33

Zwei Stunden und elf Minuten.

»Antonia?«

Einhunderteinunddreißig Minuten.

»Hör auf, die Uhr anzustarren.« Sein amerikanischer Akzent war in diesem Moment sehr ausgeprägt. »Du nutzt nur das Zifferblatt ab.«

Hawkins seufzte und sah hinüber zu der einzigen Person, die außer ihr anwesend war. Es hatte keinen Sinn, so zu tun, als hätte Mike sie nicht bereits zum dritten Mal dabei ertappt, wie sie die Minuten bis zum Anbruch des Sonntags zählte.

»Na schön.« Sie warf den Stapel mit den Protokollen auf den Tisch. »Ich hol mir mal ein bisschen Wasser. Möchtest du auch welches haben, Detective Maguire?«

»Ja, aber gekocht und mit Kaffee, Milch und einem Stück Zucker. Danke.« Mike wandte sich wieder dem Funkgerät zu, bevor sie etwas erwidern konnte. »Team 14, wir haben Meldung über eine verdächtige Person in Wandsworth, können Sie das übernehmen? Ende. Au!«

Hawkins hatte ihm beim Verlassen des Raums einen Schlag auf den Hinterkopf verpasst. Sie benutzten ein leeres Büro in der Nähe der Funkzentrale von Scotland Yard als provisorisches Hauptquartier. Man hatte ihnen Funkgeräte zur Verfügung gestellt, damit sie ihre mehr als sechzig Teams in der Stadt dirigieren konnten. Alle verfügbaren Beamten, uniformierte und zivile, waren dafür abgestellt worden.

Sie und Mike hatten bereits Hunderte von »Notfall«-Meldungen aus ganz London durchgeackert, ohne auch nur eine einzige relevante Information zu erhalten. Sie arbeiteten auf Hochtouren, aber wenn sie auch nur eine winzige Spur übersahen, die sich später als Hinweis auf den Killer erweisen sollte, dann wären die Folgen katastrophal.

Es würde eine anstrengende Nacht werden.

Hawkins ging an den vorderen Fenstern der Funkzentrale vorbei. Die Jalousien waren heruntergelassen, aber als sie an der Tür ankam, rannte ein junger Angestellter mit einer Weihnachtsmannmütze auf dem Kopf in den Flur. In den Händen hielt er einen neuen Stapel mit Protokollen. Er schimpfte vor sich hin, als ihm ein paar Zettel zu Boden fielen, hob sie auf und eilte auf ihr Zimmer zu, ohne von ihr selbst Notiz zu nehmen.

Das Stimmengewirr der Funkzentrale brach schlagartig ab, als die Tür zuknallte, aber die Geräusche, die herausgedrungen waren, hatten ihr deutlich gemacht, dass auch dort eine Menge Aktivität herrschte. Sie widerstand dem Drang, die Tür wieder aufzustoßen, um das dort herrschende Durcheinander noch mal zu begutachten, und ging weiter Richtung Teeküche.

Dass sie ständig Befehle über Funk durchgab und zahlreiche Beamte herumkommandierte, hätte ihr eigentlich ein gewisses Selbstvertrauen geben sollen. Aber wenn sie ehrlich war, fühlte sie sich eher hilflos. Die Einsatzteams hatten bereits jede Menge Hinweise zu verfolgen, und die Liste würde zweifellos immer länger werden. Je weiter die Nacht voranschritt, umso genauer mussten sie auswählen, was verfolgt werden sollte und was nicht.

Als Hawkins sich der Küche näherte, hörte sie Gesprächsfetzen. Beim Eintreten fand sie dort ungefähr ein Dutzend uniformierte Beamte vor, die an den Tischen saßen und ganz offensichtlich gerade ihre Schicht beendet hatten. Sie trugen schwere Wintermäntel und rote Handschuhe, was darauf hindeutete, dass sie noch etwas vorhatten. Sie bemerkte, wie jemand eine Wodkaflasche unter dem Tisch verschwinden ließ.

