66

Mike Maguire lehnte sich zurück, streckte sich und nippte an seinem Kaffee.

»Puh!« Er verzog das Gesicht und warf Frank Todd und Amala Yasir über den Schreibtisch hinweg einen angewiderten Blick zu.

Sie schauten beide auf, und Yasir fragte: »Was ist denn?«

Maguire zwang sich, die Brühe hinunterzuschlucken, und hob den Becher in die Höhe. »Der ist ja schon seit einer Stunde kalt.«

»Oh.« Sie lachte. »Ich dachte, Sie hätten ihn längst ausgetrunken. Wer ist denn jetzt dran mit Kaffeekochen?«

Todd warf ein: »Ist doch nur ein Mädchen da. Damit wäre die Frage beantwortet, oder, Mike?«

»Womit klar wäre, warum Sie immer noch Single sind, Frank.« Mike stand auf. »Was möchten Sie denn gern, Amala?«

Er nahm die Bestellungen entgegen und kam wenige Minuten später mit zwei Kaffeebechern und einer Tasse Tee zurück. Die anderen Schreibtische im Raum waren nicht besetzt. Abgesehen von ihnen war die Einsatzzentrale verlassen. Nur ihre Schreibtischlampen sorgten für ein wenig Helligkeit in der Ecke, in der sie zusammensaßen.

»He, Leute«, sagte er, als er die Getränke verteilte. »Hat irgendjemand eine zündende Idee?«

Beide schüttelten den Kopf.

»Nichts Neues, ein Bericht wie der andere«, klagte Todd. »Wer ist überhaupt auf diese blöde Idee gekommen?«

»Die Chefin«, sagte Yasir, »wer denn sonst? Und damit hat sie uns näher an Nemesis gebracht als alle anderen.«

»Sie ist nicht mehr meine Chefin«, gab Todd zurück. »Und Ihre auch nicht.«

Maguire biss sich auf die Zunge. Eine direkte Reaktion darauf würde Frank nur dazu provozieren, noch mehr herumzunörgeln, das wusste er. Aber es freute ihn, dass Amala weiterhin bereit war, für ihre Überzeugung einzustehen.

»Wir hätten es auch schlechter treffen können«, sagte sie. »Was wisst ihr denn zum Beispiel über Tristan Vaughn?«

»Ich weiß nur, dass die ganzen Ermittlungen schon in die falsche Richtung liefen, bevor er auf der Bildfläche erschien. Wenigstens kommt jetzt ein bisschen Fahrt in die Sache, und wir müssen nicht andauernd den Kopf hinhalten, während sie große Reden schwingt.«

»Ach, seien Sie doch still, Frank. Immerhin weiß sie, was sie redet, im Gegensatz zu Ihnen«, fuhr Yasir ihn an.

Danach verfielen beide in Schweigen. Maguire unterdrückte ein zufriedenes Lächeln. Er lockerte seine Schultern und rückte den Laptop vor sich gerade, um sich auf die nächsten Meldungen zu konzentrieren, die er bearbeiten musste. Der Bildschirm zu seiner Linken zeigte eine Karte von London, auf der die aktuellen Standorte ihrer Einsatzteams vermerkt waren.

Er hatte gerade zwei Zeilen gelesen, als die SMS einging.

Er schaute auf sein Handy und sah, dass die Nachricht von Antonia kam. Mist, er hätte doch anrufen sollen. Natürlich hatte er den ganzen Nachmittag über an sie gedacht – so wie jeden Nachmittag, wenn man es genau nahm. Aber heute war er so mit der Arbeit beschäftigt gewesen, dass er vergessen hatte, sich bei ihr zu melden. Manchmal war er wirklich ein egoistisches Arschloch.

Nachdem sie sich getrennt hatten, war er wütend gewesen, weil er sich angesichts des Drucks, unter dem sie stand, so unsensibel verhalten hatte. Immerhin war sie vom Dienst suspendiert worden. Er hätte wenigstens zehn Minuten erübrigen können, um mit ihr in die Wohnung zu gehen.

