4
Pritchards Aussage folgte ein langes Schweigen. Alle Umstehenden starrten auf Jessica Andertons misshandelten Körper.
In diesem Moment wurde der Pathologe von einem Kollegen der Spurensicherung gerufen, der auf allen vieren vor dem Marmorkamin hockte. Pritchard entschuldigte sich und ging zu ihm.
Hawkins nutzte die Gelegenheit, machte sich einige Notizen und bemerkte zufrieden, dass Connor und Barclay das Gleiche taten. Zumindest stützten Pritchards Aussagen die bisherige These, dass es eine Verbindung zwischen den ersten beiden Fällen gab.
Ganz oben auf die Seite schrieb sie in Großbuchstaben die Wörter SONNTAGMORGEN und TASER. Ihr Wissen bezüglich gerichtsmedizinischer Details war nicht sehr groß, aber sie konnte erkennen, ob ein Körper sich in Leichenstarre befand, die etwa drei Stunden nach Eintritt des Todes abklang. Auch wusste sie, dass die Vermehrung von Bakterien dazu führte, dass die Haut eines Toten sich nach drei Tagen grünlich verfärbte. Dieses Wissen genügte, um ihr einen ungefähren Eindruck zu verschaffen.
Ganz offensichtlich war Jessica etwa zur gleichen Uhrzeit wie die anderen ums Leben gekommen, um ein Uhr nachts. Genaueres würden sie natürlich erst nach der Obduktion wissen, aber alles deutete darauf hin, dass der Täter Wert darauf legte, die Morde um diese Zeit auszuführen. Also hatte der Zeitpunkt eine besondere Bedeutung für ihn. Und die Herkunft des Tasers konnte womöglich auch geklärt werden.
Anschließend fertigte sie eine Zeichnung des Zimmers an. Der Leiter des Spurensicherungsteams würde später eine genaue Beschreibung vom Tatort liefern, aber Hawkins hatte die Erfahrung gemacht, dass ihre eigenen eher groben Skizzen sich mitunter als nützlich erwiesen. Die schneeweißen akkuraten Ausdrucke der Forensiker hatten immer etwas Klinisches und Kaltes, man konnte darauf sehr schnell Kleinigkeiten übersehen, die in der Realität bedeutsam waren. Kleinigkeiten, die ihr noch in sechs Wochen womöglich auffielen, weil sie sie unterstrichen hatte.
Sie schaute zur Tür. Ein Mann, den sie nicht kannte, trat ein. Er sah irgendwie italienisch aus, war schon jenseits der vierzig, trug eine Nickelbrille und hatte einen dichten schwarzen Haarschopf, der größtenteils von einer Plastikhaube verdeckt wurde. Sie beobachtete, wie er mit behandschuhten Händen seinen Schutzanzug abtastete, auf der Suche nach Taschen, die er im Augenblick nicht erreichen konnte. Anschließend verschränkte er sie hinter dem Rücken.
Aber das war es nicht allein, was ihn in ihren Augen verdächtig machte. Sie fragte sich, ob er überhaupt dazugehörte.
Er trug nämlich auch kein Namensschild.
Sie ging zu ihm, platzierte sich zwischen ihn und die Leiche, um ihm den Blick zu verstellen, und fragte: »Wer sind Sie denn?«
Er kniff die Augen hinter den Brillengläsern zusammen. »Wer will das wissen?«
»Ich leite diese Ermittlung. Wie sind Sie überhaupt ohne Identifizierung hier hereingekommen?«
»Oh.« Er zog den Reißverschluss seines Schutzanzugs auf und griff hinein. »Meinen Sie das hier?« Er reichte ihr ein abgenutztes Plastikschild. »Die verflixte Nadel ist schon vor einiger Zeit abgegangen, aber die Kollegen von der Spurensicherung kennen mich, deshalb brauche ich das Ding gar nicht. Sie sind wahrscheinlich DCI Antonia Hawkins?«
Hawkins schaute sich das Namensschild an.
Sie hatte gerade Simon Hunter angepöbelt, einen der führenden Kriminologen der Metropolitan Police. Sie hatte ihn noch nie vorher getroffen, weil er nur bei besonderen Verbrechen hinzugezogen wurde.
Er war hier derjenige, der andere nach ihrem Namensschild fragen durfte.
