36

Die Aufzugtür ging zu. Hawkins drückte auf den Knopf mit der Aufschrift »B1« und trat zurück. Sie verschränkte die Arme und biss sich auf die Lippe. Normalerweise ist der Aufzug nicht so langsam, oder? Ein Alptraumszenario blitzte in ihrem Kopf auf: Was, wenn der Adventkiller entkommen konnte, weil die drei Kriminalbeamten, die gerade losgestürzt waren, um ihn zu stellen, in einem kaputten Lift stecken blieben?

Immerhin deutete ein Ruck darauf hin, dass die Fahrt ins Untergeschoss von Scotland Yard jetzt begann.

Hawkins holte Luft und wandte sich an Connor. »Und Sie sind absolut sicher, dass es nur eine Old Queen Street in London gibt?«

»Jawohl, Chef.«

»Sie haben das genau überprüft?«

»Jawohl, Chef.«

»Und wie schnell können wir dort sein?«

»In drei Minuten.« Er hielt die Autoschüssel in der einen Hand und hob mit der anderen den Londoner Stadtplan hoch.

»Gut.« Sie warf Mike einen Blick zu. »Wie lange braucht das erste Einsatzteam bis dorthin?«

»Team 9 ist am nächsten dran, aber auch die brauchen gut fünfzehn Minuten. Team 12 noch vier Minuten länger.«

Hawkins schaute auf die Uhr. Es war jetzt sieben nach eins.

Sie schwiegen. Wieder ruckte der Fahrstuhl, gefolgt von einem Klingelton. Die Türen gingen leise auf, und sie betraten das unterirdische Parkhaus von Scotland Yard.

Es waren gerade mal fünf Minuten verstrichen, seit Hawkins das Detail gefunden hatte, das die nun folgende Ereigniskette angestoßen hatte. Seitdem hatte sie, während Connor die Adresse ausfindig machte und Mike die am nächsten stationierten Einsatzgruppen informierte, zwei Funkgeräte besorgt, mit denen sie über einen verschlüsselten Sonderkanal direkt mit Brian in der Zentrale Kontakt aufnehmen konnte.

Das Detail selbst war nichts Besonderes, aber die Tatsache, dass das nächste mögliche Opfer so dicht in der Nähe von Scotland Yard wohnte, schon. Die Old Queen Street lag etwas mehr als einen Kilometer nördlich, was bedeutete, dass sie, Connor und Maguire dort vor allen anderen ankommen würden.

Hatte der Mörder diesen Ort absichtlich gewählt? Dass ein Mord direkt vor der Haustür von Scotland Yard stattfand, wäre unter normalen Umständen schon schlimm genug gewesen. In einer Nacht wie dieser, nachdem sie sogar vorgewarnt waren, lief es auf eine Katastrophe hinaus. War dies womöglich ein geschickter Schachzug des Killers, der ihnen immer einen Schritt voraus gewesen war? Es war kurz nach Mitternacht am ersten Weihnachtstag, und Scotland Yard war praktisch verwaist. Sie hatten ihren Posten verlassen und setzten alles auf ein winziges Detail. Was wäre, wenn Nemesis genau darauf setzte und nun alle Zeit der Welt hatte, den nächsten Mord zu verüben? Sie erschauerte. Aber zum Umkehren war es jetzt zu spät.

Immerhin hatte sie der Versuchung widerstanden, all ihre Einsatzgruppen an diesen einen Ort zu berufen.

Ihre eiligen Schritte wurden von den Betonwänden des unterirdischen Parkhauses zurückgeworfen. Die Lichter des Opel Astra blinkten, als Connor auf den Türöffner drückte. Kurz darauf bogen sie auf den Broadway ein. Connor und Mike saßen vorn, Hawkins auf dem Rücksitz schaltete die beiden Funkgeräte ein.