»Keine Panik«, sagte sie. »Geht ihr mal los und feiert schön. Das ist ein Befehl.«

Hawkins’ Spruch hatte den erwünschten Effekt. Die Flasche tauchte wieder auf, und man fragte sie sogar, ob sie sich nicht anschließen wollte. Sie lehnte dankend ab und fühlte sich mehr wie eine nachsichtige Tante als wie eine Gleichaltrige, die dazugehörte.

Die jungen Beamten strömten hinaus, und Hawkins blieb allein zurück. Nur das Summen der Getränkeautomaten und ein leise vor sich hin murmelnder, an die Wand montierter Fernsehschirm unterbrachen die Stille. Draußen vor dem Fenster wirbelten Schneeflocken.

Sie füllte den Wasserkessel und schaltete ihn ein, bevor sie sich ein Glas Wasser einschenkte. Auf dem Bildschirm war ein Bild vom Bahnhof King’s Cross zu sehen, darüber die Überschrift »London hat Hausarrest«. Sie drehte das Gerät lauter:

»… Schätzungen des Einzelhandels zufolge sind die abendlichen Last-Minute-Weihnachtseinkäufe in diesem Jahr um 17 Prozent geringer ausgefallen, da verunsicherte Konsumenten den Weg in die Innenstadt scheuten. Der Bürgermeister von London hat die Menschen gebeten, Ruhe zu bewahren und wachsam zu sein, nachdem eine zweite Botschaft gestern in einer Zeitung abgedruckt wurde. Die Polizei hat sie als ›sehr wahrscheinlich authentisch‹ eingestuft, sie scheint also tatsächlich von dem so genannten Adventkiller zu stammen. Darin gibt sich der Absender selbst den Namen ›Nemesis‹ und kündigt eine weitere Bluttat für die kommende Nacht an. Der Bürgermeister hat dazu Stellung genommen und versichert, dass die Polizei auf diese Drohung mit beispielloser Entschiedenheit antwortet …«

Der Kessel schaltete sich aus, aber die bekannten Gesichter, die nun auf dem Bildschirm auftauchten, beanspruchten ihre Aufmerksamkeit. Es war das erste Mal, dass sie eine Aufnahme von Mikes heutiger Pressekonferenz sah.

Lawrence Kirby-Jones saß neben ihm an dem ihr allzu bekannten Pult. Seine Anwesenheit wirkte in jeder Umgebung einschüchternd, und trotz des unscharfen Bildschirms bekam sie bei seinem Anblick eine Gänsehaut. Sie griff nach dem Wasserkocher und versuchte sich damit abzulenken, dass sie mit beispielloser Entschiedenheit den Kaffee aufgoss.

Hinter ihr auf dem Bildschirm forderte Mike die Zuschauer auf, jede verdächtige Beobachtung über die extra dafür eingerichtete Hotline zu melden. Sie schaute wieder auf, als Mikes Gesicht in Nahaufnahme erschien. Nun wandte er sich direkt an den Mörder:

»Das Netz zieht sich zusammen. Stellen Sie sich jetzt. Dann werden wir dafür sorgen, dass Sie die Hilfe bekommen, die Sie brauchen. Sie machen nur alles noch schlimmer, wenn Sie das nicht tun.«

Hawkins zuckte zusammen. Der Mike auf dem Bildschirm klang ruhig und gefasst, aber natürlich wusste er genauso gut wie sie, dass er sich ganz schön weit aus dem Fenster lehnte. In Wirklichkeit hatten sie überhaupt nichts in der Hand, was sie einer Verhaftung des Adventkillers auch nur einen Millimeter näher brachte. Gleichzeitig brach eine Welle von verängstigten Anrufen aus der ganzen Stadt über sie herein, wie sie an dem Stimmengewirr hören konnte, das aus dem Flur zu ihr drang.