Wahrscheinlich schrieb sie ihm jetzt, dass sie ihre Beziehung beenden wollte.

Er öffnete die Mitteilung.

Er las den Text und lächelte, war erleichtert, dass sie einen so freundschaftlichen Ton anschlug. Vielleicht war ja noch nicht alles verloren. Er überlegte, ob er sie zurückrufen sollte, entschied sich dann aber, lieber eine fröhliche, wenn auch nichtssagende SMS zurückzusenden. Die laufenden Ermittlungen erwähnte er lieber mit keinem Wort. Es hatte keinen Sinn, den ganzen Ärger noch einmal aufzurühren.

Maguire steckte das Handy wieder in die Tasche und fühlte sich schon besser. Sie war in Sicherheit. Eric Johnston war bestimmt nicht der tollste Gastgeber, aber er war ein harter Bursche und würde nicht zulassen, dass ihr etwas zustieß.

Jetzt kam es darauf an, sich auf den Fall zu konzentrieren. Na gut, Mitternacht war gerade mal eine halbe Stunde vorbei, aber ihre Chance, Nemesis im Zug einer ähnlichen Aktion wie letztes Wochenende festzunageln, war leider immer noch dünn.

Sie hatten ihren Ansatz weiterentwickelt. Die eingehenden Anrufe wurden nun direkt auf ihre Laptops weitergeleitet, wo sie gelesen und entsprechend ihrer Relevanz geordnet wurden. Anschließend sorgte ein komplexes Computerprogramm dafür, dass alle erwähnten Orte auf der Karte erschienen und die Meldung an das Einsatzteam ging, das am nächsten dran war. Gleichzeitig lenkte das Programm alle im Einsatz befindlichen Einheiten so, dass sie jederzeit einen beliebigen Ort in London innerhalb von zehn Minuten erreichen konnten. Es ging darum zu verhindern, dass tote Winkel entstanden, so wie neulich in direkter Nähe zu Scotland Yard, was dem Killer die Flucht ermöglicht hatte.

Das bedeutete, dass sie in dem Moment, wo auch nur der kleinste Hinweis auf den Aufenthaltsort des Mörders auftauchte, nicht zögern durften …

Wie von der Tarantel gestochen begann Mike in seinen Taschen nach dem Handy zu suchen. Er zerrte es heraus, holte die SMS aufs Display und starrte Antonias Nachricht an.

Hallo, Mike, hoffe, die Ermittlungen laufen gut. Bin schon im Bett. Wir sprechen uns morgen. X

Er dachte kurz nach, bevor er eine SMS aufrief, die sie vor einigen Tagen an ihn geschickt hatte. Er ging die Worte einzeln durch, um sicherzugehen, dass er sich richtig erinnerte. Tatsächlich schrieb sie fast nie eine SMS, ohne wenigstens einige Wörter abzukürzen. Statt »sprechen« schrieb sie »sprchn«, aus »hoffe« wurde oftmals »hff«.

Stimmte hier was nicht?

Er überprüfte die anderen Nachrichten, ging eine nach der anderen durch, in umgekehrter zeitlicher Reihenfolge, die letzten zwei Wochen bis in die Zeit vor sechs Monaten, als sie sich regelmäßig getroffen hatten.

Wieso war ihm das nicht gleich aufgefallen?

Immer wenn sie eine Nachricht mit einem Kuss beendete, dann schrieb sie »Ax«. Niemals nur »X«.

Er sprang auf, rannte aus dem Raum und ignorierte die erstaunten Ausrufe von Yasir und Todd. Er hatte keine Zeit für Erklärungen.

Er stolperte, als er den Flur erreichte, weil er gleichzeitig rennen und Antonias Nummer eingeben wollte. Sofort ging der Anrufbeantworter an. Mist. Er suchte nach Eric Johnstons Nummer und schob zwei uniformierte Polizisten beiseite, die gerade ihre Büros verließen.

