58
Achtzehn Minuten später lenkte Mike Maguire den Wagen vor einer Reihe mittelgroßer Doppelhäuser in eine Parklücke. Im blassen Lichtschein der Straßenlaterne konnte Hawkins in dem dunkelblauen Vauxhall Insignia auf der anderen Seite zwei bekannte Gesichter erkennen.
Maguire schloss den Range Rover ab. Sie überquerten die Straße und setzten sich auf den Rücksitz des Vauxhall.
Hawkins kam gleich zur Sache. »Also, in welchem dieser hübschen Häuschen hält sich unser Freund Rickman auf?«
»Nummer neunundzwanzig.« Yasir deutete über das Lenkrad nach vorn. »Ungefähr vierzig Meter weiter auf der rechten Seite.«
»Gut.« Hawkins war erleichtert, dass sie darauf geachtet hatten, Abstand zu halten. »Hat sich seit unserem Gespräch irgendwas getan?«
»Nichts.« Walker, der auf dem Beifahrersitz saß, drehte seinen massigen Körper in ihre Richtung. »Es sei denn, Sie wollen die Fast-Food-Lieferanten mit einbeziehen. Die ganze Straße dürfte übergewichtig sein.«
»Lasst euch das von einem Ami gesagt sein«, sagte Maguire. »Die Dicken kriegt man leichter zu fassen. Wie sicher seid ihr, dass er wirklich da drin ist?«
»Ziemlich sicher«, sagte Walker. »Wir haben den Tipp von einem Freund von Rickman bekommen, der in dem Treffpunkt über dem Billardsalon aufgekreuzt ist. Zuerst hat er sich verweigert, aber als wir uns näher mit den Aktivitäten der Gruppe beschäftigen wollten, lenkte er ein. Die gebärden sich wie eine Geheimgesellschaft. Der Besitzer des Hauses da vorn ist im Ausland und hat Rickman erlaubt, die Räumlichkeiten zu nutzen, solange er auf seinen Hund aufpasst.«
Hawkins spähte durch die Windschutzscheibe. Es war nicht einfach, die Häuser zu unterscheiden, aber fast alle Fenster im Erdgeschoss der vor ihr liegenden Gebäude waren erleuchtet.
»Das genügt mir«, sagte sie. »Schnappen wir ihn uns.«
»Äh, entschuldigen Sie bitte.« Yasirs Stimme zitterte. »Könnte es nicht sein, dass der Mann bewaffnet ist? Sollten wir nicht Unterstützung anfordern?«
Hawkins war klar, dass sie ein hohes Risiko einging: Vier unbewaffnete Beamte wollten einen als gewalttätig bekannten Kriminellen festnehmen, der womöglich sogar ein Serienkiller war und einen Elektroschocker und eine Pistole besaß. Die Chancen für einen Erfolg standen nicht gut. Eine solche Aktion war kaum zu rechtfertigen, aber sie wollte ihn unbedingt haben.
Walker schaltete sich ein, bevor Hawkins eine Antwort parat hatte. »Ach komm, Amala, sie versucht einfach nur, das Überraschungsmoment zu nutzen. Wenn wir eine Genehmigung für den Einsatz und bewaffnete Unterstützung abwarten wollen, übernehmen die Bürokraten die Sache. Und wir können froh sein, wenn wir am Schluss ein wohlwollendes Schulterklopfen abkriegen.«
Yasir starrte einen Moment lang vor sich hin, bevor sie zustimmte. Hawkins warf Walker einen Blick zu und nickte.
Nach einer kurzen Absprache über ihre Strategie holte Walker die Schutzwesten aus dem Kofferraum. Hawkins hatte ihn schon im Vorfeld gebeten, sie zu organisieren. Er reichte ihnen zwei durch die Tür hinein. Dann machte er sich zusammen mit Yasir auf den Weg zu Rickmans Haus.