Sie ähnelten kleinen Walkie-Talkies und waren leicht genug, um sie an die Kleidung zu heften. Der verschlüsselte Kanal stellte sicher, dass ihre Durchsagen nicht im sonst üblichen Funkverkehr untergingen und sie nicht von hereinkommenden Funksprüchen anderer Einheiten unterbrochen wurden. Sie testete, ob die beiden Geräte auch funktionierten und dass Brian wie abgesprochen in der Funkzentrale auf seinem Posten war, bereit, den Einsatz abzubrechen oder weitere Einsatzkräfte zu mobilisieren. Sie war gerade dabei, die Lautstärke herunterzudrehen und die Geräte in ihre Tasche zurückzustecken, als sie alle drei auf ihren Sitzen nach vorn geschleudert wurden.

Connor schimpfte auf das Auto, das ihn zur Vollbremsung gezwungen hatte. Dann gab er wieder Gas, und sie wurden zurück in ihre Sitze gedrückt. Hawkins reckte den Kopf, um das Straßenschild zu lesen: Carter Street.

Sie beugte sich zwischen den Sitzen nach vorn. »Wie weit noch?«

»Bis zum Ende der Straße und dann rechts.« Connor ließ die Straße vor sich nicht aus den Augen. »Höchstens eine Minute. Welche Hausnummer?«

»Sechsunddreißig«, sagte Hawkins.

»Halt ein Stück vor dem Haus an«, sagte Mike. »Wir müssen uns ja nicht lautstark ankündigen.« Er wartete ab, bis Connor genickt hatte, und drehte sich dann zu Hawkins um. Sein Gesicht war ausdruckslos, aber er schaute sie voller Zuversicht an.

Oder war es etwa Vorfreude?

Bevor sie sich entscheiden konnte, wurde der Wagen heftig nach rechts gerissen.

»Scheiße, Entschuldigung!«, rief Connor aus. Aber das Paar, das gerade die Straße überquerte, hatte bestimmt nicht damit gerechnet, dass jemand um ein Uhr in der Weihnachtsnacht mit knapp 90 Stundenkilometern an ihnen vorbeirasen würde.

Hawkins prüfte ihren Sicherheitsgurt und spürte das Adrenalin in ihrem Körper.

In wenigen Minuten konnten sie vielleicht die bedeutendste Verhaftung ihrer Karriere durchführen – oder vor der Leiche des nächsten Opfers stehen. Oder sie mussten einer verwirrten Frau erklären, was sie dazu gebracht hatte, sie und ihren neuen Freund mitten in der Nacht aus dem Bett zu holen.

Zwei Gedanken rasten durch ihren Kopf: Zum einen würde sie fast alles darum geben, wenn sie persönlich diese Verhaftung durchführen könnte, zum anderen war sie jetzt sicher, dass Mike tatsächlich voll Vorfreude war; aber vielleicht hatten seine Augen auch nur ihre eigene Begeisterung widergespiegelt.

Die Gebäude draußen glitten jetzt langsamer vorbei.

Sie befanden sich in der Old Queen Street.

Maguire und Connor schauten nach rechts und links und suchten nach Hausnummern. Hawkins wischte das Kondenswasser von der Seitenscheibe und strengte sich an, um keine Bewegung zu verpassen. Dort draußen in der Dunkelheit konnte jeden Moment der flüchtende Mörder sichtbar werden.

Sie waren nur ein paar hundert Meter von den Rändern der Londoner City entfernt: Zum Finanzministerium und zum Außenministerium war es nicht mal einen Kilometer weit, zur Downing Street zu Fuß gerade mal zwei Minuten. Die Straße wirkte verlassen, aber sie selbst war völlig aufgewühlt. Der Schauer, der ihr über den Rücken lief, hatte nichts mit der winterlichen Kälte zu tun.

Für mindestens zwölf Minuten, so lange, bis ihre Verstärkung eintraf, waren sie jetzt auf sich allein gestellt.

»Achtundfünfzig«, sagte Connor und lenkte den Wagen in eine Parklücke. »Das ist nahe genug.«

Hawkins zog den Mantel enger, als sie ausstieg. In der kalten Nachtluft war ihr Atem deutlich zu sehen. Dicke weiße Flocken fielen still und leise vom Himmel. Der Schnee dämpfte die Geräusche der Stadt und verursachte eine eigenartige Ruhe. Da die Temperaturen tagsüber gestiegen waren und es geregnet hatte, blieben die Schneeflocken jetzt erst liegen.