»Oh.« Sie gab ihm das Plastikding zurück. »Entschuldigen Sie.«
»Das geht schon in Ordnung.« Hunter steckte das Schild wieder ein. »Sie haben ein Auge für Kleinigkeiten. Das kann uns bei dieser Art von Arbeit nur nützen.« Er streckte ihr die Hand hin. »Simon Hunter, ich bin Ihr Profiler.«
Sie gab ihm die Hand und stellte fest, dass er, trotz seiner rauen Stimme und der vielen Krähenfüße im Gesicht, die Ausstrahlung eines wesentlich jüngeren Mannes hatte.
Hunter betrat das Zimmer und schaute sich die hübsche, sehr erlesene und zur Jahreszeit passende Dekoration an, bevor er zur Seite trat, damit eine Gruppe von sechs Männern den riesigen Weihnachtsbaum in den Hausflur tragen konnte. Anschließend nahm er schweigend die Leiche in Augenschein.
Einige Sekunden später zuckten seine Augenbrauen, als hätte er gefunden, wonach er gesucht hatte.
»Also.« Er wandte sich an Hawkins. »Mit wem muss ich hier noch reden?«
Sie rief Connor und Barclay zu sich und stellte sie vor.
»Hunter«, stellte Connor fest. »Den Namen habe ich schon mal gehört. Sie waren doch dabei, als die Boom-Crew-Gang in Birmingham im letzten Jahr aufgeflogen ist, richtig?«
Hunter sagte ja, und sie unterhielten sich eine Weile über bestimmte Fälle und gemeinsame Bekannte bei der Polizei. Der Profiler war offenbar ziemlich herumgekommen.
Seine Funktion war innerhalb der Metropolitan Police durchaus umstritten, weil er ein ungewöhnlich hohes Honorar einstrich. Aber dass er ziemlich häufig ins Schwarze traf, war schon beeindruckend. Er trat bescheiden auf, aber Hawkins hatte schon von einigen hochkarätigen Fällen gehört, bei denen er eine entscheidende Rolle gespielt hatte.
»Ich habe die Akten zu den früheren Fällen gelesen«, sagte Hunter, nachdem er sich die Brille mit den Fingerspitzen zurechtgerückt hatte. »Der Tod von Mrs Anderton macht aus dieser Geschichte einen Serienkiller-Fall, was bedeutet, dass Sie sich nun auch noch mit mir herumschlagen müssen.«
»Ich bin für jede Hilfe dankbar«, sagte Hawkins und deutete mit dem Kopf auf die Leiche. »Was sagen Sie also zu unserem Verrückten?«
»Nun«, erwiderte Hunter und wurde jetzt lebhafter. »Mörder wie dieser hier sind sehr selten, aber von Zeit zu Zeit tauchen sie auf. Allen ist gemeinsam, dass sie sich in einer speziellen psychologischen Verfassung befinden. Oftmals wählen sie ihre Opfer ganz zufällig aus, aber es gibt immer ein bestimmtes Muster, man muss es nur erkennen. Die meisten haben eine bestimmte Obsession. Das kann alles Mögliche sein, angefangen bei religiösem Extremismus bis hin zu einer leibhaftigen psychischen Deformation wie zum Beispiel bei Hindley oder West. Dieser Täter hier hat noch nicht Flagge gezeigt, aber so wie es aussieht, geht er bei jedem neuen Mord mit wachsender Brutalität vor.«
»Und was sagt uns das?«, warf Connor ein.
