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Eigentlich war es nur ein kurzes Stück den Broadway entlang. Aber als Antonia Hawkins im Ausgang der U-Bahn-Station St. James’s Park stand, fragte sie sich angesichts des Regens, warum sie Paul kampflos das Auto überlassen hatte. Zwar traf er sich mit ihren gemeinsamen Freunden häufiger als sie, aber das bedeutete ja nicht, dass sie seit ihrer Trennung keine sozialen Bedürfnisse mehr hatte.

Ohne eigenen Wagen war es extrem schwierig, die vielen Termine wahrzunehmen, die sie jeden Tag hatte. Heute Morgen war sie schon vor sieben Uhr im Büro gewesen und hatte den Papierkram, für den sie normalerweise einen halben Tag benötigte, innerhalb einer dreiviertel Stunde erledigt. Immerhin funktionierte ihr sechster Sinn für alles Bürokratische weiterhin gut.

Festlich gestimmte Menschenmengen überall, Schirme stießen gegeneinander, alle waren bemüht, sich in den Verkehrsstrom einzufügen. Hawkins trat zurück, als eine Gruppe geschwätziger Jugendlicher sich aus der Menge löste und auf den Eingang zusteuerte. Sie rauschten in wildem Durcheinander vorbei. Die älteren Jungs warfen ihr im Vorbeigehen abschätzende Blicke zu.

Sie setzte einen angewiderten Gesichtsausdruck auf und suchte nach einer Möglichkeit, sich entlang der Straße unter Dach fortzubewegen, aber da war nichts. Zu warten, bis der Regen nachließ, war nicht möglich, denn Lawrence Kirby-Jones erwartete sie. Und der nahm seine Rolle als Leiter der Spezialeinheiten viel ernster, als Hawkins es sich in ihren kühnsten Träumen ausgemalt hatte. Schwerwiegender war allerdings die Tatsache, dass er sie zum New Scotland Yard zitiert hatte, anstatt sie in seinem Büro in der Zentrale der Metropolitan Police in Hendon zu empfangen.

Während eines morgendlichen Telefonats hatte sie ihn von den bescheidenen Fortschritten bei den Ermittlungen unterrichtet. Die spärlichen Erkenntnisse ihres Teams bezüglich möglicher Schulden oder Gesetzeskonflikte der Opfer waren nicht ergiebig, und was sie sonst erfuhren, brachte sie auch nicht weiter: Glenis Ward war hypochondrisch veranlagt gewesen; Tess Underwood hatte vor ihrer Heirat einige Hypothekenraten nicht bedient; und Jessica Anderton hatte kürzlich massenweise Post von einem Bewunderer namens Derek bekommen. Besagter Derek war allerdings schon dreiundachtzig und kam als möglicher Täter nicht infrage. Der Kriminalbeamte, der ihn verhörte, hatte alle Hände voll zu tun, ihn zu trösten.

Kurz gesagt, auch weiterhin fand sich nichts, was die Opfer irgendwie miteinander verband.

Abgesehen von dem Versuch, eine Gemeinsamkeit bei den Ermordeten zu finden, blieb nur noch die Möglichkeit, den Mörder über den von ihm benutzten Taser ausfindig zu machen. Apropos …

Sie suchte nach ihrem Handy und wählte Frank Todds Nummer. Er und einige der neu hinzugekommenen Kollegen klapperten die Anbieter derartiger Waffen ab. Der private Besitz von Betäubungsgewehren und Elektroschockwaffen in Großbritannien war verboten, doch erste Recherchen hatten ergeben, dass jedes Jahr Hunderte dieser Geräte online bestellt wurden und unerkannt durch die Zollkontrolle gelangten. Inzwischen hatten sie die konventionellen Handfeuerwaffen bei Banküberfällen ersetzt und kamen mehr und mehr zum Einsatz.

Todd ging nach dem vierten Klingeln ans Telefon.

»Hallo, Frank, Antonia hier. Gibt’s was Neues bezüglich des Tasers?«

»In gewisser Weise, ja«, gab er trocken zurück. »Wir haben diesen Waffenexperten hinzugezogen, wie Sie vorgeschlagen haben. Er hat sich die Leichen angesehen und vermutet, dass bei allen dreien die gleiche Elektropistole mittlerer Stärke benutzt wurde. Einige Taser sind über eine Million Volt stark, aber dieser hier hat eher um die achtzigtausend. Der Mörder hat sich dieses Modell wahrscheinlich ausgesucht, weil es in großer Stückzahl verkauft wird und der Zoll nicht gleich Zeter und Mordio schreit, wenn er eins davon findet.«

»Und wie groß sind die Chancen, dass wir den Besitzer ausfindig machen?«

»Schwer zu sagen. Wir sind jetzt immerhin etwas genauer informiert, was die Waffe betrifft. Offenbar werden abnehmbare Stickstoff-Patronen verwendet, um die Projektile abzufeuern, aber die Waffe kann auch in direktem Kontakt mit dem Ziel benutzt werden, wenn keine Patrone vorhanden ist. Bislang hat er drei Patronen verbraucht, die er allerdings nicht zusammen mit der Waffe bestellt haben muss. Sie sind zehn Jahre lang haltbar, also können wir nicht wissen, wie lange er sie schon besitzt. Im Internet gibt es massenhaft Anbieter für so was.«

»Okay, Frank.« Hawkins überlegte kurz. »Bitten Sie doch den Zoll, uns eine Liste aller ähnlichen Waffen zu schicken, die in den letzten zehn Jahren beschlagnahmt wurden, inklusive der Adressen der Käufer. Der Mörder hat vielleicht noch stärkere bestellt, die bei der Kontrolle konfisziert wurden. Selbst wenn die Liste umfangreich ist, könnten wir mögliche Verdächtige identifizieren.«

Todd stimmte zu und legte auf.