Hawkins ging voran, während Connor mit der Fernbedienung die Autotüren schloss.

»Okay«, sagte sie. »Ganz ruhig. Wir haben auf jeden Fall den Überraschungseffekt auf unserer Seite.«

»Ein schwacher Trost«, flüsterte Connor.

Während sie vorangingen, schimpfte Hawkins leise auf jeden Hausbesitzer, der zu bequem war, eine Hausnummer anzubringen oder zumindest für ausreichend Beleuchtung zu sorgen. Sie machte die Nummern 52 und 46 ausfindig, aber die dazwischen waren nicht zu sehen. Einen Fehler konnten sie sich nicht leisten. Sie bemerkte auch, dass es zwischen den Häusern Passagen gab.

»Diese Durchgänge führen zur Rückseite, das ist nicht schlecht.« Sie zog die beiden Funkgeräte heraus und reichte Connor eins davon. »Sie gehen hinten rum. Wir sprechen uns über Funk ab. Aber seien Sie so leise wie möglich.« Sie überprüfte, ob ihr Funkgerät eingeschaltet war. »Falls Nemesis tatsächlich hier sein sollte«, fuhr sie fort, »nehme ich es auf meine Kappe, wenn Sie schießen müssen. Ich möchte, dass dieser Mistkerl gestoppt wird, verstanden?«

Connor nickte und heftete das Gerät an seinen Jackenaufschlag. Hawkins tat es ihm nach.

»Da« sagte Mike, hielt an und deutete nach vorn. »Sechsunddreißig.«

Neben dem Eingang des Hauses prangte eine weiße Keramikplatte mit der Hausnummer. Die massive Holztür allerdings sah aus, als wäre es unmöglich, dort gewaltsam einzudringen. Die Vorhänge waren geschlossen, aber über den Rand des Fensters lief ein heller Streifen.

Die Lichter im vorderen Zimmer waren eingeschaltet.

Hawkins schaute Mike an. Der nickte: Das könnte es sein.

»Wir warten, bis Sie hinten angekommen sind«, sagte sie zu Connor. »Gehen Sie jetzt.«

Connor zog seine Pistole aus dem Halfter und lief auf den nächstgelegenen Durchgang zu. Hawkins sah ihm nach und wandte sich an Mike. »Bist du bereit?«, flüsterte sie.

»Immer.«

Sie gingen auf die Haustür zu. Ein leises Rauschen ertönte und signalisierte, dass Connor den Sprechknopf seines Funkgeräts betätigt hatte.

»Bin hinten angekommen.« Es war kaum mehr als ein Flüstern. »Da ist ein Vorhang, ich kann nicht hineinsehen. Kein Garten. Hintertür führt direkt in eine Gasse.«

Hawkins hörte, wie er den Sprechknopf losließ, und drückte auf ihren eigenen. »Gut. Bleiben Sie da und warten Sie.«

Sie schaute auf ihre Armbanduhr. Die Verstärkung würde erst in zehn Minuten eintreffen, aber diese zehn Minuten konnten darüber entscheiden, ob sie ein Opfer oder eine Leiche vorfanden. Sie schaute Mike an und hob die Hand, um an der Tür zu klingeln.

»Es geht los«, sagte sie ins Funkgerät.

Sie klingelte zweimal. Ihr Herz pochte bis zum Hals. Sekunden verstrichen. Sie drückte wieder auf den Sprechknopf. »Hinten etwas Neues?«

»Bis jetzt nicht.«

»Ich versuch’s noch mal.« Sie klingelte zum zweiten Mal.

»Warte.« Connors Stimme klang angespannt, aber ruhig. »Da drinnen bewegt sich was. Ich glaube, er kommt raus.«

Sie hörten etwas, das klang, als würde jemand ein Türschloss betätigen.

»Polizei. Stehen bleiben, keine Bew…«, hörte sie Connor rufen, dann: »Wa…?«

Rauschen im Funkgerät, ein lautes Klicken, und die Verbindung war abgebrochen.

