13

»Antonia, hier spricht deine Mutter. Wir haben gestern zufällig Paul getroffen, und er sagte, bei eurem letzten Treffen hätte er den Eindruck gehabt, du wärst dünner geworden. Er vermisst dich immer noch, weißt du. Wie auch immer, dein Vater macht sich Sorgen, dass du nicht genug isst, also habe ich dir eine Lasagne gemacht, die ich in Einzelportionen geteilt und eingefroren habe. Komm doch bitte vorbei und hol sie ab. Du solltest auch mal zum Abendessen bleiben, allerdings geht es nicht heute oder morgen …«

»Nachricht gespeichert.«

Hawkins warf das Telefon auf die Ablage des Armaturenbretts und nahm sich vor, ihre Mutter zurückzurufen. Sie sah einen Mann vorbeigehen, der eine Zeitung in der Hand hielt, und versuchte die Schlagzeilen zu lesen. Die Scheibe war mit Regentropfen übersät, aber sie konnte die fette Überschrift gut erkennen: EXKLUSIVBERICHT DER SUN. Heute würden in der Redaktion bestimmt die Sektkorken knallen, aber sie war eher der gleichen Ansicht wie Connor. Die Angelegenheit »eine ziemlich beschissene Neuigkeit« zu nennen war noch bescheiden ausgedrückt.

Sie wandte sich wieder dem Seitenspiegel zu, der so eingestellt war, dass sie das dreißig Meter entfernte Haus im Blick hatte. Und den Vorgarten, aus dem Connor sie einen Tag zuvor angerufen hatte.

Dieser Teil von Silvertown, einer Wohngegend in der Nähe der Docklands, lag in der Einflugschneise des London City Airports, und die relative Ruhe wurde in regelmäßigen Abständen von aufheulenden Flugzeugmotoren unterbrochen. Kein Wunder, dass die Anwohner hier früh aufstanden.

Der Verkehr auf den Straßen und Bürgersteigen nahm langsam zu. Leider hatte das bislang nicht zur Folge gehabt, dass ihre Zielperson sich blicken ließ. Sie faltete ihre eigene Ausgabe der Sun auseinander und schaute sich das grobkörnige Abbild von Jessica Anderton an, die auf diesem Foto neben dem Mann saß, auf den sie warteten.

»Glaubst du, er hat sich davongemacht?«, fragte sie.

»Bestimmt nicht. Der Kerl erwartet uns noch nicht einmal.« Mike saß neben ihr auf dem Beifahrersitz und grinste schief. »Wie hat Connors Kumpel ihn doch gleich noch genannt, Einfaltspinsel?«

Connors Informant hieß Ian und arbeitete für die Sun. Er hatte sie gestern angerufen, um sie wegen der heutigen Schlagzeile vorzuwarnen. Ganz offensichtlich hatte diese dämliche Jessica Anderton eine Affäre gehabt. Der mediterran wirkende Mann, der vor ihrem Haus gesehen worden war, war ihr Freund – ebenjener Freund, der sofort nach ihrem Tod seine Story an die Sun verkauft hatte.

So viel zum Thema Trauer.

Die negativen Auswirkungen dieser Nachricht waren sofort spürbar gewesen. Kirby-Jones erneuerte sein Talent, seine extreme Unzufriedenheit deutlich zu artikulieren, ohne laut zu werden. An diesem Morgen allerdings hatte er dabei geklungen wie ein besorgter Krankenpfleger.

Bitte setzen Sie sich, Miss Hawkins, ich habe schlechte Nachrichten.

Die Menge der Journalisten, die vor Scotland Yard herumlungerte, hatte sich seit gestern verdreifacht, und die Presseabteilung stand kurz vor dem Kollaps. Darüber hinaus war der trauernde Witwer Charles Anderton verschwunden, angeblich wegen »dringender Amtsangelegenheiten«.

Die Tatsache, dass Ian seinen Job riskiert hatte, als er ihnen die Adresse von Jessica Andertons Freund gab, war nur ein schwacher Trost. Allerdings warteten sie jetzt schon seit vierundzwanzig Stunden auf ihn, und der Mistkerl war noch immer nicht nach Hause gekommen.

Zu dem ganzen Elend kam noch hinzu, dass seit seinem Entschluss, sich der Öffentlichkeit anzuvertrauen, sein Konterfei im ganzen Land auf jedem Stehcafé-Tisch herumlag. Und die Chance, dass es sich bei ihm um den Mörder handelte, war gen null gesunken.

Ihre Hand rutschte Richtung Fahrertür, wo in der Seitentasche eine – noch ungeöffnete – Packung Marlboro Lights lag. Sie ließ ihre Fingerkuppen über die Plastikverpackung gleiten und seufzte. So schlimm war es wirklich nicht.