»Ich nenne das ›Blutrauschsteigerung‹«, sagte Hunter sachlich. »Das ist nicht typisch für einen der üblichen Psychopathen, aber es kommt vor. Wenn Sie zum Beispiel die fünftgrößte Achterbahn der Welt befahren haben, dann wollen Sie wahrscheinlich nicht mehr die sechst- oder siebtschnellste benutzen, weil Sie dann enttäuscht wären. Um erneut Spannung zu empfinden, müssen Sie die viertgrößte benutzen, dann die drittgrößte und so weiter.« Das Licht spiegelte sich in Hunters Brillengläsern, als er von einem zum anderen schaute. »Das gleiche Prinzip kann auf einen Serienkiller zutreffen, und so wie es aussieht, passt es auf diesen hier. Beim ersten Mal hat er eine Frau in Todesangst versetzt und dann zugeschaut, wie sie ertrank. Er hat ihr nicht direkt das Leben genommen, er hat sich einfach in einem bestimmten Moment dazu entschlossen, sie nicht zu retten. Beim zweiten Mal wollte er schon direkteren Einfluss nehmen, also hat er selbst Hand angelegt. Zum großen Unglück seines dritten Opfers hat ihm das danach schon nicht mehr genügt. Wie abseitig und mitleidlos seine Taten auch erscheinen mögen, müssen wir doch zugestehen, dass ihn etwas eindeutig Menschliches antreibt. Wir alle brauchen ja ab und zu den großen Nervenkitzel.«
»Wirklich reizend.« Hawkins war nicht überzeugt. »Ich verstehe nur nicht, warum er jedes Mal die Art, wie er tötet, ändert. Warum geht er das Risiko einer neuen Tötungsmethode ein, wenn er einfach bei einer erfolgreichen bleiben könnte?«
Der Profiler schaute sie schräg an. »Haben Sie mal daran gedacht, dass er sich vielleicht einfach nur nicht langweilen möchte?«
»Was?«
»Ein Freund von mir ist Schauspieler«, sagte Hunter nachdenklich. »Er spielt am Theater. Jeden Abend geht er auf die Bühne und wiederholt den immer gleichen Auftritt. Aber jeden Abend fällt ihm etwas ein, das er ändern kann, nur eine winzige Kleinigkeit. Und diese Kleinigkeit bewahrt ihn davor, verrückt zu werden. Das Ergebnis ist immer das Gleiche, aber einige komplizierte Details sind einmalig. Ich weiß, dass unser Mörder hier ein extremes Beispiel ist, aber ich glaube, der Vergleich passt.«
»Na gut.« Hawkins dachte über seine Antwort nach. »Aber was mich erstaunt, ist die Präzision, mit der er zu Werke geht. Wieso macht er sich die Mühe, jemandem das Herz herauszuschneiden? Wieso benutzt er einen Taser? Warum nimmt er sich so viel Zeit? Das hat doch sicherlich alles eine Bedeutung.«
Hunter zuckte mit den Schultern. »Sicher hat das alles eine Bedeutung, ganz bestimmt. Aber dafür müssen Sie sich in die Gedankengänge einer solchen Person versetzen. Was jemand für wichtig hält, ist seine ganz persönliche Angelegenheit. Das herauszufinden ist so schwierig, wie den Glauben an etwas Übernatürliches zu analysieren. Eine krankhafte Obsession kann jemanden dazu bringen, das Licht mehrmals hintereinander ein- und auszuschalten, wenn er ein Zimmer verlässt. Aber die Angst, die ihn zu dieser Handlung treibt, ist ganz allein seine Sache. Ich bezweifle nicht, dass er das alles tut, weil es für ihn einen Sinn ergibt, aber eine solche Erklärung muss uns nicht unbedingt verständlich erscheinen. Vielleicht hat er um ein Uhr nachts seine Jungfräulichkeit verloren, oder er hat zu diesem Zeitpunkt zu Gott gefunden.«
»Was wollen Sie jetzt damit sagen – dass wir uns nicht mit den Details herumschlagen sollen?«
»Im Gegenteil. Ich will damit nur klarmachen, dass wir einen Ansatzpunkt finden müssen, einen soliden Hinweis auf den Menschen hinter den Taten. Etwas Substanzielles. Wenn wir den haben, können wir loslegen. Bevor wir über diese Information verfügen, stochern wir nur im Nebel.«
Hawkins warf den anderen einen Blick zu. Sie merkte, dass sie den Eindruck vermittelt hatte, sie wolle den Experten angreifen.