»Scheiße.« Sie schaute Mike an. »Der Taser.«

Sie wandten sich um und rannten zum Durchgang. Mike voran, aber beide mussten sie mit dem glitschigen Schnee unter ihren Füßen kämpfen. Hawkins gelang es, dicht hinter ihm zu bleiben, weil sie noch immer die Laufschuhe trug, die sie nachmittags angezogen hatte.

Als sie die Hausecke erreichten, peitschten zwei Schüsse durch die Nacht.

»Eddie?«, rief sie laut.

Es kam keine Antwort, und sie sprinteten weiter, bis Mike am Ende des Durchgangs jäh anhielt. Hawkins kämpfte ihren Drang weiterzurennen nieder und warf sich neben ihm gegen die Hauswand. Es war möglich, dass der Verdächtige jetzt bewaffnet war.

»Zentrale, wir haben einen Schusswechsel«, gab sie atemlos durch, während sie zusah, wie Mike kurz durchatmete, dann ganz schnell einen Blick hinter das Haus warf und den Kopf blitzschnell wieder zurückzog.

»Er rennt weg«, sagte er und verschwand um die Hausecke.

Hawkins’ Augen hatten sich noch nicht ganz an die Dunkelheit gewöhnt. Sie folgte Mike eine schmale Gasse entlang. Hier war es noch dunkler, rechts und links standen hohe Reihenhäuser.

Kurz wurde ihr die Sicht von Mike verstellt, dann hörte sie Schritte weiter vorn in der Gasse. Sie trat zur Seite und reckte sich, um etwas zu erkennen. Eine Gestalt wurde sichtbar.

Etwa fünfzig Meter entfernt lief ein Schatten vor ihnen davon.

Nemesis.

»Oh verdammt, nein.« Mike blieb abrupt vor ihr stehen. Hawkins wandte sich von dem Flüchtenden ab und schaute zu Boden.

Es war, als hätte ihr jemand einen Tiefschlag verpasst.

Connor lag da wie ein gefällter Baum. Im frischen Schnee breitete sich ein roter Kreis aus. Sein Blick flackerte, Hals und Wange waren von den Schüssen zerfetzt.

»Scheißkerl!«, rief Mike aus, als er das Funkgerät von Connors Jacke abnahm und hinter dem Flüchtenden herrannte. »Antonia, hol den Wagen.«

Hawkins konnte nicht antworten. Sie kämpfte mit den Tränen, als sie sich über ihren Kollegen beugte und sanft seine Schulter berührte.

»Eddie«, hauchte sie, während sie hilflos zusehen musste, wie Connors Augenlider ein letztes Mal zuckten und dann erstarrten. Sogar in diesem düsteren Zwielicht konnte sie erkennen, dass er tot war.

»Antonia?«

Sie sprang auf und starrte die Gasse entlang. Sie konnte nur Schneeflocken inmitten der schwarzen Nacht erkennen. Sie entspannte sich, als ihr klar wurde, dass die Stimme aus dem Funkgerät kam. Sie hörte die Schritte, die sich entfernten, und sah, dass Mike am Ende der Gasse angelangt war.

»Antonia? Mike?« Brians Stimme klang verzerrt. »Was zum Teufel ist denn los?«

»Ein Beamter erschossen«, sagte sie und suchte in Connors Taschen nach den Autoschlüsseln. »Schicken Sie Krankenwagen und Hubschrauber. Nemesis ist hier und zu Fuß auf der Flucht.«

Brian sagte etwas, das sie nicht verstand. Sie fand die Schlüssel, warf noch einen kurzen Blick auf Connor, bevor sie sich umdrehte und zum Wagen rannte. Sie ließ ihn nur ungern dort liegen, aber die Einsatzteams waren unterwegs, und dies war vielleicht ihre einzige Chance, Nemesis zu fassen.

»Mike«, rief sie. »Ich bin beim Auto. Welche Richtung?«

Ein Zischen ertönte, dann hörte sie Mikes Stimme: »Er ist direkt zur Old Queen Street gerannt und dann … quer rüber.« Er keuchte, während er im Laufschritt redete. »Kommt wahrscheinlich … vorm Eingang … St. James’s Park raus.«

»Bleib dran«, erwiderte sie und war sich gleichzeitig bewusst, dass Mikes Ortsangaben auch direkt in die Zentrale übertragen wurden. »Ich bin unterwegs.«

Sie riss die Wagentür auf, ließ sich auf den Fahrersitz fallen und steckte den Schlüssel ins Schloss. Der Motor heulte auf, und Schneematsch spritzte, als sie mit durchdrehenden Reifen losfuhr. Sie schaltete Blaulicht und Martinshorn ein.

