19
»Vielen Dank, Alan.«
Charles Anderton gab dem Sicherheitsbeamten die Hand, der sie in ein kleines Büro im Personalbereich des Flughafens geführt hatte.
Anderton deutete auf einen abgenutzten Holzstuhl, und Hawkins nahm Platz. Es roch nach Staub und Reinigungsmitteln.
Anderton schloss die Tür, zog seinen grauen Mantel aus und legte ihn sorgfältig neben sein Gepäck. Dann setzte er sich auf den Stuhl gegenüber.
»Alan ist ein Freund von mir«, sagte er, als hätte er gemerkt, dass Hawkins befremdet war. »Ich besorge ihm ab und zu Eintrittskarten für die Tottenham Hotspurs, und im Gegenzug kümmert er sich um mich, wenn ich hier am Flughafen zu tun habe.«
Hawkins nickte und warf einen Blick auf das Regal an der Wand, auf dem ein vertrocknetes Sandwich neben dem Funkgerät lag.
Anderton saß steif da, die Hände vor sich auf der Tischplatte verschränkt.
»Ich danke Ihnen, dass Sie auf meinen Vorschlag eingegangen sind, Detective.«
»Ich fürchte, ich kann für nichts garantieren«, sagte Hawkins. »Ich tue, was ich kann, aber wir haben nicht viel Zeit.«
Anderton wirkte wesentlich müder als noch vor zwei Tagen. Er sah aus wie ein Mann, der fast alles verloren hatte und nun auch noch den letzten Rest drangeben sollte.
Während ihres Telefonats am Vorabend hatte er Hawkins zwei Vorschläge unterbreitet.
Sie konnte ihn den Vorschriften entsprechend zu einer formellen Aussage vorladen. Dann würde er sein Wissen so lange wie möglich für sich behalten. Eine derartige Verzögerung würde beiden Parteien schaden und eine weitere Bluttat kaum verhindern. Außerdem dürfte es die Medien anstacheln, Andertons Ansehen und seine Karriere zu zerstören.
Alternativ hatte er angeboten, ihr alles zu erzählen, was er beisteuern konnte, wenn sie seinen Namen nicht auf die offizielle Liste der Verdächtigen setzte. Diese Abmachung erlaubte es ihnen, die Ermittlungen ungehindert fortzusetzen, während Anderton als trauernder Witwer auf freiem Fuß blieb. Das ersparte ihm weitere Erniedrigungen in der Öffentlichkeit und half ihm vielleicht sogar, seinen Ministerposten zu behalten. War das nicht möglich, konnte er zumindest auf einen lukrativen Aufsichtsratsposten in der Wirtschaft wechseln, und sein Ansehen wäre kaum angekratzt.
Hawkins hatte sofort dem zweiten Vorschlag zugestimmt. Auf diese Weise hoffte sie, an wichtige Informationen zu kommen. Ihre Zustimmung war allerdings an die Bedingung geknüpft, dass Charles Anderton wirklich so unschuldig war, wie er behauptete.
Andertons Stimme unterbrach ihre Gedankengänge. »Ich bin mir darüber im Klaren, Detective, dass mein Mangel an Ehrlichkeit am Dienstag Ihre Ermittlungen behindert hat. Dafür möchte ich mich entschuldigen. Aber ich habe Sie nicht angelogen.«
Technisch betrachtet hatte er recht. Als Hawkins ihn vor zwei Tagen aufgesucht hatte, war er nur zu wenigen Aussagen in der Lage gewesen. Sie hatte ihm daraufhin vorgeschlagen, die Vernehmung eine Weile zu verschieben. Da war ihr allerdings noch nicht bekannt gewesen, dass Jessica Anderton und Marcus De Angelo eine Affäre gehabt hatten.
»Ich wollte Ihnen Zeit lassen, um zu trauern, Mr Anderton, nicht, um an einer Konferenz teilzunehmen.«
Er seufzte. »Es gab keine Konferenz, Detective. Ich brauchte einfach Zeit zum Nachdenken und wollte nicht von den Medien gestört werden. Und ich wollte nicht nach Hause.«
»Mag ja sein. Aber da wussten Sie längst, dass Ihre Frau eine Affäre gehabt hatte.«
Er senkte den Blick. »Ja.«
»Als Sie davon erfuhren, gaben Sie ihr zu verstehen, dass sie es bereuen würde, wenn es herauskäme.«
Andertons verschränkte Hände bewegten sich keinen Millimeter, aber der Bereich um die Knöchel wurde weiß und deutete auf seine Anspannung hin. »Ja … ich bedauere es zutiefst, aber das habe ich gesagt.«
»Ihnen ist doch klar, dass das als Motiv gelten kann.«
Er schaute auf, und seine Stimme wurde fester. »Ich akzeptiere die Tatsache, dass meine Frau mich schon seit Langem nicht mehr geliebt hat, aber das hat nichts mit ihrem Tod zu tun.«
Sie sahen sich an. Hawkins bekam eine Ahnung, warum Charles Anderton ein so erfolgreicher Politiker war: Obwohl er keine Beweise hatte, war sie bereit, ihm zu glauben.