Deshalb entschied sie sich für die Flucht nach vorn. »Wie kriegen wir den Mistkerl also zu fassen?«
»Schauen Sie sich um.« Hunter deutete mit der Hand durch das Zimmer. »Am Tatort sind keine Spuren zu finden. So etwas geschieht nicht zufällig. Außerdem scheint jeder Mord genauestens geplant zu sein und wurde ebenso akribisch exekutiert – wenn Sie mir diese Formulierung erlauben. Das bedeutet, dass wir es hier mit einem sehr intelligenten Menschen zu tun haben, der die Umgebung genau kennt. Er fühlt sich am Tatort wohl und sicher. Ich würde also die Ermittlungen auf London beschränken, jedenfalls im Augenblick. Dass es keine augenfällige Verbindung zwischen den Opfern gibt, muss nicht bedeuten, dass es keine gibt. Nur wenige Menschen töten ohne einen wirklich guten Grund, egal, wie weit ihre Motive von der Realität entfernt zu sein scheinen. Mein Rat wäre also, dass Sie alles daransetzen, diesen Grund zu finden. Dann haben Sie bessere Möglichkeiten, ihn dingfest zu machen.«
»Was verstehen Sie denn unter einem solchen Grund?«, hakte Connor nach.
»Sie müssen herausfinden, warum er dies tut«, erklärte Hunter. »Hat er seine Opfer zufällig ausgewählt – was keine Rolle spielt, außer dass es uns einen Hinweis liefern kann –, oder hat er womöglich eine Liste von Personen, die er umbringen will? Einfacher gesagt: Was ist sein Problem? Bevor Sie das nicht herausgefunden haben, werden Sie seine Gründe auch nicht verstehen.«
Connor starrte ihn an. »Und dann?«
»Dann werden wir mit ihm kommunizieren.«
»Kommunizieren«, wiederholte Connor witzelnd. »Wie denn? Suchen wir dann an den Opfern nach Aufklebern mit seiner Handynummer und einer Botschaft, die lautet: Hallo, wie fanden Sie meine Morde?«
Hunter lachte gezwungen. »Natürlich nicht. Auch wenn sein Name nicht im Telefonbuch steht, garantiere ich Ihnen, dass er die Fernsehnachrichten sieht. Ich denke nicht, dass unser Freund mit seinen Morden schon am Ende ist. Wenn er also die Freiheit haben möchte weiterzumachen, dann muss er sich vor euch Kriminalbeamten in Acht nehmen. Seine wichtigste Informationsquelle sind natürlich die Medien, und damit haben Sie, Detective Connor, einen offenen Kommunikationskanal.«
»Okay«, schaltete Hawkins sich ein. Sie versuchte, ihre Erleichterung zu verbergen, weil Connor ihr mit seiner Frage zuvorgekommen war. »Nehmen wir mal an, Sie sind ein echtes Genie. Erklären Sie uns, warum er sich ausgerechnet diese Frauen ausgesucht hat. Selbst wenn es zufällige Opfer sind, muss er sie doch irgendwie auswählen. Und wie wäre es mit einer Vorhersage, was den nächsten Mord betrifft?«
Hunter ließ sich nicht provozieren. Er erwiderte ihren angriffslustigen Blick und sagte: »Ich bin hier, um darüber nachzudenken, wie Ihr Mörder denkt, nicht, was er denken könnte, oder vorherzusagen, was genau sein Benehmen in der Zukunft sein wird. Solche Details fallen in den Arbeitsbereich von euch Kriminalisten.«
Einige Sekunden lang herrschte unangenehmes Schweigen.
»Da haben Sie wohl recht«, sagte Hawkins schließlich, nachdem sie entschieden hatte, es sich nicht schon beim ersten Zusammentreffen mit ihrem Profiler zu verderben.
»So, da bin ich wieder«, sagte Pritchard entschuldigend und begrüßte Hunter mit einem respektvollen kollegialen Kopfnicken.
»Haben Sie was gefunden?«, fragte Hawkins den Mediziner.
»Leider nicht.« Er schaute unzufrieden auf die Kollegen von der Spurensicherung, die sich hinter dem Sofa zu schaffen machten. »Wir haben keine DNA oder Abdrücke oder Spuren bei den anderen Tatorten festgestellt, also gehen wir davon aus, dass hier auch nichts zu finden ist. Wir suchen natürlich trotzdem alles ab. Aber bislang haben wir kein genetisches Material gefunden, das irgendwo registriert wäre. Solange Sie uns nicht einen Verdächtigen liefern, ist der Nutzen des Materials sehr begrenzt.«
»Danke, dass Sie mich daran erinnern.« Hawkins war sich dessen nur zu bewusst. Mit den modernen Methoden der DNA-Analyse konnte man zwar eine Person mit einem Tatort in Verbindung bringen, selbst wenn lediglich eine mikroskopisch kleine Spur vorhanden war – aber natürlich ging das nur, wenn einem diese Person oder Material von ihr zur Verfügung stand.