»Er läuft jetzt … Birdcage Walk …« Mike rang immer mehr nach Atem. »… Richtung Buckingham Palace. Ich glaube, ich, ich … komme näher …«

Hawkins fluchte vor sich hin. Sie fuhr genau in die entgegengesetzte Richtung, und es gab nicht genug Platz zum Wenden. Sie erreichte das Ende der Old Queen Street, ließ den Motor erneut aufheulen, bremste nur so weit ab, dass sie die Kurve schaffte, und nahm für den Fall, dass noch andere Autos unterwegs wären, einen Unfall in Kauf.

Die Straße war vollkommen leer, sie schlitterte mit dem Astra über die Abbiegerspur und bog scharf links auf die Straße, die am St. James’s Park entlangführte. Sie schaltete die Scheibenwischer ein und starrte nach vorn.

»Bin jetzt auf dem Birdcage Walk«, rief sie über das Sirenengeheul hinweg. »Wo bist du?«

»Rechte Seite.« Mikes Stimme klang blechern im Lautsprecher des Funkgeräts. »Verdammt, der Mistkerl ist … schnell.«

Sie spähte durch den dichter werdenden Schnee und versuchte, eine Bewegung wahrzunehmen. Hinter den Bäumen, die die Straße säumten, lag eine weiße Fläche. Zwei Autos kamen ihr entgegen, die Lichter blendeten sie. Als sie ein Stück weitergekommen war, sah sie Mike vor sich auf dem Bürgersteig rennen. Und dann, ungefähr fünfundzwanzig Meter weiter vorn, die Umrisse des fliehenden Killers.

»Ich bin dicht hinter dir«, gab sie Mike durch. »Ich versuch, ihm den Weg abzuschneiden.«

Sie schaltete herunter und drückte das Gaspedal durch. Die Räder drehten durch, bevor sie wieder greifen konnten, sie raste an Maguire vorbei.

»Lauf weiter«, rief sie. »Ich fahr um ihn herum.«

Sie schaltete einen Gang hoch und näherte sich Nemesis, der im Schatten unter den Bäumen entlanghastete, parallel zum Zaun, der den Park umschloss.

Wenn Hawkins einen Bogen fuhr und die Geschwindigkeit korrekt berechnete, dann konnte sie ihn abblocken. Wenn er langsamer wurde, konnte Mike zu ihm aufschließen … und da Nemesis wahrscheinlich bewaffnet war, wäre es das Beste, ihn mit dem Wagen anzufahren.

Sie hielt den Atem an und spähte nach vorn. Kein Verkehr. Sie bog auf die Gegenfahrspur. Sie war jetzt auf gleicher Höhe mit ihm. Noch ein paar Meter, und sie konnte ihm den Weg abschneiden.

Bestimmt hatte er das Martinshorn gehört und konnte sich ausrechnen, dass sie vorhatte, ihn abzufangen. Trotzdem hielt er nicht inne. Er wandte nicht mal den Kopf.

Eine Millisekunde später wusste sie, warum.

Nemesis war verschwunden.

»Nein!« Hawkins schnappte nach Luft und lenkte den Wagen wieder zurück auf die richtige Straßenseite. »Mike, er ist in den Park abgebogen. Ich kann nicht hinterher.«

»Ich bin immer noch hinter ihm. Hauptweg, Richtung Norden«, gab Mike durch. »Fahr … herum. Er will bestimmt nicht im Park … umzingelt werden.«

»Sei vorsichtig.« Hawkins wandte sich wieder der Straße zu. Vor ihr lag eine Schwelle zur Geschwindigkeitsbegrenzung. Sie traf mit voller Wucht darauf, die Erschütterung erfasste das ganze Auto. Sie fluchte, weil ihr gerade in den Sinn kam, dass sie in der Gasse nicht nach Connors Waffe gesucht hatte.