Hawkins schaute auf die Uhr. Sie hatte keine Zeit mehr, Yasir anzurufen, die prüfte, ob der Mörder sich den Taser bei einem illegalen Waffenhändler in London besorgt hatte. Das war aber eher unwahrscheinlich. Solche Geschäfte wurden normalerweise persönlich getätigt, und er war bestimmt viel zu vorsichtig, um ein so hohes Risiko einzugehen. Möglich war es trotzdem.

Was die Tatzeit ein Uhr nachts betraf, hatte sie wenig Hoffnung. Bislang hatten sie diesen besonderen Zeitpunkt in keinen Zusammenhang bringen können. Barclay hatte sich angeboten zu überprüfen, ob die Vorgehensweise des Mörders vielleicht etwas mit Musik zu tun hatte. Seinem Bericht zufolge gab es einige Musikstücke oder Alben, die sich in ihrem Titel auf »ein Uhr nachts« bezogen. Er hatte sie sich alle angehört, aber keiner der Songs hatte einen Text, der mit einem Mord in Zusammenhang stand. Abgesehen davon gab es keine Filmzitate, Bibelstellen oder sonstigen kulturellen Bezüge. Falls der Zeitpunkt überhaupt von Bedeutung war, hatte er allein mit der Persönlichkeit des Täters zu tun. Also konnten sie den Sinn erst entschlüsseln, wenn sie wussten, wer es war.

Hawkins knöpfte sich die Jacke zu und trat unter dem schützenden Dach hervor. Eine Windböe peitschte ihr einen Schwall Regen ins Gesicht. Sie fluchte laut vor sich hin, weil sie den Schirm im Büro vergessen hatte. Passanten warfen ihr irritierte Blicke zu. Unbeeindruckt ging sie weiter und suchte Schutz hinter dem Rücken des größten Mannes, der in die gleiche Richtung wie sie unterwegs war, bis sie Scotland Yard erreichte. Währenddessen grübelte sie darüber nach, wie sie den momentanen Stand der Ermittlungen gegenüber ihrem Vorgesetzten vorteilhaft darstellen konnte.

Positiv war immerhin, dass der hohe Bekanntheitsgrad von Jessica Anderton das breite Publikum für den Fall sensibilisierte. Wenn in Zukunft alle wachsamer waren, würde es dem Mörder nicht mehr so leichtfallen, sein nächstes Opfer zu überwältigen.

Hawkins wischte sich die Regentropfen aus dem Gesicht und schaute die gläserne Fassade hinauf. Das Gebäude der Polizeibehörde wirkte wie jedes andere Bürohochhaus.

Sie näherte sich dem berühmten rotierenden Dreieck mit der Aufschrift »New Scotland Yard«. Eine Gruppe von dreißig Personen stand mit aufgespannten Regenschirmen in der Nähe. Das war nichts Besonderes. Die Zentrale der Londoner Polizei war nur fünf Minuten zu Fuß vom Buckingham Palace entfernt, und die meisten Stadtführer führten ihre Touristen auch hierher. Diese Gruppe war jedoch nicht nur größer als üblich, die Leute hatten auch bemerkt, dass sie auf den Eingang zusteuerte, und liefen auf sie zu.

Wie hatte sie nur so blauäugig sein können? Das waren natürlich keine Touristen. Das waren Journalisten.

Sie schob die hingehaltenen Aufnahmegeräte aus dem Weg, war aber nach wenigen Sekunden umringt.

»Haben Sie mit den Ermittlungen im Mordfall Anderton zu tun?«

»Ist schon jemand verhaftet worden?«

»Können sich die Frauen in London noch sicher fühlen, solange der Mörder auf freiem Fuß ist?«

Ihr zweiter Fehler war, dass sie bekannte, an dem Fall zu arbeiten, indem sie so einen dummen Kommentar abgab wie: »Wir werden offiziell dazu Stellung nehmen, wenn es so weit ist.« Das verstärkte nur den Ansturm, noch mehr Mikrofone wurden ihr vor die Nase gehalten. Sie kam überhaupt nicht mehr vorwärts.

Schließlich schaffte sie es auch noch, zu stolpern und einem dieser Idioten in die Arme zu fallen. Der Journalist grinste anzüglich und spottete darüber, wie entgegenkommend die Polizei doch neuerdings sei.

Als sie endlich drinnen war und ihren Ausweis vor den Scanner hielt, um durch die Sicherheitstüren zu gelangen, war sie nicht nur völlig durchnässt und total derangiert, sondern auch stocksauer.

Bebend vor Wut blieb sie in der Lobby stehen und starrte jeden finster an, der es wagte, sie anzusehen. Ihr wurde bewusst, dass es nur einen einzigen Grund gab, warum sie völlig zerzaust und beschämt noch hier stand und sich weiterhin dem Blick der Reporter auslieferte, die feixend durch die Glastüren starrten.

Sie hatte eine Verabredung – zu der sie bereits zu spät kam – mit ihrem Chef, der sie sogar schlecht behandelte, wenn sie pünktlich war.

Der Adventkiller
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