Sie ließ ihren Blick durch das Wohnzimmer der Andertons schweifen. Wie üblich, hatte sich der Ort seit Ankunft der Spurensicherung dramatisch verändert. Jetzt sah es hier aus, als wäre das Team einer zweitklassigen TV-Renovierungs-Show eingefallen: Große Stücke Tapete waren von den Wänden gerissen, bestimmte Bereiche wurden von Plastikmarkierungen abgeteilt, und dünne weiße Eisenrohre ragten aus dem Holzfußboden, wo vorher ein kleiner Heizkörper gewesen war.
Falls der Mörder irgendeine Spur hinterlassen hatte, würden diese Leute sie finden.
Connor wandte sich an den Profiler. »Und wie hoch stehen die Chancen, dass wir es mit einem heruntergekommenen Typen zu tun haben, der nächste Woche in seiner Einzimmerwohnung erhängt aufgefunden wird?«
Hunter schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Sergeant. Sein psychischer Zustand scheint mir sehr stabil zu sein. Jemand, der drei Tatorte ohne die geringste Spur hinterlässt und von niemandem bemerkt wurde, ist kein Kandidat für irgendein Schizo-Drama.« Er lächelte. »Aber wie gesagt, wenn Sie erst mal sein Motiv gefunden haben … «
Hawkins wünschte, sie könnte seinen Enthusiasmus teilen.
Nach einigen Minuten, in denen sie die lästigen bürokratischen Aspekte der Ermittlungen erörtert hatten, war die Zusammenkunft beendet. Hunter bat sie, ihm Kopien der Akten zu schicken, sobald sie auf den neuesten Stand gebracht waren, und verabschiedete sich. Beim Hinausgehen verteilte er Visitenkarten. Connor durchquerte das Zimmer und begann eine Unterhaltung mit seinem Freund von der Spurensicherung, während Barclay hinausging, um in der Nachbarschaft nach Zeugen zu suchen. Vielleicht konnte ihnen ja jemand zumindest den Aufenthaltsort vom Ehemann des Opfers mitteilen. Bislang waren die Bemühungen der Polizei diesbezüglich im Sande verlaufen. Sein Handy war nicht erreichbar, sein Büro in Westminster unbesetzt. Aber vielleicht erhielten sie bald eine Rückmeldung, da inzwischen die normalen Bürozeiten angefangen hatten. Falls die in der Öffentlichkeit bekundete Zuneigung des Paars echt war, dürfte die Nachricht vom Tod seiner Frau den Politiker ziemlich aus der Bahn werfen. Sie mussten ihn unbedingt finden, bevor er auf anderem Weg davon erfuhr. Oder bevor er einen zu großen Vorsprung hatte.
Hawkins dankte Pritchard, der sich wieder zur Gruppe seiner Kollegen gesellte, die in einer Ecke tätig waren. Einige der Experten waren ihr bekannt, der Kriminaltechniker zum Beispiel, dessen Namen sie vergessen hatte, und Pete Munford, der offizielle Tatortfotograf. Der dritte Mann war wahrscheinlich der neue PR-Beamte.
Pritchard warf ihr von der gegenüberliegenden Zimmerecke einen Blick zu.
Der Schutzanzug, den sie trug, war gut zwei Nummern zu groß und wenig vorteilhaft, aber immerhin verhinderte er, dass Pritchard wie üblich ihre Beine anstarren konnte. Sie lächelte vor sich hin und widerstand dem Drang, zu ihm zu gehen und seine sexistischen Anwandlungen vor seinen Kollegen publik zu machen. Stattdessen drehte sie sich um, trat an das hohe Erkerfenster und schaute nach unten auf die wachsende Menge aus Sensationsjournalisten, Nachbarn und Passanten, die sich wie die Fliegen überall dort einfanden, wo das Team der Spurensicherung auftauchte und mit dem Einsatzfahrzeug die Straße blockierte. Sie schaute in den Himmel und stellte missmutig fest, dass der Regen zum ersten Mal an diesem Tag aufgehört hatte.
Nichts war so nützlich wie ein Dauerregen, um die lästigen Gaffer zu entmutigen.