Eric meldete sich. »H’llo?«

»Eric, ist Antonia bei dir?«

»Bis jetzt nicht, Kumpel. Wieso?«

Maguire drückte ihn weg und wählte sofort ihre Festnetznummer. Bitte sei zu Hause und geh ran, bitte! Aber nach mehrmaligem Klingeln schaltete sich auch hier der Anrufbeantworter ein.

Maguire erreichte den Parkplatz, sprang ins Auto und raste mit laut aufheulendem Motor los. Er legte den Sicherheitsgurt an, als er die erste Kurve genommen hatte, nicht wegen der Vorschriften, sondern damit er ihn auf dem Sitz festhielt.

Von Hendon zum Haus von Antonia waren es siebzehn Kilometer. Dafür brauchte man unter normalen Umständen zwanzig Minuten, aber Maguire verfluchte jede einzelne Sekunde seiner achtminütigen Fahrt über die North Circular Road und die A307 nach Richmond.

Er nutzte die Zeit, um einen Krankenwagen und zwei Einsatzteams zu alarmieren. Gleichzeitig hoffte er inständig, dass es völlig überflüssig war und er nur die Zeit der Kollegen verschwendete. Aber als er vor ihrem Haus anhielt und zur Tür rannte, war er sich ziemlich sicher, dass seine schlimmsten Befürchtungen der Wahrheit entsprachen.

Er warf sich gegen die Haustür und hörte, wie das Portal aus Kunststoff sich dehnte und knackte. Der Pfosten hielt stand. Er rüttelte am Knauf, schlug mit der Faust gegen die Tür und drückte auf die Klingel.

Keine Antwort. Und wenn sie gar nicht da war?

Einen Moment stand er da und überlegte, starrte verzweifelt auf die Fenster, um irgendein Lebenszeichen zu entdecken. Dann erinnerte er sich an den Ersatzschlüssel, den sie im Garten versteckt hatte.

Er wandte sich um und nahm den Weg an der Seite des Hauses. In der Ferne waren die Martinshörner zu hören. Er erreichte den Garten, schwang sich über den Zaun und spähte die Hauswand entlang.

In der Küche brannte Licht. Die Jalousien waren heruntergelassen.

Maguire rannte direkt auf die Hintertür zu, zwang sich aber zum Abbiegen und erreichte mit zitternden Knien das Gartenhäuschen. Er benutzte das Licht seines Handydisplays, um zwischen den alten Keramiktöpfen nach dem Schlüssel zu suchen.

Komm schon. Er musste doch hier irgendwo sein.

Zweimal hätte er es beinahe aufgegeben, weil es ihn in seiner Verzweiflung zum Haus zog. Aber nach einer halben Ewigkeit fand er ihn endlich. Der Schlüssel war verrostet und fühlte sich rau an. Er rieb mit den Fingern darüber, stand auf und rannte so stürmisch auf die Küchentür zu, dass er beinahe dagegenprallte.

Durch einen Spalt in der Jalousie bemerkte er die leere Weinflasche unter dem Küchentisch und den Wasserkessel, der umgekippt auf der Arbeitsplatte lag.

Verdammt. Irgendwas war hier passiert.

Mit zitternder Hand gelang es ihm, den widerspenstigen rostigen Schlüssel ins Schloss zu stecken. Er brauchte drei Anläufe, aber dann war das blöde Ding endlich richtig drin. Er drehte und drückte, stürzte nach vorn und landete auf den Knien auf dem Küchenboden.

Das Heulen der Martinshörner und das Quietschen der Reifen waren von der Straßenseite her zu hören, aber das Klopfen und Klingeln an der Haustür wurde nicht beantwortet. Maguire hockte nur da und sah nichts anderes als die grausige Szene, die sich ihm in einer Ecke der Küche darbot.

Der Adventkiller
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