-3-641-14559-0-85.html
978-3-641-14559-0-86.html
978-3-641-14559-0-87.html
978-3-641-14559-0-88.html
978-3-641-14559-0-89.html
978-3-641-14559-0-90.html
978-3-641-14559-0-91.html