Zwischen den Neugierigen entdeckte sie Frank Todd und Amala Yasir: Kannten Sie die Bewohner dieses Hauses? Haben Sie irgendwelche ungewöhnlichen Dinge bemerkt?
Der Trick war, Informationen zu erhalten, ohne im Gegenzug welche preiszugeben. Doch falls die Leute, die sich dort versammelt hatten, jetzt noch nicht wussten, wer hier gewohnt hatte, würden sie es bald erfahren.
Und mit einem Mal lagen ihre Nerven wieder blank.
Sie musste an ihren ersten Auftritt in einem Theaterstück in der Grundschule denken, als sie vor sich das versammelte Publikum sah und auf ihr Stichwort wartete. Sie hatte schon einige bekannte Gesichter in der ersten Reihe entdeckt, darunter ihre Eltern: ihren Vater, der übers ganze Gesicht strahlte, und ihre Mutter, wie immer mit stoischer Miene, die nur selten und äußerst knapp ein Lob aussprach. Dennoch hatte sie tief in sich das dringende Bedürfnis verspürt, vor allem ihre Mutter zu beeindrucken. Und dabei hatte sie noch immer Probleme mit ihrem Text …
Sie schüttelte den Kopf und verbannte ihre Erinnerungen. Dafür war jetzt keine Zeit.
Sie erinnerte sich an das, was Kirby-Jones vor zwei Wochen gesagt hatte: »Es ist eine gute Gelegenheit für Sie, auf sich aufmerksam zu machen, Hawkins. Aber als Einsatzleiterin müssen Sie auch für Ergebnisse sorgen. Ist Ihr Team dem gewachsen? Sind Sie dem gewachsen?«
Chief Superintendent Lawrence Kirby-Jones hielt gern Reden über Gleichstellung und die Förderung von Beamten, die er für besonders begabt hielt. Damit konnte er andere vielleicht an der Nase herumführen, aber Hawkins wusste, dass er in Wahrheit ein Frauenhasser war. Wenn sie diese Ermittlung nicht erfolgreich beendete, würde er in seine Unterlagen schreiben: »Aufgabe vermasselt, keine Beförderung in den höheren Dienst angezeigt.«
Am meisten ärgerte sie, dass Kirby-Jones über die Personalknappheit Bescheid gewusst hatte, als er ihr den Fall übertrug und sie vor vollendete Tatsachen stellte. Erst nachdem aus dem schlichten Selbstmord zuerst ein Mordfall, dann ein mehrfacher Mord geworden war, hatte er sie informiert. Und nun ging es um einen veritablen Serienkiller, der offenbar in der Lage war, die eine Hälfte von London abzuschlachten und die andere in Todesangst zu versetzen, während die Polizei keinen blassen Schimmer hatte, was sie gegen ihn unternehmen sollte.
Ihr erster Fall als Leiterin einer Ermittlung entpuppte sich also als ziemlich riskante Angelegenheit, vor allem weil ihr Team eher eine Notlösung war. Unter ihren vier aktuellen Untergebenen befanden sich ein Kriminalanwärter und ein irischer Experte für organisierte Kriminalität, der offenbar zunächst für ungeeignet befunden worden war und den man ihr erst zur Verfügung gestellt hatte, als der Fall schon aus dem Ruder gelaufen war.
Bislang hatte Hawkins geglaubt, dass ihr Vorgesetzter von den Entwicklungen in diesem Fall überrascht worden war, so wie alle anderen. Aber was war, wenn das gar nicht stimmte? Sie hatte sich schon gewundert, warum kein anderer Detective Chief Inspector sich angeboten hatte, diese zunächst recht harmlos aussehende Sache zu übernehmen. Es gab doch genug Beamte, die sich für nichts zu schade waren, wenn es ihrer Karriere nützte.
Hatte Kirby-Jones die Kollegen vorgewarnt?
Hawkins schob diese Zweifel beiseite. Mit Paranoia kam sie hier auch nicht weiter.
