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Hawkins griff nach dem Handy, das auf dem Couchtisch lag, und drückte auf den Knopf, damit das Display aufleuchtete. Immer noch nichts.

Wo zum Teufel war er nur?

Die Zeitangabe auf dem Display zeigte zwanzig Uhr. Es war jetzt fast sechs Stunden her, seit Mike davongefahren war.

Und er hatte sich noch immer nicht gemeldet.

Sie legte das Handy wieder hin, lehnte sich zurück und haderte mit sich.

Sie hätte ihn beinahe angerufen. Mehrmals an diesem Nachmittag war sie kurz davor gewesen. Sie wollte sich entschuldigen. Außerdem wollte sie fragen, wie sie mit dem Fall vorankamen. Aber jedes Mal hatte ihr Stolz es verhindert.

Zu ihrem großen Verdruss musste sie zugeben, dass sie ohne einen Fall, in den sie sich verbeißen konnte, und ohne einen Freund, mit dem sie sich streiten konnte, nichts zu tun hatte und sich langweilte.

Sie überlegte, womit sie sich in den zwei Wochen ihrer Suspendierung beschäftigen könnte. Natürlich musste sie sich eine Verteidigungsstrategie zurechtlegen, aber sonst?

Ihr fiel ein, dass dies die Gelegenheit wäre, sich mit lange vernachlässigten Freunden zu treffen oder ihre Familie zu besuchen – falls überhaupt noch jemand sich an sie erinnerte. Und sie könnte sich um zahllose Dinge im Haushalt kümmern, die sie seit Monaten vernachlässigt hatte. Es war ganz normal, dass sie sich erst mal wieder eingewöhnen musste.

Trotzdem dachte sie die ganze Zeit über nur an ihre Arbeit.

Sie ertappte sich dabei, wie sie innerlich die morgendliche Dienstbesprechung plante oder wie sie darüber nachdachte, wen sie als Nächstes aus diesem oder jenem Grund anrufen sollte. Dann merkte sie, wie absurd das alles war, und fand sich vollkommen lächerlich.

Schließlich richtete sie ihre ganz Wut wieder auf Lawrence Kirby-Jones.

Und dann, nachdem sie alle Schimpfworte, die sie kannte, so laut wie möglich in seine Richtung gebrüllt hatte, wurde ihr bewusst, dass es draußen längst dunkel geworden war. Um diese Zeit sollte sie nicht hier zu Hause sein. Ganz allein.

Sie fluchte vor sich hin. Vorhin, als es noch hell gewesen war, hätte sie zu Eric fahren sollen. Aber jedes Mal, wenn sie aufbrechen wollte, hatte sie irgendwelche neuen Ausflüchte gefunden, es hinauszuschieben.

Zuerst hatte sie einfach keine Lust gehabt. Als das vorbei war, hatte sie sich eine Stunde lang eingeredet, dass es sowieso Quatsch war. Ihrer Meinung nach war Eric ein Hundertfünfzigprozentiger, der ständig in seinem Handbuch nachschlug, weil er die Vorschriften einhalten wollte. Na gut, er war eigentlich harmlos, aber jetzt um diese Zeit am Abend wäre er garantiert schon leicht angesäuselt, so wie sie ihn kannte. Weshalb er nicht mehr der ideale Beschützer wäre.

Sie konnte auch sehr gut selbst auf sich aufpassen.

Abgesehen davon war John Mitte der Woche verschwunden – Nemesis hatte wahrscheinlich andernorts alle Hände voll zu tun. Wenn sie eines inzwischen wussten, dann, dass er sich die Nacht von Samstag auf Sonntag für sein großes Ereignis reserviert hatte.

Dann fiel ihr wieder der blutige Handabdruck in Barclays Wohnung ein und belehrte sie eines Besseren. Sie stand auf und suchte ihre Sachen zusammen.

Eine Stunde später hatte sie genug Klamotten für eine ganze Woche eingepackt und die Reisetasche in den Flur gestellt. Dann wollte sie sich noch eine Tasse Tee zur Entspannung gönnen. Ihr letzter Fehler war, den Fernseher einzuschalten.

Auf der Suche nach Neuigkeiten über den Fall, dessen Ermittlungen sie gerne noch geleitet hätte, klickte sie sich durch die verschiedenen Nachrichtensender. Wie üblich blieb sie bei den BBC News hängen, wo im Augenblick nur zwei Themen behandelt wurden: Die üblichen Beiträge zum Jahresende wurden gelegentlich unterbrochen von Berichten, Spekulationen und Meinungen zum Fall Nemesis.

Normalerweise langweilte sich das Publikum auch bei sensationellen Fällen spätestens nach einem Monat oder so. Aber sogar nach fünf Wochen war der Fall des Serienmörders noch immer frisch und hatte nichts von seiner Faszination eingebüßt.

Der Adventkiller war in aller Munde, und nichts versetzte die Menschen mehr in Panik als die Medien, die ihnen die ganze Zeit vorführten, warum sie Angst haben sollten. Jetzt, nach Einbruch der Dunkelheit, berichteten Reporter aus den verschiedensten Vierteln im Stadtzentrum und in den Randgebieten. Zahlreiche Straßen wirkten ausgerechnet in dieser Nacht ungewöhnlich verlassen, überall herrschte ein Gefühl des Unbehagens vor.

Obwohl sie wusste, dass ein Durchbruch bei den Ermittlungen ziemlich unwahrscheinlich war, konnte sie nicht anders, als jede noch so winzige Information aufzusaugen, in der Hoffnung, dass es einen Fortschritt gäbe.