Sie schüttelte den Kopf. Konzentrier dich. Falls die Pistole noch in der Old Queen Street lag, würden die Sanitäter sie aufsammeln. Wenn Nemesis sie mitgenommen hatte, würde er sie wahrscheinlich loswerden wollen, damit sie nicht als Beweismittel gegen ihn dienen konnte. Hoffte sie jedenfalls.

»Er läuft auf die … Brücke zu.« Mikes Stimme war eine willkommene Ablenkung, als sie gerade über die zweite Schwelle rumpelte. »Wo … du?«

»Kurz vor dem Kreisel.« Sie schaltete zurück und nutzte den Motor als Bremse. Es gab nur eine Brücke im St. James’s Park, sie führte über den See in der Mitte und auf ein Netz von Wegen auf der nördlichen Seite zu. Offenbar wollte Nemesis gerade hindurch, um dort den Park wieder zu verlassen.

»Ich fahr zum Nordausgang und versuche, ihm den Weg abzuschneiden«, sagte sie. »Mike, falls er umdreht …«

»Weiß schon«, gab er zurück. »Ich geh kein Risiko ein.«

Weiter vorn schimmerten die Lichter des Buckingham Palace durch das Schneetreiben. Hawkins beachtete die Verbotsschilder am Ende der Einbahnstraße nicht und lenkte den Astra an der westlichen Seite des Parks entlang.

Sie nahm nur den Fuß vom Gaspedal, wenn vor ihr Scheinwerfer erschienen und ein entgegenkommendes Taxi gezwungen war, abzubremsen und auszuweichen. Hawkins bog in die Straße hinter dem Kreisel ein und raste nun schlingernd die nördliche Seite des Parks entlang.

»Ich bin auf der Mall.« Sie ließ den Sprechknopf des Funkgeräts los und wartete auf eine Antwort. Eine Sekunde später sah sie hundert Meter vor sich das Haupttor.

»Mike?« Sie drehte die Lautstärke ganz auf und horchte konzentriert. Nichts.

Eine einzelne Gestalt erschien bei den hohen Eisentoren. Sie wandte sich nach rechts und rannte im Schatten der Bäume die Straße entlang.

Das musste Nemesis sein.

Hawkins drückte das Gaspedal erneut durch und atmete erleichtert auf, als sie Mike auf dem Gehweg auftauchen sah. Er deutete die Mall hinauf, als er sie bemerkte, und hob eine Hand, um sein Funkgerät zu bedienen.

»Fahr. Ich … bleib hinter dir.«

Hawkins konzentrierte sich auf die Gestalt, die etwa fünfzig Meter vor ihr davonrannte.

»Der Verdächtige läuft die Mall rauf«, gab sie durch. »In östlicher Richtung. Zentrale, wo bleibt die Unterstützung?«

»Ist unterwegs«, hörte sie Brians angespannte Stimme. »Noch vier Minuten.«

»Und der Hubschrauber?«

»Observer 2 ist unterwegs, aber er braucht noch sechs Minuten.«

Hawkins schlug wütend auf das Lenkrad. »Wir brauchen die aber schneller hier. Wenn er in eine belebte Gegend kommt, verlieren wir ihn.«

Ihr Herz raste, während der Abstand sich auf zwanzig Meter verringerte. Fünfzehn. Dann zehn. Glücklicherweise verhinderten die hohen Mauern entlang der Straße, dass er zur Seite ausbrechen konnte. Es gab nur einen Fluchtweg für ihn und keine Möglichkeit, sich zu verstecken.

Aber was zum Teufel sollte sie jetzt machen? Die Leitplanken verhinderten, dass sie ihm direkt den Weg abschnitt. Und selbst wenn es ihr gelang, ihn aufzuhalten, war er sehr wahrscheinlich mit einem Taser und einer Pistole bewaffnet.

Allerdings hatte sie jetzt plötzlich ein anderes Problem.

Der Astra schlingerte nach rechts und wurde langsamer. Hawkins fluchte, lenkte dagegen und versuchte, wieder zu beschleunigen. Anscheinend war ein Reifen defekt, nachdem sie zu schnell über die Straßenschwellen gefahren war.