Sie zwang sich, wieder über die Fakten nachzudenken. Die Befragungen wegen der ersten beiden Todesfälle waren noch im Gang. Telefonlisten und Tonbandaufnahmen von Familienmitgliedern, Freunden und allen möglichen Zeugen wurden analysiert, und die nationale Datenbank der Polizeibehörde wurde nach den geringsten Parallelen mit Verbrechen in der Vergangenheit durchstöbert. Sogar die speziell ausgebildeten Beamten, die sich mit den Angehörigen befassten, waren dazu angehalten worden, jede noch so winzige Information zu liefern, die ein Familienmitglied beitragen konnte.
Leider hatten alle Appelle im Fernsehen an potenzielle Zeugen und die erfolgten Befragungen kaum substanzielle Hinweise erbracht, von Verdächtigen gar nicht zu reden, auch wenn noch nach einigen männlichen Bekannten der Opfer gefahndet wurde. Bisher hatten sie nicht das Geringste zutage gefördert.
Aber das Schlimmste war, dass ihnen bei diesem Rätsel das Allerwichtigste fehlte: das Motiv.
Der Mörder war ganz plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht, hatte seine grausige Visitenkarte hinterlassen und war wieder verschwunden.
Diese Morde waren jenseits von allem, was Antonia Hawkins bislang erlebt hatte. Früher hatte sie mit ihrem Kollegen Mike Maguire zusammen an Fällen gearbeitet, bei denen es um gewaltsame Racheakte rivalisierender Banden gegangen war. Jede Gewalttat hatte zu einer weiteren geführt, und auf jede Leiche folgte eine nächste. Aber dass ein einzelnes Individuum mehrere Frauen tötete, die nichts miteinander zu tun hatten, und zwar auf eine geradezu klinische Weise, konnte man kaum noch als menschliche Handlung bezeichnen. Mit jedem neuen Mordanschlag wurde dieser Mörder für sie unverständlicher.
Die Ermittlungen bezüglich seiner Vorgehensweise hatten soweit wenig gebracht, neue Erkenntnisse machten alles nur noch rätselhafter. Sie waren schon so weit gewesen, die verschiedenen Buchstabenkombinationen in den Namen der Opfer daraufhin zu vergleichen, ob sie womöglich eine versteckte Botschaft enthielten.
Ohne Ergebnis.
Und nun war der Fall noch eine Kategorie höher angesiedelt. Falls ihre Arbeit nicht bald Erfolge zeitigte, wäre zweifellos ein Bauernopfer nötig.
Wenn pro Woche eine neue Leiche auftauchte, war das mehr, als sie mit den vorhandenen Mitteln bewältigen konnten. Und im Gegensatz zu anderen Mordfällen wussten sie hier leider ganz genau, wann es die nächste gäbe: am kommenden Sonntag, dem ersten Weihnachtstag. Bis dahin war weniger als eine Woche Zeit.
Sie mussten jemanden verhaften. So bald wie möglich.
Hawkins schaute wieder auf die Menschenmenge draußen vor dem Haus. Eine ältere Frau war hinzugekommen und schrie einen uniformierten Beamten an. Sie wollte wissen, was hier los war. Ein jüngerer Mann versuchte sie zu beruhigen, indem er ihr vorschlug, eine Tasse Tee zu trinken.
In dem ganzen Durcheinander gelang es einem Reporter, unbemerkt durch die Absperrung zu schlüpfen. Er steckte den Presseausweis in seine Jackentasche und schlich die Steintreppe zur Haustür hinauf.
»Na komm schon, lass mich rein«, sagte er zu der Beamtin, die die Tür bewachte. »Sag einfach, ich bin ein Kollege. Dann springt ein Hunni für dich raus.«
Hawkins trat näher an das halb geöffnete Fenster, klopfte dagegen und zeigte ihm ihr Abzeichen. »Gehen Sie bitte wieder hinter die Absperrung zurück, Sir«, sagte sie und fügte mit leiserer Stimme hinzu: »Oder anders ausgedrückt, scheren Sie sich mit Ihrer verdammten Kamera zum Teufel!«
Hawkins genoss ihren Sieg, während zwei Beamte, die ihre erste Aufforderung mitgehört hatten, den Journalisten praktisch aus dem Vorgarten schleiften.
Die Beamtin grinste sie an, und sie erwiderte ihren Blick.
Sie hätte bestimmt nicht gelächelt, wenn sie gewusst hätte, dass der Mörder von der anderen Straßenseite aus beobachtete, wie sie sich vom Fenster abwandte.