Hawkins sah ihnen nach, während sie und Mike ihre Jacken auszogen und die Schutzwesten überstreiften. Als sie ausstiegen, bemerkte sie, dass die Temperatur deutlich gefallen war. Die Wolken hatten sich verzogen, und am Himmel waren Sterne zu erkennen. Die anderen beiden waren jetzt ungefähr fünfundzwanzig Meter entfernt. Neben dem massigen Walker wirkte die zierliche Yasir geradezu winzig.
Walker war sicherlich jeder Herausforderung gewachsen, aber trotzdem fing Hawkins’ Herz an zu klopfen, als sie zusah, wie die beiden den Weg zur Rückseite des Hauses einschlugen. Ihr fiel wieder die Nacht ein, als Eddie Connor ums Leben gekommen war. Wenigstens war diesmal keiner von ihnen allein unterwegs.
Hawkins und Maguire erreichten das Haus mit der Nummer neunundzwanzig. Sie hoffte inständig, dass sie dort drinnen nicht nur Curtis Rickman vorfanden, sondern mit ihm auch den Killer verhafteten, der sich selbst Nemesis nannte.
Wenn sie Glück hatten, konnten sie auch noch John Barclay befreien.
Das Haus war im Stil der siebziger Jahre gebaut und wurde gerade renoviert. Ein Teil des flachen Dachs war abgedeckt und mit einer Plastikfolie überspannt, die von Holzlatten festgehalten wurde und sich im Wind bewegte. Im Garten stapelten sich mehrere Haufen mit Ziegeln und anderem Baumaterial. Aus dem hinteren Bereich des Erdgeschosses drang ein schwacher Lichtschein bis zu den vorderen Fenstern. Ansonsten war alles dunkel.
»Diesmal klopfst du an«, sagte sie zu Maguire.
Er ging voraus, vorbei an Sperrmüll, der offenbar von einer ausgebauten Küche stammte, und trat an die Eingangstür. Tür und Rahmen waren einfach nur mit Holzklötzen in der Wand verkeilt. Wenn niemand aufmachte, wäre es nicht schwer, sie einfach herauszuheben.
Maguire hauchte seine Hände an, dann klopfte er laut.
Zuerst tat sich gar nichts, aber dann wurde es drinnen heller, weil eine Tür aufging. Ein Schatten erschien im Flur, seine Umrisse wurden von dem Muster der Glasscheibe verzerrt. Die Gestalt blieb stehen.
Hawkins’ Nerven waren zum Zerreißen gespannt. War das Nemesis? Dachte er gerade über einen Fluchtweg nach?
Die Gestalt bewegte sich wieder. Aber sie zog sich nicht zurück, wie sie erwartet hatte, sondern kam direkt auf sie zu.
Sie warf Mike einen Blick zu. »Bereit?«
Er nickte.
Die Gestalt trat an die Tür, die schemenhaften Umrisse eines Arms bewegten sich auf den Türgriff zu. Die Tür schwang auf, und vor ihnen stand ein dünner Mann in schwarzen Jeans und dunkelgrauem T-Shirt in einem engen Flur. Seine Haare hatte er zu einem Pferdeschwanz gebunden.
Hawkins erkannte sofort, dass es sich um Curtis Rickman handelte.
Er schaute sie misstrauisch an. »Ja bitte?«
Hawkins hob ihre Marke. »Metropolitan Police. Entschuldigen Sie, dass wir hier so unangemeldet hereinplatzen, Mr Rickman, aber Ihr Name stand ja nicht im Telefonbuch …«
Rickman versuchte, ihr die Tür vor der Nase zuzuschlagen, aber Mike war schneller und stellte seinen Stiefel mit der Stahlkappe in die Tür. Der Rahmen knarrte laut, hielt aber stand, obwohl Rickman auf der anderen Seite mit aller Kraft zudrückte.
»Harvey«, rief Rickman ins Haus. »Komm her.«
Hawkins warf einen Blick über Maguires Schulter durch das Glas und bemerkte eine zweite Silhouette, die sich jetzt durch den Flur bewegte. Aber Harvey war kein Autonomer mit einer Brechstange, sondern ein Hund. Ein ziemlich großer Hund.
»Mike«, warnte sie.
»Ich seh schon.«
Rickman konnte die Tür kaum noch halten, aber er wusste, wie er das Blatt zu seinen Gunsten wenden konnte.