Noch nicht.

»Immerhin musst du nicht zusammen mit John da oben auf der Brücke herumstehen«, versuchte Mike sie zu trösten.

Hawkins rang sich ein Lächeln ab. Seit sie vor einer Stunde hier angekommen waren, um Connor und einige der neuen Kollegen abzulösen, die die ganze Nacht hier verbracht hatten, stand Barclay missgelaunt auf einer Fußgängerbrücke zweihundert Meter hinter ihnen.

Es tat ihr leid, dass sie ihn dort oben postiert hatte, damit er den hinteren Bereich der Straße überwachen konnte. Wahrscheinlich würde er morgen eine furchtbare Erkältung haben, aber sie hatte ihn die ganze Zeit schon wegen seines schlechten Gesundheitszustands rücksichtsvoll behandelt, und das hatte auch nichts gebracht. Seit er zum Team dazugestoßen war, hatte Barclays ständiges Kränkeln ihm den Spitznamen »Rumbakugel« eingetragen, wegen der vielen Tabletten, die er den ganzen Tag über zu sich nahm. Dieser Beruf zeigte den Neulingen ziemlich schnell ihre Grenzen auf, und so war es auch bei ihm. Wenigstens hatte es aufgehört zu regnen. Abgesehen davon hatte auch sie selbst ihre Leidensgeschichte als junge Beamtin hinter sich, warum sollte es anderen da besser gehen?

Mike wandte sich ihr wieder zu. »Weißt du noch, was passiert ist, als wir das letzte Mal so dicht nebeneinandersaßen?«

Hawkins schaute in den Seitenspiegel. Die Frage war ihr unangenehm. »Ich schätze, sie würden uns sofort verhaften, wenn wir das hier täten.«

»Aber es hat doch Spaß gemacht, oder?«

Sie brauchte jetzt irgendwas, um vom Thema abzulenken. Glücklicherweise kam es gerade rechtzeitig.

»Sieh mal, ist er das nicht?«

»Wo?« Mike richtete sich auf und folgte ihrem Blick. »Ich kann überhaupt nichts sehen, dieser verdammte Lieferwagen steht im Weg.«

»Bleib ruhig, er kommt direkt auf uns zu. Er ist noch zehn Meter entfernt.«

»Wir müssen ihn hundertprozentig identifiziert haben, bevor wir etwas unternehmen. Bist du sicher?«

Tatsächlich war Hawkins sich ziemlich sicher, dass der ältere Herr im Jogginganzug, den Mike gerade nicht sehen konnte, nicht ihr Mann war, aber er hatte seinen Zweck erfüllt.

»Oh, warte mal, nein. Er ist es wohl doch nicht.« Sie bemühte sich, enttäuscht dreinzublicken.

»Nein, aber das da ist er.«

Mike war schon aus dem Wagen gesprungen, bevor sie überhaupt wusste, was los war. Sie schaute in den Rückspiegel und sah Barclay im Laufschritt die Straße überqueren. Er deutete auf etwas oder jemanden, den sie nicht sehen konnte.

Sie zog den Schlüssel aus dem Zündschloss, schob die Tür auf und stieg aus, um die Straße zu überblicken. Deutlicher konnte sie gar nicht auf sich aufmerksam machen, aber ihre Tarnung war ohnehin schon aufgeflogen, nachdem Mike losgerannt war.

Ein dunkelhaariger Mann mit olivfarbener Haut hatte gerade den Vorgarten betreten und ging nun auf die Haustür zu. Er trug Jeans und eine braune Windjacke über einem zerknitterten weißen Hemd.

Das war eindeutig ihr Mann. Barclay war schon dicht hinter ihm. Mike war nirgends zu sehen. Sie lief die Straße entlang.

»Marcus De Angelo?«, hörte sie Barclay sagen, als er durch das Gartentor trat.

Sie lief schneller, auch wenn sie nicht mal mehr fünfzehn Meter entfernt war.

»Hau ab.« Der Mann ruckte an seinem Haustürschlüssel, der offenbar nicht richtig funktionierte.

»Wir möchten gern mit Ihnen reden«, sage Barclay.

»Das hier ist ein Privatgrundstück.«

»Wir sind von der Metropolitan Police. Wir müssen Ihnen einige Fragen stellen.«

De Angelo wirbelte herum. »Polizei?«

Hawkins sah, wie er die Fäuste ballte. Er war ziemlich groß und kräftig und sah aus, als würde er regelmäßig ins Fitnessstudio gehen. Neben ihm wirkte Barclay noch schmächtiger als sonst. Er hätte De Angelo nicht allein ansprechen sollen. Hawkins erreichte das Gartentor, als Barclay seine Marke aus der Tasche zog.

