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Die Fliege kreiste über seinem Kopf und versuchte erneut, einen Weg aus dem geschlossenen Raum zu finden. Das Insekt war nicht in der Lage zu erkennen, dass die Tür und das kleine Fenster noch einige Stunden lang geschlossen bleiben würden.

Für die Fliege bedeutete ein längerer Aufenthalt in diesem Zimmer den sicheren Tod. Für ihn gehörte diese Abgeschlossenheit zu seinen grundlegenden Vorbereitungen auf den geplanten Akt. Die Ironie daran war, dass die Fliege, genau wie seine menschlichen Opfer, dazu neigte, in Panik zu verfallen, statt sich anzupassen. Solche Fehler führten unvermeidlich ins Verderben.

Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Aufgabe, die vor ihm lag.

Er stellte sich die Menschen vor, denen er seine Botschaft zukommen lassen wollte. Die ganz normalen Leute, die draußen auf der Straße herumliefen. Ihre Gesichter sprachen zu ihm. Sie fingen bereits an zu verstehen.

Die Menschen reagierten immer auf besonders starke emotionale Erlebnisse. Das bedeutete, dass Veränderungen am ehesten zustande kamen, wenn Angst vorherrschte. Und dieses Gefühl geriet auch am schnellsten in Vergessenheit, wenn die Gefahr gebannt war.

Die Saat der Veränderung war gesät. Aber wenn, gewissermaßen als Nebenprodukt seiner Kampagne, eine ethische Revolution ausbrach, dann mussten die Menschen zutiefst daran glauben. Die Aufgabe von Nemesis war es, auf das Problem hinzuweisen, und zwar in einer Art, die die Gesellschaft verstand. Das war die Grundvoraussetzung für eine tiefgreifende Diskussion und führte zwangsläufig zum Handeln.

Die moderne Welt nahm die Ungerechtigkeit als Teil des Lebens hin, und man schob die Schuld daran den anderen zu. Die meisten Menschen dachten nicht darüber nach, wie sie ihr Gegenüber behandelten, und das führte unweigerlich zur Verringerung des Respekts vor sich selbst. Und so ging es immer weiter.

Opfer waren unvermeidlich, wenn dieser Teufelskreis zerstört werden sollte.

Wenn erst einmal alle eingesehen hatten, dass Nemesis nicht zu stoppen war, dann hatte das eindeutige Auswirkungen auf ihr Handeln, dann würde der Wandel einsetzen. Er bedauerte nur, dass er damit nicht schon viel früher begonnen hatte.

Schon in jungen Jahren war ihm die Verdorbenheit der menschlichen Natur vor Augen geführt worden. Er wurde misshandelt, weil er nicht fähig gewesen war, sich zu wehren. Lange Zeit hatte er das einfach hingenommen in der Überzeugung, seine Quälerin würde endlich Ruhe geben, wenn er sich ihr unterwarf.

Dann hatte seine Mutter sich vor seinen Augen selbst zerstört. Ihre letzten Worte waren zwar unbestimmt gewesen, aber für ihn hatte es keinen Zweifel gegeben, dass sie ihn vor einem unsichtbaren Feind hatte warnen wollen, dem gefährlichsten von allen.

Er nahm sich vor, die Fehler seiner Eltern nicht zu wiederholen, und war immer erpicht darauf gewesen, seinen Mitmenschen die Gefahren des moralischen Verfalls vor Augen zu führen. Oftmals wurden seine Ausführungen einfach ignoriert, obwohl er sich bemühte, gleichzeitig die Botschaft der Hoffnung zu verbreiten.

Dann, neun Jahre nach dem Tod seiner Mutter, hatte sich alles geändert. An dem Tag, als der Brief seines verstorbenen Vaters bei ihm ankam und ihm enthüllte, wer die wahre Schuldige gewesen war. Immer wieder las er, was sein Vater ihm geschrieben hatte, und hörte erst auf, als er sich jedes einzelne Wort für immer eingeprägt hatte.

Plötzlich sah er die vergangenen Ereignisse in einem neuen Licht. Seine Mutter war auf eine Art böse gewesen, die sich ihm nie erschlossen hatte. Aber indem sein Vater der moralischen Verpflichtung nicht nachgekommen war und versäumt hatte, ihr entgegenzutreten, hatte er sich ebenfalls schuldig gemacht. Seine Untätigkeit war genauso zerstörerisch gewesen.

Nach diesem Augenblick des Verstehens war die Welt um ihn herum eine andere geworden. Der einzige Weg, die Ungerechtigkeit zu bekämpfen, war die der direkten Aktion. Von nun an war es darum gegangen, den moralischen Verfall mit Gewalt umzukehren. Kurz darauf hatte er mit neuem Enthusiasmus begonnen. An der Veränderung zu arbeiten war eine großartige Sache. Er fühlte sich gut.

Und dann hatte er sie kennengelernt.

Ihre Schönheit hatte ihn berührt, ihre Intelligenz ihn beeindruckt. Ihre Ideale waren die gleichen. Die Antwort auf alle Fragen lag darin, dass sie sich zusammentaten und ein makelloses Vorbild für die gesellschaftlichen Veränderungen lieferten.

Aber sie hatte seine Vision nicht geteilt. Sie hatte ihn erniedrigt, genau wie seine Mutter seinen Vater erniedrigt hatte.

Erst da war ihm seine wahre Bestimmung bewusst geworden. Es war nicht vorgesehen, dass er mit ihr in Harmonie zusammenlebte. Sie war nur ein Test, eine Versuchung, die er überwinden musste. Seine Aufgabe war zu zeigen, dass moralische Prinzipien ein Opfer forderten.

Am Beginn seines Kreuzzugs hatte er sich von ihr abgewandt. Wenn die Gesellschaft keinen Wert mehr auf ethisches Verhalten legte, dann würde er demonstrieren, wie man den moralisch Verderbten ihre gerechte Strafe zukommen ließ. Um die anderen, auch wenn sie noch unwillig waren, durch warnende Beispiele auf den rechten Weg zurückzuführen.

Sofort war ihm klar gewesen, welche Art Opfer er finden musste: fünf perfekte Beispiele für die schlimmsten Ausprägungen des moralischen Verfalls. Und nachdem vier Personen gestorben waren, wurde den Menschen endlich klar, worum es ging.

Aber obwohl die anderen nun verstanden, waren seine persönlichen Qualen immer schlimmer geworden. Wie Blitze aus heiterem Himmel überkamen ihn grausige Visionen und zuckten wie elektrische Ladungen durch sein Gehirn. Er klammerte sich an der dünnen Matratze fest, auf der er lag, und spürte, wie diese unbändige Wut in ihm anwuchs und seine Entschlossenheit noch endgültiger wurde.

Er sah ihr Gesicht vor sich, jedes lebendige Detail. Doch im Gegensatz zu früher, als diese Vorstellung ihm Kraft gab, weil er noch glaubte, dass sie zu ihm gehörte, erinnerte ihre Erscheinung ihn jetzt nur noch daran, dass er stark genug war, sich ihrer zu entledigen.

Die Fliege summte weiter vor dem Fenster herum, doch das Summen schien jetzt leiser geworden zu sein, als wäre sie der Erschöpfung nahe. Sie stieß mehrmals gegen die Scheibe, bevor sie sich auf die Fensterbank setzte.

Er schlug zu, zermalmte das Insekt mit der Faust, hob es an und besah sich die platt gedrückten Umrisse der Leiche.

Genau so würde er in zwei Tagen einen Menschen bestrafen.

Sie.

Der Adventkiller
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