Der Bericht ging zu Ende, und ein Moderator mit feistem Hamstergesicht begann die übrigen Nachrichten vorzutragen. Sie schaute zu ihrem Handy, das auf dem Couchtisch lag.

Noch immer kein Anruf.

Sie stellte sich vor, wie Mike und die anderen im Team sich um Tristan Vaughn versammelten wie diensteifrige Jünger um ihren Guru. Und alle erinnerten sich genau an die Fehler, die ihre Exchefin gemacht hatte, und nahmen sich vor, sie nicht zu wiederholen. Und Curtis Rickman, der sich zurzeit noch in Untersuchungshaft befand, wurde garantiert entlassen, wenn sich bis dreiundzwanzig Uhr keine neuen Beweise fänden.

Was wäre, wenn niemand die Bewährungskommission davon unterrichtete, aus welchem Grund Rickman verhaftet worden war? Den normalerweise unbewaffneten Bewährungshelfern einen potenziellen Serienkiller zu übergeben konnte ziemlichen Ärger verursachen. Unwillkürlich griff sie nach ihrem Mobiltelefon. Dann stöhnte sie laut auf. All das war doch vollkommener Unsinn! Sie musste einfach akzeptieren, dass andere jetzt die Entscheidungen trafen. Abgesehen davon wäre jeder Versuch, Einfluss auf die laufenden Untersuchungen zu nehmen, in den Augen von Kirby-Jones ein schweres Dienstvergehen. Und nicht mal sie war so dumm, es darauf ankommen zu lassen.

»Dummkopf.« Sie ließ den Kopf zurückfallen und starrte zur Decke. »Dummkopf, Dummkopf, Dummkopf.«

Sie stand auf, ging in die Küche, zog die eine oder andere Schranktür auf und suchte ziellos nach irgendwelchen Knabbersachen, die natürlich nicht da waren. Jede Art von Ablenkung wäre ihr jetzt recht gewesen. War es vielleicht doch noch möglich, ihre ruinierte Karriere zu retten? Wäre das überhaupt erstrebenswert?

Vielleicht ist das ja ein Zeichen, hörte sie wieder Mikes Stimme in ihrem Kopf. Dass man etwas Neues versuchen soll?

Sie schlug die Tür des Küchenschranks zu. Was zum Teufel bildete er sich überhaupt ein, ihr Leben infrage zu stellen, für das sie so hart gearbeitet hatte? Aber wenn nicht einmal Mike sie verstand, wer denn sonst?

Paul?

Sie dachte kurz darüber nach. Dann ging sie zu ihrer Tasche und zog die Karte heraus, die er ihr gegeben hatte. Sie hatte eine seidige Oberfläche und geschmackvoll geschwungene Buchstaben. Konnte Paul sich nach sechs Monaten Trennung denn besser in sie hineinversetzen als Mike?

Sie schüttelte den Kopf und ließ die Karte in den Papierkorb fallen. Sie erinnerte sich an die lästigen Anrufe. Im Augenblick war sie wirklich nicht in der Verfassung, sich über ihre berufliche Zukunft oder irgendetwas anderes ernsthafte Gedanken zu machen.

Ihr Blick fiel auf die Digitaluhr an der Mikrowelle, die sie die ganze Zeit ignoriert hatte. 20:16. Sie seufzte resigniert und nahm eine der mit Magneten festgehaltenen Karten von der Kühlschranktür ab. Darauf stand die Nummer der Taxi-Zentrale. Regenbogenfarbene Buchstaben. Aber auch die Erinnerung an den netten Fahrer vom letzten Mal brachte sie nicht dazu, dort anzurufen.

Mike war bestimmt die ganze Nacht unterwegs, und sie konnte nicht einfach Eric Johnstons Gastfreundschaft in Anspruch nehmen, ohne sich mit ihm zu unterhalten. Sie musste sich zumindest beruhigen, bevor sie in der Stimmung war, eine ganze Nacht dort zu verbringen.

Vielleicht sollte sie erst mal ein Glas Wein trinken.

Oder zwei.

Sie könnte ja in zwanzig Minuten ein Taxi rufen und sich vorher ein paar Gläser Wein genehmigen. Anschließend, so kurz nach neun, war immer noch genug Zeit, um nach Wood Green zu fahren.

Ihre Hand bewegte sich wieder Richtung Kühlschranktür. Diesmal zog sie die Tür auf und holte die gut gekühlte Flasche Weißwein heraus, die sie für einen gemeinsamen Abend mit Mike aufgehoben hatte. Sie griff nach einem überdimensionalen Weinglas, das schon eine Weile auf dem Abtropfbrett stand, und stellte es auf den Küchentresen.

Sie umfasste den kalten Flaschenhals, drehte daran, freute sich schon auf den ersten Schluck und wartete auf das verheißungsvolle Knacken, wenn das Siegel aufbrach.

Nachdem sie einen Moment lang ihre Kraft verschwendet hatte, merkte sie, was nicht stimmte. Sie knallte die Flasche auf den Tresen und begann hastig, die Schublade mit dem Besteck zu durchwühlen. Ihre Suche wurde immer verzweifelter.

Schließlich musste sie einsehen, dass Paul offenbar den Korkenzieher mitgenommen hatte.

Und sie hatte ausgerechnet eine Flasche ohne Drehverschluss gekauft.

Der Adventkiller
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