Das Lenkrad ließ sich kaum noch beherrschen, das Auto wurde langsamer, und ein schabendes Geräusch signalisierte ihr, dass der Reifen endgültig hin war. Sie fuhr auf der Felge.

»Scheiße!« Hawkins blieb mitten auf der Fahrbahn stehen und musste zusehen, wie sich der Abstand zwischen ihr und Nemesis wieder vergrößerte.

»Toni«, hörte sie Mikes verzerrte Stimme im Funkgerät. »Was ist los?«

»Reifen ist platt. Ich muss zu Fuß hinter ihm her.«

»Nein, Antonia …«, mehr konnte Hawkins nicht verstehen, als sie aus dem Auto sprang. Kalte Schneeflocken flogen ihr ins Gesicht, schmolzen und vermischten sich mit dem Schweiß. Sie rannte los, ohne sich noch einmal umzusehen. Hinter sich hörte sie Mikes Schritte. Er konnte nicht sehr weit entfernt sein.

Sie konnte Nemesis noch immer sehen, seine Silhouette zeichnete sich dunkel über der weißen Schneedecke ab, die die Mall inzwischen bedeckte. Nach der anstrengenden Verfolgungsjagd durch den Park war er offenbar ermüdet und langsamer geworden.

Sie holte eindeutig auf.

Am besten wäre, wenn sie ihn weiterverfolgte und im Blick behielt, ohne ihn ganz zu erreichen, bis die Verstärkung eintraf. Aber wegen des Zeitverlustes durch ihren kaputten Reifen gelang es Nemesis, eine Abzweigung zu erreichen – auch wenn er dort die Schatten verlassen musste.

Hawkins bemühte sich, eindeutige Merkmale der Gestalt vor ihr auszumachen, als sie jetzt in den gelben Schein einer Straßenlaterne tauchte. Sie bemerkte, dass er einen dunkelblauen Overall und eine Baseballmütze trug, dann verschwand er um die Ecke, auf die Treppen des Duke of York Memorial zu.

Hawkins nahm noch mal alle Kraft zusammen und sprintete um die Ecke herum. Vor ihr hatte Nemesis bereits den Treppenabsatz erreicht und nahm jetzt zwei Stufen auf einmal, aber er kam nur mühsam voran.

An der Treppe standen zwei junge Männer und starrten ihm hinterher.

»Polizei!«, rief Hawkins, als sie an ihnen vorbeirannte. »Bleiben Sie … stehen!«

Sie erreichte den Treppenabsatz und versuchte mit dem ersten Sprung, drei Stufen zu nehmen. Aber sie blieb an der dritten hängen und stolperte. Sie schrie laut auf, als sie mit dem Knie auf der steinernen Kante aufprallte, richtete sich wieder auf und schaute nach oben. Wie viele Meter hatte sie verloren?

Nemesis hatte jetzt die dritte Treppe erreicht. Hawkins stolperte mit schmerzendem Knie hinterher. Der Abstand war deutlich größer geworden, aber im hellen Licht der umstehenden Laternen konnte sie jetzt mehr Einzelheiten ausmachen. Nemesis trug über seinem Overall einen Rucksack. Sein Kopf wurde von etwas Dunklem eingerahmt, entweder war das eine Kapuze, oder er hatte langes Haar.

»Der Verdächtige … läuft nördliche Richtung … entfernt sich von der Mall«, krächzte sie ins Funkgerät. »Wird die Treppen runterkommen … bei Waterloo Gardens. Versuche … Blickkontakt zu halten.«

Aber sie hatte erst die zweite Treppe des Monuments geschafft, als Nemesis weiter oben aus ihrem Blickfeld verschwand.

Sie hörte die Polizeisirenen in der Ferne, während sie weiter hinaufhumpelte. Die letzten fünfzehn Meter rannte sie sogar. Aber als sie hinter den Toren anhielt, wurde ihr klar, dass ihre schlimmsten Befürchtungen wahr geworden waren.