Aber Desinformation war Teil ihrer Strategie. Es ging darum, einen persönlichen Wettstreit zwischen Mike und Nemesis zu inszenieren, in der Hoffnung, den Mörder herauszufordern, damit er einen Fehler machte.

Doch soweit sie das beurteilen konnte, war Simon Hunter allzu optimistisch gewesen, als er behauptet hatte, dass Serienkiller nach einigen erfolgreichen Bluttaten selbstgefällig würden. Unglücklicherweise schien das auf Nemesis nicht zuzutreffen.

Hawkins nahm die Getränke und ging zurück in ihre provisorische Einsatzzentrale.

»Ihr Kaffee, Sir. Gibt’s was Neues?«

»Nee. Willkommen in Paranoid City, wir wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt.«

»Der neueste Stapel?« Hawkins deutete auf den Papierstapel, der sich auf ihrem Schreibtisch türmte.

»Ja, und das sind nur die interessantesten. Wenn du den Rest besichtigen willst – Brian meint, wir können sie auf dem Bildschirm lesen. Ihnen geht das Papier aus.«

»Na großartig.« Sie nahm sich den Stapel vor. Offenbar waren alle einsamen Menschen von London heute Abend besonders verängstigt, angefangen beim Reinigungspersonal der U-Bahn-Stationen bis hin zu den Busfahrern.

Immerhin hatte ihre aktuelle Situation einen gewissen Routinecharakter. Alle drei vorherigen Morde waren während der ersten sechzig Minuten des Sonntags geschehen, und jetzt waren es noch zwei Stunden bis Mitternacht. Selbst wenn Nemesis sich sein Opfer schon ausgesucht hatte, befand er sich sicherlich noch nicht am Tatort, sondern machte höfliche Konversation, bis es Zeit für seine Bluttat war.

Sie seufzte. »Wie groß sind denn überhaupt die Chancen, dass einer dieser Hinweise uns auf etwas stößt, das sowieso erst nach Mitternacht passiert?«

»Praktisch null.« Mike griff nach dem Telefon. »Soll ich dem Chef durchgeben, dass wir aufhören?«

»Sehr witzig.« Sie lächelte und drohte ihm mit dem Finger. »Vielleicht muss ich einfach nur mal kurz abschalten, um nicht zu kapieren, wie tief wir schon im Dreck stecken.«

»Wir hätten eine Pause verdient.«

»Dem möchte ich nicht widersprechen.« Hawkins nippte an ihrem Wasserglas und las das Protokoll durch, das ganz oben lag.

»Warum hast du diesen Fall übernommen?«, fragte sie, ohne zu überlegen.

Mike schaute sie argwöhnisch an. »Meinst du damit, ob ich wusste, dass wir zusammenarbeiten würden?«

Darüber hatte sie gar nicht nachgedacht. »Vielleicht.«

»Na ja, falls es dich interessiert, dann lautet die Antwort: Nein, wusste ich nicht.«

»Oh.« Hawkins suchte nach einer möglichst unverfänglichen Antwort. »Okay.«

»Wie auch immer«, fuhr Mike fort. »Falls du gemeint haben solltest, ob ich hoffte, mit dir zusammenzuarbeiten, dann lautet die Antwort: Ja, hab ich.« Er rollte mit seinem Stuhl in ihre Richtung. »Und falls du dich gefragt haben solltest, ob ich einen kleinen Freudentanz aufgeführt habe, als du sagtest, du hättest dich von Paul getrennt, dann lautet die Antwort: Ja, das auch.«

»Davon hast du dir aber kaum was anmerken lassen.«

»Ich weiß.« Er streckte die Hand aus und berührte ihren Nacken. »Darin bin ich geübt.«

Hawkins spürte, wie ein Gefühl der Vorfreude sie durchströmte, bemühte sich jedoch, es zu überspielen. »Dann warst du aber nicht gut in Form. Ich hab’s nämlich bemerkt.«

»Ich hatte Sehnsucht nach dir, Toni.«

Er war ganz nah. Sie ließ ihre Hand durch sein Haar gleiten. »Ich hatte auch Sehnsucht nach dir.«

Und zum ersten Mal seit drei Wochen vergaß Antonia Hawkins den Adventkiller und gab sich ganz diesem einen Kuss hin.