»Einbrecher!«, rief er laut.
Lautes Bellen ertönte, und das Geräusch von Hundepfoten, die über Holzdielen rutschten, war zu hören. Dann tauchte eine zähnefletschende braune Schnauze im Türspalt auf.
Rickman trat von der Tür zurück, die nun aufschwang. Mike konnte gerade noch rechtzeitig loslassen, um nicht ins Haus zu fallen. Vor ihnen stand ein riesiger Dobermann und knurrte drohend, bereit zuzuschnappen, wenn sie einen Schritt nach vorn machten.
Rickman zog sich zurück, trat zur Tür der Besenkammer unter der Treppe und schob den Riegel zurück. Er beugte sich hinein und zerrte eine schwarze Reisetasche heraus.
Selbst wenn in der Tasche Connors Pistole und der Taser lagen, war es ziemlich unwahrscheinlich, dass Rickman sie benutzte, überlegte Hawkins, denn jetzt war er ja erkannt worden. Auch konnte er nicht wissen, wie viele Beamte sie mitgebracht hatten. Sollte ihm die Flucht gelingen, würde sein Gesicht in wenigen Stunden auf allen Fernsehschirmen des Landes zu sehen sein.
Er ließ die Besenkammer offen stehen und befahl dem Hund, sie weiter in Schach zu halten, während er hastig die Treppe ins obere Stockwerk hinaufstieg.
Hawkins merkte, dass Maguire sich ein Stück nach vorn bewegte, und hielt ihn fest. Wenn sie da reingingen, würde der Dobermann sie in Stücke reißen.
»Zieh dich zurück und mach die Tür zu«, flüsterte sie. »Ganz langsam.«
Maguire starrte sie an. »Was?«
»Ich weiß, was ich tue.« Sie sah, wie Rickman im oberen Stockwerk verschwand. »Mach sie nicht ganz zu.«
Er nickte und schloss die Tür bis auf einen Spalt. Der Hund rührte sich nicht.
Als sie in Sicherheit waren, fragte Maguire: »Und was ist jetzt der Plan?«
»Angriff ist die beste Verteidigung«, sagte Hawkins, ging auf den nächstgelegenen Haufen mit Sperrmüll zu und zog eine Küchenschranktür hervor. Sie reichte sie Mike und nahm sich eine zweite.
Sie kehrten wieder zur Haustür zurück und schoben sie auf. Der Hund stand immer noch an der gleichen Stelle und sah noch immer genauso bedrohlich aus.
Hawkins und Maguire benutzten die Türen als Schutzschilde und gingen auf ihn zu. Der Hund schien verwirrt und wich zurück. Wenn sie die Türen genau nebeneinanderhielten, nahmen sie fast die ganze Breite des Flurs ein. Und während sie sie hoben und senkten, um auf die Bewegungen des Hundes zu reagieren, kamen sie langsam voran.
Kurz darauf hatten sie den Hund auf diese Weise in die Besenkammer gedrängt. Hawkins schob die Tür mit dem Fuß zu und legte den Riegel vor. Der Hund fing drinnen an zu bellen, während Maguire den Eingang zur Besenkammer mit den Schranktüren verkeilte für den Fall, dass der Hund sich dagegenwarf.
In diesem Moment hörten sie, wie oben eine Toilette betätigt wurde.
Beweismittelvernichtung.
Maguire drehte sich zur Treppe um, aber Hawkins hielt ihn zurück. Sie wollte, dass er erst die anderen Zimmer im Erdgeschoss kontrollierte, falls Rickman nicht allein war. Sie selbst lief zur Hintertür und ließ Walker und Yasir herein.
Nachdem sie das Erdgeschoss in Augenschein genommen hatten, stiegen die vier Beamten die Treppe hinauf, wo erneut die Toilettenspülung betätigt wurde.
Maguire und Walker kamen als Erste oben an, Yasir und Hawkins blieben dicht hinter ihnen.
Vom Flur gingen drei Türen ab. Zwei standen offen, eine war geschlossen. Maguire warf einen Blick in den ersten Raum und schüttelte den Kopf, um zu bestätigen, dass er leer war.
