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»Wären Sie dann so weit, Detective?« Kirby-Jones bewegte sich auf die Tür zu.
Hawkins nickte. So zu tun, als hätte sie vergessen, dass sie sich unten mit Mike treffen sollten, schien offenbar nicht zu wirken.
Sie folgte ihrem Chef in den Flur und musste sich ganz schön anstrengen, um mit seinen weit ausholenden Schritten mitzuhalten. Die Situation kam ihr vor wie ein schlechter Scherz: Der Fall selbst war schon schlimm genug, aber nun musste sie sich auch noch mit ihrem Exlover herumschlagen, den sie seit Monaten nicht mehr gesprochen hatte.
Wie zum Teufel begrüßte man einen Menschen nach Monaten des Schweigens, wenn der letzte Satz zwischen ihnen gelautet hatte: Gib mir mal deine Adresse, damit ich dir deine Unterhosen zuschicken kann?
Sie hatte Gerüchte gehört, dass Mike nach seiner Versetzung in Manchester nicht gerade glücklich geworden war, und hatte sich gefragt, ob er nun vielleicht in die Vereinigten Staaten zurückwollte, wo er aufgewachsen war. Seine Eltern lebten immer noch in Philadelphia. Aber das erschien Hawkins eher unwahrscheinlich. Nachdem er dank eines beruflichen Austauschprogramms nach England gekommen war, hatte er sich in der Metropolitan Police hochgedient und in London sehr wohlgefühlt, obwohl er keine Gelegenheit ausließ, darauf hinzuweisen, wie fremd er dieses altmodische Land fand. Wie es jetzt aussah, hatte nicht einmal Antonia Hawkins es geschafft, ihn so zu verschrecken, dass er wieder in die USA zurückwollte.
Kirby-Jones wurde kein bisschen langsamer, als sie die Tür erreichten, die sie in den Eingangsbereich führte. Die Türflügel schwangen auf.
Sie ließ den Blick durch das Foyer wandern und registrierte eine Gruppe offenbar bedeutsamer Personen, die sich gerade anmeldete, zwei Experten für Biotechnik, die sie von einer früheren Ermittlung kannte, und die Beamten der Anti-Terror-Einheit, die scheinbar unerschütterlich an der Sicherheitsschleuse standen.
»Sehen Sie mal.« Kirby-Jones deutete an ihr vorbei.
Sie drehte sich um und starrte auf einige Überwachungsmonitore, über denen der Hinweis »Haupteingang – Broadway« angebracht war. Darauf war die Gruppe der Journalisten zu sehen, der sie vorhin begegnet war. Vor den Reportern stand ein hochgewachsener Mann mit erhobenen Armen, der die Menschenmenge wie ein Prediger zu dirigieren schien.
Mike.
Anders als bei ihr schienen die Mediengeier jetzt ganz zahm und geduldig zu sein. Sie machten sich Notizen und brachen plötzlich wie auf Bestellung in lautes Gelächter aus.
Maguire hatte schon immer das Talent gehabt, den Journalisten sogar die banalsten Informationen so zu verkaufen, als würde er ihnen geheime Akten der Regierung offenbaren.
Er konnte Menschenmengen beeindrucken.
»Keine Sorge.« Kirby-Jones schob seine Krawatte zurecht. »Ich habe ihn vorher instruiert.«
Gleich darauf bewegte sich Mike auf dem Bildschirm von der Menge fort, die sich sofort zerstreute. Er verschwand aus dem Blickwinkel der Kamera und tauchte vor den Sicherheitsbeamten an der Eingangstür auf.
Hawkins sah zu, wie er mit dem Handscanner überprüft wurde. Als er sie bemerkte und ihnen zuwinkte, musste sie schlucken. Er sah noch besser aus, als sie ihn in Erinnerung hatte. Wie immer trug er einen bequemen Anzug über einem weißen Hemd mit lässig aufgeknöpftem Kragen.
Er wechselte einige Worte mit dem Beamten, der daraufhin laut lachte und ihm auf die Schulter klopfte, bevor er ihn durchwinkte. Mike kam näher. Er lächelte herzlich und schaute mit seinen lebhaften braunen Augen von einem zum anderen.
»Hallo, Mike, schön Sie zu sehen.« Kirby-Jones gab ihm gleich beide Hände. Es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte ihn umarmt. »Vielen Dank, dass Sie sich so kurzfristig freimachen konnten.«
»Ganz meinerseits, Lawrence. Es ist toll, wieder hier zu sein. Hallo, Antonia.«
Lawrence?
»Hallo.« Sie nickte ihm zu. Ihr Magen drehte sich um, und sie versuchte verzweifelt, ihre Unsicherheit zu bezwingen, als ihr einfiel, wie grauenhaft ihre Haare aussahen.
»So, ich muss jetzt wieder nach Hendon zurück«, sagte Kirby-Jones. »Ich wollte Sie nur kurz begrüßen. Hawkins wird Ihnen alles Weitere erklären. Wenn der Fall abgeschlossen ist, sollten wir uns mal auf ein Spielchen treffen.« Er lächelte Mike ein letztes Mal zu und stolzierte davon. Verlegenes Schweigen brach aus.
Hawkins schaute ihm nach und fragte sich, wieso sie sich in Gegenwart dieses Mannes immer so klein und unbedeutend fühlte. Normalerweise genügte seine bloße Anwesenheit. Heute aber gelang ihm das sogar, indem er fortging.
Und sie hatte jetzt wirklich keine Zeit, sich mit einem ehemaligen Liebhaber herumzuschlagen, egal, ob der auf sie sauer war oder nicht.
»Also dann …« Sie warf Mike einen kurzen Blick zu und ließ die Hand wieder herabfallen, mit der sie ihr Haar in Ordnung bringen wollte. Was sollte sie jetzt bloß sagen?
Mike schaute sie prüfend an, bevor er in seinem melodischen Philadelphia-Akzent zu sprechen begann, den sie immer so unwiderstehlich gefunden hatte.
»Na, wie läuft’s so?«
»Mir geht’s … gut.«
»Und Paul?« Keine Spur von Sarkasmus.
»Dem geht’s auch gut.«
»Prima. Ich hab allerdings Gerüchte gehört, dass ihr euch getrennt habt.«
»Oh.« Sie wusste nicht, wo sie hinschauen sollte. »Das stimmt.«
»Wirklich. Verdammt, Antonia, das tut mir leid …« Er hob entschuldigend die Hände. »Wie wär’s mit einem Kaffee?«
Hawkins nickte. Erst dann fiel ihr ein, dass er gemeinsames Kaffeetrinken meinte.