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»Antonia, hier spricht deine Mutter. Es ist Dienstagmorgen. Dein Vater sagt, du hast dir zu Weihnachten wieder Gutscheine von diesem Laden für Geschäftskleidung gewünscht. Er wäre sicher am Boden zerstört, wenn er wüsste, dass ich dich darauf anspreche, aber er hofft sehr, dass du dir dieses Jahr vielleicht etwas Feminineres anschaffen könntest. Ehrlich gesagt macht er sich Sorgen um deine Gesundheit. Also bitte, mach ihn nicht unglücklich, indem du wieder über die Feiertage arbeitest. Deine Tante Joyce und …«
Hawkins löschte die Nachricht auf ihrem Handy. Zwei Dinge würde ihre Mutter nie verstehen: zum einen, dass Alan Hawkins ein zutiefst ausgeglichener Mensch war, der wahrscheinlich seit 1978 keinen Stress mehr gehabt hatte – schon gar nicht wegen der Arbeitskleidung seiner Tochter. Und zum anderen, dass ihre Tochter, wenn sie den Mörder bis dahin nicht gefasst hatte, zum ersten Mal seit acht Jahren dienstliche Gründe als Entschuldigung für ihr Fehlen nicht vorschützen müsste.
Hawkins ließ das Handy in ihre Schultertasche fallen und betrat die U-Bahn-Station. Sie war auf dem Weg zu Scotland Yard. Abgesehen davon, dass ihre Mutter sich gern mal in die Angelegenheiten anderer Menschen einmischte, war sie recht verträglich. Christine Hawkins hatte früher als Krankenschwester gearbeitet und war es gewohnt, Menschen vorzuschreiben, was gut für sie war. Diese Angewohnheit konnte sie auch als Rentnerin nicht mehr abstellen.
Hawkins benutzte ihre Abo-Karte an der Sperre und erreichte den Bahnsteig, als der Zug einfuhr. Der morgendliche Berufsverkehr war vorbei, und sie fand sofort einen freien Sitzplatz. Leider sprachen die drei anderen Fahrgäste über das leidige Thema.
»Ich werde mich doch nicht zu Hause einschließen, bloß weil da draußen so ein Psychopath herumrennt«, sagte die blonde junge Frau. »Den zu treffen wäre doch total unwahrscheinlich.«
»Jetzt erwischt es dich garantiert«, sagte ihre Freundin, die gestrickte Leggings trug. »Das ist nämlich in Horrorfilmen immer so bei denen, die sagen: ›Ich geh nur mal kurz raus‹!« Sie brachen in lautes Gelächter aus.
Blondie und Leggings saßen Hawkins gegenüber. Keine hatte während der Unterhaltung von ihrem jeweiligen Handy aufgesehen. Die dritte im Bunde trug eine Menge Armreifen, spielte mit ihren geflochtenen Haarsträhnen und den großen rosa Ohrringen, während sie ihr Spiegelbild im schwarzen Nichts draußen vor dem U-Bahn-Fenster anstarrte.
»Meine Freundin Sophie wohnt da in der Nähe, wo sie die zweite Leiche gefunden haben«, sagte sie. »Sie hat furchtbare Angst und geht seitdem kaum noch aus dem Haus. Und dann macht sie mich über Facebook an, weil ich sie nicht besuche.«
»Die ist bloß paranoid«, sagte Blondie. »Sind doch alle. Wenn du mit uns abhängst, passiert dir nichts. Er vergreift sich doch nur an Frauen, die allein sind.«
Der Zug hielt an der nächsten Station, und die drei Mädels machten sich auf den Weg zur Tür.
Hawkins schaute ihnen nach. Obwohl sie einen nicht unerheblichen Teil ihres Lebens damit zubrachte, das Leben von jungen Menschen wie diesen dreien zu schützen, und alt genug war, um ihre Mutter sein zu können, spürte sie nicht die geringsten mütterlichen Gefühle.
Das war auch so ein Streitpunkt zwischen ihr und Paul gewesen.
Du bist jetzt fünfunddreißig, Toni, hatte er immer gesagt. Deinen Beruf kannst du doch in ein paar Jahren weiter ausüben.
Blöde Bevormundung.
Sie riss sich zusammen. Angesichts dieses Falls und nach einer schlaflosen Nacht war ihre schlechte Laune kein Wunder. Sie hoffte nur, Hunter behielte nicht recht mit seiner These, dass der Täter immer blutrünstiger wurde. Das Nachgrübeln darüber hatte ihr auch nicht gerade beim Einschlafen geholfen. Letzte Nacht hatte sie sich schließlich an den Schreibtisch gesetzt und die Beurteilungsbogen für drei ihrer Mitarbeiter ausgefüllt, um sich nicht auszumalen, mit welchem grausigen Szenario der Killer sie womöglich in fünf Tagen überraschte.
Am ersten Weihnachtstag.
Als sie dann doch noch einschlief, war das auch keine Erleichterung gewesen. Sie träumte davon, wie sie ihr erstes Weihnachtsgeschenk auspackte – es war ein abgeschnittener Kopf in einer Asservatentüte.