Im gleichen Moment verpasste De Angelo ihm einen Faustschlag.

Barclay taumelte rückwärts gegen sie, und sie stürzten beide zu Boden.

»Scheiße! Alles okay mit Ihnen?« Hawkins mühte sich ab, den Trainee, der auf sie gefallen war, beiseitezuschieben. Der stöhnte laut und bekam dann einen Hustenanfall. Sie rappelte sich auf und sah nur noch, wie die Haustür zuschlug.

Sie warf einen Blick auf Barclay, der sich mühsam auf einem Ellbogen abstützte. Der Schlag war anscheinend gut platziert gewesen. Ihr junger Kollege war für die nächsten paar Minuten zu nichts zu gebrauchen. Und nirgendwo ein Zeichen von Mike.

Sie musste da jetzt allein rein.

Sie sprang zur Tür und drückte auf die Klinke. Erleichtert stellte sie fest, dass die Tür aufging. »Mr De Angelo?«, rief sie, als sie in den schmalen Flur trat. »Ich bin DCI Hawkins von der Metropolitan Police. Wir müssen uns unterhalten.«

Nichts.

»Ich komme jetzt rein.«

Links von ihr führte eine Treppe in den ersten Stock. Bestimmt war er nicht da oben, dann säße er ja in der Falle. Blieben von hier aus betrachtet nur drei Möglichkeiten: zwei Durchgänge mit Rundbogen zu ihrer Rechten und eine Tür am anderen Ende des Flurs, die geschlossen war.

Sie ging auf den ersten Rundbogen zu und schaute in den Raum dahinter. Ein Wohnzimmer mit dreiteiliger Sitzgarnitur, zwei Topfpflanzen und einem großen TV-Bildschirm. Aber kein De Angelo.

Sie trat in den zweiten Durchgang, ihr Herz pochte heftig. Sie schob sich mit dem Rücken zur Wand langsam voran. Was zum Teufel machte sie da eigentlich? Sie hatte schon mehr als eine Vorschrift verletzt. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass sie De Angelos Privatsphäre missachtete, hatte er bereits sehr deutlich signalisiert, dass er die polizeiliche Autorität nicht anerkannte und gewillt war, Gewalt gegen sie anzuwenden. Er konnte sie jeden Moment anfallen. Womöglich war er bewaffnet. Hinzu kam, dass die eine Hälfte ihres Einsatzteams verschwunden und die andere Hälfte k. o. geschlagen worden war. Und trotzdem nahm sie das Risiko auf sich, ganz allein einen Mordverdächtigen in seinen Schlupfwinkel zu verfolgen.

Im Innern des Hauses waren Geräusche zu hören. Das Licht am Ende des Flurs wurde heller, als wäre eine Tür geöffnet worden.

Er wollte durch die Hintertür flüchten.

Sie rannte auf die Tür zu und stieß sie auf, aber De Angelo war schon draußen. Durch das Fenster in der Tür sah sie sein Gesicht. Er schien sehr konzentriert zu sein. Sie hörte, wie er den Schlüssel von außen im Schloss herumdrehte.

Und sie einschloss.

Sie sprang nach vorn und packte den Türgriff, drückte ihn nach unten. Durch das Glas hindurch trafen sich ihre Blicke. Er war nur wenige Zentimeter entfernt. Sie konnte deutlich sehen, wie erleichtert er war, als sie beide feststellten, dass die Tür verschlossen war.

»Tut mir leid, Baby.« Er zwinkerte ihr zu. »Vielleicht ein andermal.«

Er drehte sich um und rannte den Gartenweg entlang. Hawkins konnte nur noch sehen, wie ihr einziger Zeuge sich davonmachte.

Aber als er das hintere Gartentor aufzog, hatte er Pech.

Mikes breiter Körper blockierte seinen Fluchtweg. Und diesmal war De Angelo der Schmächtigere von beiden. Sie tauschten einige Worte aus, die sie von ihrem Platz hinter der Tür nicht verstehen konnte, und dann schlug De Angelo zu.

Mike wich der Faust aus und trat gleichzeitig auf den Angreifer zu. Er nutzte den angreifenden Arm als Hebel und warf De Angelo gegen die gegenüberliegende Mauer.

Dann drehte er sich um, zog ein paar Plastikfesseln aus der Tasche und warf ihr einen fragenden Blick zu. Hawkins nickte zustimmend und sah zu, wie Mike dem Verdächtigen seine Rechte erklärte.

Der Adventkiller
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