Dunkle, verlassene Straßen erstreckten sich in drei verschiedene Richtungen, jede von ihnen von Bäumen gesäumt, deren Äste verhindert hatten, dass der Schnee bis auf den Boden gefallen war. Die dünne Spur im Schnee, die ihnen einen Hinweis darauf hätte geben können, in welche Richtung Nemesis unterwegs war, hörte unter dem ersten Baum auf.

Sie hob verzweifelt die Arme, ihr Herz pochte heftig, während sie jede seiner möglichen Fluchtwege in Augenschein nahm.

Mike trat zu ihr, auch er war völlig außer Atem. Er schaute sie fragend an. Sie sagte nichts, sondern ließ jetzt den Kopf hängen.

Er war ihnen entwischt.

Der Adventkiller
cover.html
978-3-641-14559-0.html
978-3-641-14559-0-1.html
978-3-641-14559-0-2.html
978-3-641-14559-0-3.html
978-3-641-14559-0-4.html
978-3-641-14559-0-5.html
978-3-641-14559-0-6.html
978-3-641-14559-0-7.html
978-3-641-14559-0-8.html
978-3-641-14559-0-9.html
978-3-641-14559-0-10.html
978-3-641-14559-0-11.html
978-3-641-14559-0-12.html
978-3-641-14559-0-13.html
978-3-641-14559-0-14.html
978-3-641-14559-0-15.html
978-3-641-14559-0-16.html
978-3-641-14559-0-17.html
978-3-641-14559-0-18.html
978-3-641-14559-0-19.html
978-3-641-14559-0-20.html
978-3-641-14559-0-21.html
978-3-641-14559-0-22.html
978-3-641-14559-0-23.html
978-3-641-14559-0-24.html
978-3-641-14559-0-25.html
978-3-641-14559-0-26.html
978-3-641-14559-0-27.html
978-3-641-14559-0-28.html
978-3-641-14559-0-29.html
978-3-641-14559-0-30.html
978-3-641-14559-0-31.html
978-3-641-14559-0-32.html
978-3-641-14559-0-33.html
978-3-641-14559-0-34.html
978-3-641-14559-0-35.html
978-3-641-14559-0-36.html
978-3-641-14559-0-37.html
978-3-641-14559-0-38.html
978-3-641-14559-0-39.html
978-3-641-14559-0-40.html
978-3-641-14559-0-41.html
978-3-641-14559-0-42.html
978-3-641-14559-0-43.html
978-3-641-14559-0-44.html
978-3-641-14559-0-45.html
978-3-641-14559-0-46.html
978-3-641-14559-0-47.html
978-3-641-14559-0-48.html
978-3-641-14559-0-49.html
978-3-641-14559-0-50.html
978-3-641-14559-0-51.html
978-3-641-14559-0-52.html
978-3-641-14559-0-53.html
978-3-641-14559-0-54.html
978-3-641-14559-0-55.html
978-3-641-14559-0-56.html
978-3-641-14559-0-57.html
978-3-641-14559-0-58.html
978-3-641-14559-0-59.html
978-3-641-14559-0-60.html
978-3-641-14559-0-61.html
978-3-641-14559-0-62.html
978-3-641-14559-0-63.html
978-3-641-14559-0-64.html
978-3-641-14559-0-65.html
978-3-641-14559-0-66.html
978-3-641-14559-0-67.html
978-3-641-14559-0-68.html
978-3-641-14559-0-69.html
978-3-641-14559-0-70.html
978-3-641-14559-0-71.html
978-3-641-14559-0-72.html
978-3-641-14559-0-73.html
978-3-641-14559-0-74.html
978-3-641-14559-0-75.html
978-3-641-14559-0-76.html
978-3-641-14559-0-77.html
978-3-641-14559-0-78.html
978-3-641-14559-0-79.html
978-3-641-14559-0-80.html
978-3-641-14559-0-81.html
978-3-641-14559-0-82.html
978-3-641-14559-0-83.html
978-3-641-14559-0-84.html
978-3-641-14559-0-85.html
978-3-641-14559-0-86.html
978-3-641-14559-0-87.html
978-3-641-14559-0-88.html
978-3-641-14559-0-89.html
978-3-641-14559-0-90.html
978-3-641-14559-0-91.html