Der Adventkiller
cover.html
978-3-641-14559-0.html
978-3-641-14559-0-1.html
978-3-641-14559-0-2.html
978-3-641-14559-0-3.html
978-3-641-14559-0-4.html
978-3-641-14559-0-5.html
978-3-641-14559-0-6.html
978-3-641-14559-0-7.html
978-3-641-14559-0-8.html
978-3-641-14559-0-9.html
978-3-641-14559-0-10.html
978-3-641-14559-0-11.html
978-3-641-14559-0-12.html
978-3-641-14559-0-13.html
978-3-641-14559-0-14.html
978-3-641-14559-0-15.html
978-3-641-14559-0-16.html
978-3-641-14559-0-17.html
978-3-641-14559-0-18.html
978-3-641-14559-0-19.html
978-3-641-14559-0-20.html
978-3-641-14559-0-21.html
978-3-641-14559-0-22.html
978-3-641-14559-0-23.html
978-3-641-14559-0-24.html
978-3-641-14559-0-25.html
978-3-641-14559-0-26.html
978-3-641-14559-0-27.html
978-3-641-14559-0-28.html
978-3-641-14559-0-29.html
978-3-641-14559-0-30.html
978-3-641-14559-0-31.html
978-3-641-14559-0-32.html
978-3-641-14559-0-33.html
978-3-641-14559-0-34.html
978-3-641-14559-0-35.html
978-3-641-14559-0-36.html
978-3-641-14559-0-37.html
978-3-641-14559-0-38.html
978-3-641-14559-0-39.html
978-3-641-14559-0-40.html
978-3-641-14559-0-41.html
978-3-641-14559-0-42.html
978-3-641-14559-0-43.html
978-3-641-14559-0-44.html
978-3-641-14559-0-45.html
978-3-641-14559-0-46.html
978-3-641-14559-0-47.html
978-3-641-14559-0-48.html
978-3-641-14559-0-49.html
978-3-641-14559-0-50.html
978-3-641-14559-0-51.html
978-3-641-14559-0-52.html
978-3-641-14559-0-53.html
978-3-641-14559-0-54.html
978-3-641-14559-0-55.html
978-3-641-14559-0-56.html
978-3-641-14559-0-57.html
978-3-641-14559-0-58.html
978-3-641-14559-0-59.html
978-3-641-14559-0-60.html
978-3-641-14559-0-61.html
978-3-641-14559-0-62.html
978-3-641-14559-0-63.html
978-3-641-14559-0-64.html
978-3-641-14559-0-65.html
978-3-641-14559-0-66.html
978-3-641-14559-0-67.html
978-3-641-14559-0-68.html
978-3-641-14559-0-69.html
978-3-641-14559-0-70.html
978-3-641-14559-0-71.html
978-3-641-14559-0-72.html
978-3-641-14559-0-73.html
978-3-641-14559-0-74.html
978-3-641-14559-0-75.html
978-3-641-14559-0-76.html
978-3-641-14559-0-77.html
978-3-641-14559-0-78.html
978-3-641-14559-0-79.html
978-3-641-14559-0-80.html
978-3-641-14559-0-81.html
978-3-641-14559-0-82.html
978-3-641-14559-0-83.html
978-3-641-14559-0-84.html
978-3-641-14559-0-85.html
978-3-641-14559-0-86.html
978-3-641-14559-0-87.html
978-3-641-14559-0-88.html
978-3-641-14559-0-89.html
978-3-641-14559-0-90.html
978-3-641-14559-0-91.html