»Wenn Marcus De Angelo seine Geschichte nicht verkauft hätte«, fuhr er fort, »dann hätte ich die Angelegenheit unbeschadet überstanden, zumindest in politischer Hinsicht.« Seine Stimme versagte beinahe bei den letzten Worten. Er hielt sich die Hand vor den Mund, um die Fassung wiederzugewinnen, bevor er weitersprach.
»Ich hatte mit Jessica eine Vereinbarung getroffen. Wenn wir weiterhin so taten, als seien wir glücklich verheiratet, konnte sie ihren privilegierten Lebensstil aufrechterhalten und ich meine politische Glaubwürdigkeit. Meine … Drohung hatte nur den Zweck gehabt, sie daran zu erinnern. Es hätte meine Karriere ruiniert, wenn ihre Affären ans Tageslicht gekommen wären, genauso wie sie meine Ehe ruiniert haben.«
»Sie sagten ›Affären‹, also waren es mehrere?«
»Ja, so ist es leider gewesen«, sagte Anderton. »Marcus De Angelo war nicht der Erste. Es gab noch einige andere.«
Seine Worte schienen zwischen ihnen in der abgestandenen Luft des Raums zu hängen. Hawkins stellte fest, dass die Liste der möglichen Verdächtigen gerade ein Stück länger geworden war.
»Im Laufe der Jahre musste ich immer wieder große Anstrengungen unternehmen, um Jessicas Abenteuer vor den Medien geheim zu halten, aber ich kann Ihnen versichern, dass Mord nicht dazugehörte. Vielleicht hätte ich mich mehr um ihr Wohlergehen sorgen sollen als um meine Karriere. Aber jetzt ist es zu spät für solche Gedanken.«
Hawkins wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Ihr Schweigen regte Anderton an weiterzusprechen.
»Sie versichern mir, dass Marcus De Angelo nicht der Mörder ist, aber es könnte natürlich ein anderer von Jessicas Bekannten infrage kommen, und ich möchte Ihnen gern helfen, soweit es mir möglich ist. Wenn Sie einverstanden sind, Detective, würde ich Ihnen gern ein Beweisstück übergeben.« Sein Blick wanderte zu seinem Samsonite-Koffer. »Darf ich?«
Sie schaute ihn prüfend an. »Um was handelt es sich?«
»Einen Laptop. Jessicas Computer.«
Hawkins warf hastig einen Blick auf das Funkgerät auf dem Regal. Mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass sie sich hier ganz allein mit einem Verdächtigen befand. Das war ziemlich riskant. Anderton war fast sechzig, aber er machte einen durchaus kräftigen Eindruck. Sogar Barclay wusste nur ungefähr ihren Standort. Genau genommen waren sie hier ganz allein.
Sie erhob sich. »Ich denke, ich hole ihn lieber selbst heraus.«
»Ja, natürlich, Sie haben recht«, stimmte Anderton zu. »Er ist in der Vordertasche mit dem Reißverschluss.«
Sie behielt den Politiker im Blick, während sie auf den großen grauen Koffer zutrat. Es war schwer abzuschätzen, ob er wirklich die Wahrheit sagte.
»Alles in Ordnung, Detective?«
Hawkins wurde bewusst, dass sie zögernd auf den Koffer hinabstarrte. »Alles bestens.«
Sie zog den Reißverschluss auf und achtete gleichzeitig auf Anderton. Der blieb auf seinem Stuhl sitzen. Sie zog die Vordertasche auf und warf einen Blick hinein. Das da drin sah aus wie ein ganz normaler Laptop.
Nachdem sie den Computer herausgezogen hatte und zu ihrem Platz zurückgegangen war, entspannte sie sich wieder.
»Und inwieweit hat dieses Gerät hier etwas mit dem Fall zu tun, Mr Anderton?«
»Jessica war eine bezaubernde Frau …« Er lehnte sich zurück, als könnte er auf diese Weise weniger schmerzlich über sie sprechen. » … aber sie war leider auch sehr sprunghaft. Ich gebe zu, dass ich sie überwacht habe, das war für uns beide besser. Vor einigen Wochen saß sie gerade an ihrem Laptop, als ihr Handy klingelte. Sie ging nach oben, um den Anruf entgegenzunehmen, und ich nutzte die Gelegenheit, um mir anzusehen, was sie da eigentlich machte.« Er hielt inne. »Sie hatte sich in einen Chatroom eingeloggt. Und angesichts der Art des Austauschs dort könnte ich mir vorstellen, dass sie ihren Mörder auf diese Weise kennengelernt hat.«