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Er hockte im Schatten und beobachtete alles. Wach und konzentriert.
Sondierte die Lage.
Das Haus schien nicht geschützt zu sein. Es gab keine Anzeichen einer Alarmanlage oder anderer Sicherheitsmaßnahmen, auch wenn er das nicht hundertprozentig genau erkennen konnte. Außerdem war nicht abzusehen, wie viele Personen sich drinnen befanden.
Aber diese Faktoren würden ihn nicht abschrecken.
Seit seiner Ankunft war niemand hineingegangen oder herausgekommen. Inzwischen war es recht spät und sehr kalt, und die Umgebung wirkte ziemlich verlassen.
Aus zuverlässiger Quelle wusste er, dass sie da drinnen war. Diese außergewöhnliche Gelegenheit wollte er sich nicht entgehen lassen.
Er schaute erneut auf sein Handy, wie die ganze Zeit über in regelmäßigen Abständen, seit er es stumm geschaltet hatte. Das Empfangssignal war stark, aber es waren keine weiteren Nachrichten seiner Informanten hereingekommen. Also gab es auch keine Hinweise darauf, dass sein Informationsstand nicht mehr aktuell war.
Natürlich wusste der Informant nicht, was er getan hatte. Es gab einige Beamte im Polizeiapparat, die gern Informationen nach draußen weitergaben, wenn damit Geld zu machen war. Aber sie alle gingen davon aus, dass sie die Geheimnisse lediglich an einen unbekannten Journalisten verrieten. Es lag eine gewisse Ironie darin, dass ausgerechnet er dafür verantwortlich war, dass Interna der Polizei an die Medien durchsickerten. Das Schöne daran war, dass seine Informanten das Gesetz gebrochen hatten, indem sie geheime Daten verkauften. Deshalb würden sie es bestimmt nie zugeben, schon gar nicht, wenn herauskam, dass sie einem Mörder zugearbeitet hatten.
Seine ursprünglichen Pläne für den heutigen Abend waren eher ungenau und kompliziert gewesen. Aber die Polizei hatte ihm unfreiwillig Hilfestellung geleistet.
Er steckte das Handy wieder in die Tasche, ohne es auszuschalten. Auch wenn die Telefongesellschaften in der Lage waren, in kürzester Zeit jedes Mobiltelefon auf wenige Meter genau zu lokalisieren, gab es für sie keinen Grund, diese Nummer besonders zu beachten. Sein Gerät war mit einer Prepaidkarte ausgestattet, die er vor einem Monat in einem überfüllten Supermarkt gekauft hatte.
Kein Vertrag, keine nachvollziehbaren Spuren. So unauffällig wie ein Regentropfen inmitten Milliarden anderer, die während eines Wolkenbruchs vom Himmel fielen. Er war ein Rätsel. Seine Handlungen waren nicht vorhersehbar. Niemand konnte ihn aufhalten.
Ein winziger Tropfen in der Sintflut.
Er schaute auf die Uhr: eine Viertelstunde vor Mitternacht. Sein Puls beschleunigte sich, als er an die bevorstehenden Ereignisse dachte. Er schloss die Augen, bemühte sich, seine Aufregung niederzukämpfen und ruhig zu bleiben.
Er warf einen Blick auf die Pistole. Sie schien in Ordnung zu sein, allerdings war er kein Waffenexperte. Es waren noch fünf Kugeln im Magazin. Das waren fünf mehr, als er brauchte. Dieser Aspekt seines Plans war der unsicherste, auch wenn er kürzlich erst den Umgang mit der Pistole geübt hatte. Zwar hatte er ein Gefühl dafür entwickelt, aber in einer spontanen Situation war es immer schwierig, das Ziel genau zu treffen.
Er verlagerte sein Gewicht und ließ sich nicht von dem leichten Kribbeln in seinem rechten Fuß ablenken. Bald wurde es Zeit, mit der letzten großen Tat zu beginnen.
Obwohl er nicht ins Innere des Hauses blicken konnte, spürte er ihre Anwesenheit.
Plötzlich trübte sich sein Bewusstsein, als würde schon der bloße Gedanke an sie seine Absichten torpedieren. Gefühle loderten auf und warfen ein grelles gespenstisches Licht auf das, was er sich vorgenommen hatte. Zwiespalt. Zweifel.
Er schüttelte den Kopf und kämpfte dagegen an. Nein. Diese Gefühle hatte er doch längst gebannt, sie hatten keine Macht mehr über ihn. Er holte tief Luft und schlug alles Mitgefühl in den Wind. Sein Entschluss stand felsenfest.
Er schaute nach Süden auf den gezackten tiefschwarzen Schattenriss der Stadt. Die unscharfen Konturen der Londoner Skyline verhießen Regen.
Heute Nacht musste es geschehen, sonst wäre die Kette der Ereignisse unterbrochen. Wenn er sein Versprechen nicht wahr machte, würden alle, die ihm Respekt zollten, sich von ihm abwenden. Dort draußen gab es Menschen, die an ihn glaubten und ihn unterstützten. Er spürte, wie es von Tag zu Tag immer mehr wurden, die sich seiner Sache verschrieben.
Er durfte sie nicht enttäuschen.