Sie erschauerte und wandte sich wieder der Zeitung zu, während der Zug weiterfuhr. Normalerweise waren die Medien ihr nicht wichtig, aber an diesem Morgen empfand sie alle Schlagzeilen als persönliche Angriffe. Zwar wurden keine Details über die Morde breitgetreten oder Bilder der Leichen gezeigt. Aber nun, wo es ein drittes Opfer gab – noch dazu ein prominentes –, wurde praktisch über nichts anderes mehr berichtet.
Auf der ersten Seite des Daily Mirror stand in fetten Buchstaben: DRITTES OPFER DER TODESLOTTERIE. Darunter war Jessica Anderton, das neueste Opfer, in ihrer ganzen Pracht abgebildet.
Die erste Tote, Glenis Ward, war zwar nicht als blendende Schönheit durchgegangen, schon gar nicht in den letzten dreißig Jahren, aber ein eifriger Rechercheur hatte das Familienalbum der Familie Ward in die Hände gekriegt und ein Schwarzweißfoto der vierundzwanzigjährigen Glenis gefunden, auf der sie als Zweitplatzierte eines Schönheitswettbewerbs zu sehen war.
Hör auf damit.
Daneben war ein Foto des zweiten Opfers abgedruckt. Tess Underwood war vergleichsweise jung gewesen, und ihr halbwegs attraktives Äußeres bescherte ihr ein etwas größeres Format. Aber das mit Weichzeichner aufgenommene, eher kitschig wirkende Bild war nichts gegen das, was die verbleibenden achtzig Prozent der Seite einnahm.
Die Boulevardpresse brauchte selten einen triftigen Grund, um Fotos von Frauen abzudrucken, die nur halb so gut aussahen wie Jessica Anderton. Nun, wo sie im Mittelpunkt des Interesses stand und auch keine Möglichkeit mehr hatte, Einspruch zu erheben, nahm die Journaille kein Blatt mehr vor den Mund.
Leider war es auch den Zeitungen nicht gelungen, die drei Frauen in einen Zusammenhang zu bringen. Stattdessen verbreitete der Mirror die Zufallstheorie und druckte einen Stadtplan ab, auf dem die Tatorte eingezeichnet waren. Dazu kamen einige Tipps, wie man verhindern konnte, selbst zum Opfer zu werden. Die Vorschläge, man solle nach Einbruch der Dunkelheit die Wohnung nicht verlassen, die Türen abschließen oder sich zu einer Nachbarschaftswache zusammenschließen, klangen in der Vorweihnachtszeit wenig realistisch.
Hawkins blätterte um.
Die nächste Seite war übersät mit Fotos der Andertons unter der Überschrift: DAS ENDE VOM DOWNING-STREET-MÄRCHEN. Hochzeitsfotos von Charles und Jessica Anderton mit dem Premierminister waren zu sehen und einige, die auf der letzten Party der Beckhams aufgenommen waren. Das Bild von Charles Anderton beim Verlassen seines Büros stammte vom Vortag, kurz nachdem Hawkins dort gewesen war.
Anderton war in seine Wohnung im Wahlkreis zurückgekehrt, nachdem er an einer Versammlung in Bath teilgenommen hatte. Offenbar hatte er nicht vorgehabt, nach Hampstead zu fahren, und mit seiner Frau seit Samstagnachmittag nicht mehr telefoniert.
Hawkins war im wahrsten Sinne des Wortes mit ihm zusammengestoßen, als er gerade aus der Tür trat. Sein aschfahles Gesicht machte ihr deutlich, dass sie ihm nichts Neues mitteilte. Man wurde schließlich nicht Kulturminister, ohne gut vernetzt zu sein. Da die Presse schon vom Tod seiner Frau wusste, war es keine große Überraschung, dass auch Anderton unterrichtet war. Was Hawkins’ lästige Pflicht trotzdem nicht einfacher machte.
Seine Miene blieb reglos, während sie ihn in Begleitung einer eigens für solche Situationen ausgebildeten Beamtin offiziell über den Tod seiner Frau informierte und ihm versicherte, dass sie alles tun würden, um den Mörder zu finden.
Als sie ihm die Hand schüttelte, wurde ihr klar, dass das berühmte Charisma des Politikers mit dem Dahinscheiden seiner Frau erloschen war, zumindest für die nächste Zeit. In seinem Maßanzug sah er regelrecht geschrumpft aus, sein silbernes Haar wirkte nur noch grau, und die Falten in seinem Gesicht, die man gewöhnlich seiner Lebenserfahrung zuschrieb, wiesen bloß darauf hin, dass er deutlich auf die sechzig zuging.
Hawkins fühlte sich schuldig, weil ihre Entscheidung, ihm die schlechte Nachricht persönlich zu überbringen, auch mit ihrem Verdacht zu tun gehabt hatte, er selbst könne hinter dem Mord an seiner Frau stecken.
Es war das erste Mal, dass sie einen Politiker weinen sah.