Hawkins überprüfte das andere Schlafzimmer. Die Möbel waren in der Mitte zusammengestellt und wurden von einer mit Farbklecksen übersäten Plastikfolie geschützt. Eine Person konnte sich darunter kaum verstecken. Die Fenster waren von innen verschlossen, also konnte auf diesem Weg auch niemand geflüchtet sein. Sie trat zurück in den Flur, wo ihre Kollegen sich jetzt vor der dritten Tür versammelt hatten.
Maguire und Walker stellten sich neben den rechten und linken Türpfosten, während Hawkins Yasir anwies, in einer Ecke Deckung zu suchen.
So weit, so gut. Jetzt konnte sie nur noch hoffen, dass Rickman, falls er eine Waffe hatte, auf ihren Oberkörper zielte. Ansonsten musste sie sich auf Maguires und Walkers Fähigkeiten zur Selbstverteidigung verlassen.
Sie holte tief Luft und nickte Maguire zu.
»Mr Rickman, machen Sie die Tür auf«, rief er mit lauter, autoritär klingender Stimme.
Hawkins hob die Hand und bat die Kollegen abzuwarten. Überstürzte Handlungen ließen in solchen Situationen sehr schnell die Gewalt eskalieren. Aber von drinnen kam keine Antwort. Im Erdgeschoss bellte der Dobermann noch immer in der Besenkammer.
»Treten Sie bitte zurück, Mr Rickman«, rief Maguire. »Wir kommen jetzt rein.«
Wieder ertönte die Toilettenspülung. Maguire und Walker schauten auf Hawkins. Sie gab das Signal.
Walker hob den Fuß, und Maguire legte die Hand auf den Türgriff. Walker nickte, und Maguire drückte die Klinke herunter. Walkers Fuß krachte knapp über dem Griff gegen die Tür, die nach innen schwang, während gleichzeitig das laute metallische Knirschen des berstenden Schlosses zu hören war.
Hawkins konnte nicht sehen, was sich im Raum befand, weil Maguire rasch hinter Walker eintrat. Die Geräusche einer handfesten Auseinandersetzung waren nur kurz zu hören. Dann tauchten die beiden Beamten wieder auf und schoben Rickman vor sich her, den sie an den Ellbogen gepackt hatten. Seine Hände waren auf dem Rücken gefesselt.
»Curtis Rickman«, sagte Hawkins. »Sie sind verhaftet, weil Sie gegen die Bewährungsauflagen verstoßen haben.«
Sie ging voran nach draußen, während Maguire Rickman seine Rechte vorlas. Yasir holte den Wagen.
Hawkins schaute sich Rickman genauer an. Jetzt erst bemerkte sie, dass er keine Schuhe anhatte, nur Socken. Auf dem kalten Asphalt mussten seine Füße doch erfrieren. Er schien sich aber um die Kälte nicht weiter zu kümmern.
Seit der Verhaftung hatte er kein Wort mehr gesagt. Auch hatte er sich nicht mehr gewehrt, seit sie ihm die Handschellen angelegt hatten. Killer oder nicht, jedenfalls schien die Verhaftung ihn wenig zu beeindrucken, und Hawkins fürchtete, dass dies kein besonders gutes Zeichen war.
Yasir lenkte den Wagen in die Parklücke vor dem Haus. Walker setzte sich neben Rickman auf den Rücksitz. Hawkins sah dem Wagen nach, dann drehte sie sich zu Maguire um.
»Was hat er denn weggespült?«
»Keine Ahnung, konnte ich nicht sehen. Wollen wir noch mal rein?«
»Nein, das hat Zeit. Wir holen erst mal die Spurensicherung her.«
»Glaubst du, dass er es ist?«
»Ich bin mir nicht sicher. Aber falls es diesbezügliche Beweise gibt, werden wir sie bestimmt nicht hier finden.«
»Wieso nicht?«
»Na ja, ich glaube nicht, dass man eine Pistole oder einen Taser die Toilette hinunterspülen kann.«