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Der Zug der Central Line hielt laut klappernd in der Endstation. Hawkins trat auf den Bahnsteig der Station Ealing Broadway und atmete die kalte Luft ein. Erst wenige Stationen zuvor war es ihr gelungen, einen Sitzplatz zu ergattern. Aber dann hatte sich der Zug so rapide geleert, dass jetzt kaum noch jemand mit ihr zusammen ausstieg. Sie ging zum Ausgang Richtung Haven Green, der kleinen Grünfläche gegenüber der U-Bahn-Station.
Es war schon vor Stunden dunkel geworden, aber zum Glück hatte der Regen nachgelassen, der Anfang der Woche noch heftig gefallen war. Jetzt war der Himmel wolkenverhangen, und die Temperaturen waren deutlich gefallen. Das hatte zur Folge, dass kaum jemand auf den Gehsteigen unterwegs war. Nachdem Hawkins in ihrer Tasche vergebens nach Handschuhen gesucht hatte, entschied sie, erst mal nach Hause zu fahren, bevor sie Mike anrief, um sich über die Fortschritte der Ermittlungen zu informieren.
Fünf Minuten später schloss sie die Wohnungstür hinter sich und drückte auf die Starttaste des Anrufbeantworters.
»Hallo, Antonia, hier spricht deine Mutter. Ich muss noch wissen, um welche Uhrzeit du an Weihnachten zu uns kommst. Ich hab dich an die Ecke direkt neben Onkel Pat gesetzt, weil du die beste Kondition hast und nicht ständig aufstehen musst, um zur Toilette zu gehen. Du kennst ihn ja – er bewegt sich nicht vom Fleck, bis das Essen vorbei ist. Wie auch immer, wir wollen uns so gegen zwei Uhr an den Tisch setzen, also musst du um eins da sein, wenn du was vom Glühwein abbekommen willst. Ruf mich bitte an und sag Bescheid. Ciao!«
Hawkins zog den Mantel aus und ging in die Küche. Sie hatte den Eindruck, dass sie nur nach Hause kam, um den Staub auf dem Fußboden ein bisschen aufzuwirbeln.
Sie hatte ihre neue Kücheneinrichtung vor zwei Monaten aus einem Katalog ausgesucht. Es war ein Versuch gewesen, ihre sozialen Kontakte wieder auf Vordermann zu bringen. In einer schönen Wohnung machte es Spaß, Freunde zu bewirten. Seit ihrer Versetzung und der Übernahme dieses neuen Falls waren allerdings nur sie und der Klempner hier gewesen, um die neuen Wasserhähne mit Sensorschalter zu bewundern.
Sie machte sich eine Tasse Tee, ging ins Wohnzimmer und holte das Handy aus ihrer Schultertasche. Es war ein komisches Gefühl, Mikes Nummer wieder einzugeben. Eine Weile stand sie nachdenklich da und verlor sich in Erinnerungen. Es war wirklich verrückt gewesen, wie zwei knutschende Teenager im Materialraum der Dienststelle im Becke House übereinander herzufallen. Aber ihre Begegnungen hatten sich niemals schäbig angefühlt.
Sie zögerte ein wenig und ließ sich auf die rechte Seite des Sofas fallen. Hier hatte Paul immer gesessen. Sie sprang auf, wechselte in den Sessel und versuchte, sich auf den Anruf zu konzentrieren, den sie jetzt machen musste.
Es war doch nur beruflich.
Er ging sofort dran. »Maguire.«
»Ich bin’s.«
»Antonia.« Er klang erfreut. »Wie geht’s dir?«
»Ganz gut. Es gibt ein paar Ergebnisse bezüglich Jessicas Laptop.«
»Ich meinte eigentlich, wie es dir geht.«
»Oh, mir geht’s … bestens, denke ich.«
»Du klingst ziemlich fertig.«
»Danke, deine Stimme hört sich ekelhaft munter an.«
Er lachte. »Hast du schon was gegessen?«
»Wieso?«
»Seit ich aus London weg bin, träume ich von diesem chinesischen Imbiss bei dir um die Ecke. Soll ich uns dort das Übliche besorgen? Ich kann in einer halben Stunde bei dir sein. Dann können wir uns über den Fall unterhalten.«
Sie warf einen Blick in die Küche, auf das eloxierte Waschbecken, für das man eine halbe Stunde brauchte, um es sauber zu kriegen, und den Designerkühlschrank, der zu klein war, um Essen darin unterzubringen. In einer halben Stunde konnte sie sich duschen, umziehen und ein bisschen aufhübschen. Außerdem musste sie nicht selbst kochen. Aber es war wahrscheinlich vernünftiger, wenn er nicht herkam.
»Vergiss nicht die Frühlingsrollen«, sagte sie.