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00:00:01
Sonntag.
Hawkins beobachtete, wie zwanzig Sekunden vergingen, bevor sie merkte, wie ruhig es um sie herum war. Sie wartete darauf, dass etwas die Stille unterbrach, aber es geschah nichts. Kein Kommentar oder Blätterrascheln von Mike, keine dringenden Funksprüche oder Türenschlagen im Flur. Kein fröhlicher Jubel zur Begrüßung des angebrochenen Weihnachtstags. Als hätte jemand eine Schweigeminute ausgerufen.
Sie wagte einen Blick hinüber zu Mike. Sein Gesichtsausdruck passte perfekt zu ihren Gefühlen.
Mist.
Hawkins wollte etwas sagen, aber ihr fiel nichts ein. Jeder Kommentar über ihren Fall würde nur allzu deutlich machen, dass sie keinen Schritt vorangekommen waren. Genauso wenig war dies der rechte Zeitpunkt, um über persönliche Dinge zu sprechen. Plötzlich schien der Kuss eine Ewigkeit zurückzuliegen. Ihre Gefühle für Mike mussten jetzt warten.
Zugegeben, der Zeitpunkt dafür war auch völlig verkehrt. Dies hier war wirklich nicht der rechte Ort, um eine Beziehung zu analysieren, die sie beide damals eigentlich gar nicht hatten beenden wollen. So schwierig es auch wäre, das Thema anzuschneiden, eine Diskussion darüber erschien im Vergleich zu ihrer momentanen Aufgabe eine Kleinigkeit zu sein.
In ihrem Kopfhörer meldete sich jemand: Eines der Einsatzteams gab einen Bericht über eine weitere ergebnislose Spur durch. Hawkins schüttelte ihre Müdigkeit ab und griff nach dem Blatt auf dem neben ihr liegenden Papierstapel. Mit von Überarbeitung heiserer Stimme gab sie die nächste Adresse durch.
Der Teamleiter meldete sich korrekt zurück, aber er klang ziemlich mürrisch.
Verschwendeten sie hier nicht ihre Zeit?
Sie leierte die Details der Abschrift herunter und warf Mike einen Blick zu. Er schaute sie immer noch an. Einen Moment lang dachte sie, er wollte etwas sagen, um sie aufzumuntern, aber das Klingeln auf ihrem Schreibtisch machte deutlich, dass das, was er ihr mitteilen wollte, erst mal warten musste. Sie hob das Handy ans Ohr, ohne auf die Nummer zu achten. »Hawkins.«
»Wie ist der Stand der Dinge, Detective?«
»Sir.« Mit einem Mal war sie wieder ganz in der Wirklichkeit. Sie hatte einen Anruf von Kirby-Jones erwartet, aber der karge Bericht, den sie ihm nun gab, hatte nicht so läppisch geklungen, als sie ihn im Kopf vorbereitet hatte. »Keine Fortschritte bis jetzt. Ich arbeite zusammen mit DI Maguire die Protokolle durch.«
»Heute ist Sonntag, Hawkins.«
»Ja, Sir, das ist mir bewusst, aber wie ich schon einmal erwähnte, denke ich, dass dies unsere Chancen verbessert.«
»Wie das?«
»Wir haben nicht erwartet, dass der Mörder vor Mitternacht in Erscheinung tritt, denn eins seiner Kennzeichen ist ja, dass er die Morde an Sonntagen ausführt. Seine speziellen Angewohnheiten erhöhen die Chance, dass wir innerhalb der nächsten Stunde eine positive Identifizierung seines Standortes bekommen.«
»Hm-hm.« Er schwieg einige Sekunden. »Wie lange brauchen wir derzeit, um vor Ort zu sein?«
»Vierundzwanzig Minuten, Sir.«
»Und wie hoch ist der Anteil relevanter Anrufe?«
»Da hab ich keinen genauen Prozentwert.«
Schweigen.
»Schätzungsweise einer unter dreißig«, erklärte sie und schaute Mike an, der das Gesicht verzog.
Sie hörte ein schabendes Geräusch am anderen Ende, als ob die Sprechmuschel verdeckt würde.
»Sind Sie noch dran, Sir?«
»Natürlich. Ich habe Verstärkung aus Herfordshire angefordert. Stellen Sie sich darauf ein, aber verlassen Sie sich nicht drauf. Und sehen Sie zu, dass Sie und Mike Unterstützung bei der Auswertung der Protokolle bekommen. Sie dürfen jetzt keinen Fehler machen.« Die Verbindung brach ab.
Sie legte ihr Handy auf den Tisch zurück und sackte zusammen. Sie war entsetzlich müde.
»Dieser Kerl verabscheut mich«, stieß sie hervor.
»He«, sagte Mike. »Lass dich davon nicht beeindrucken.«
Hawkins wäre beinahe aufgesprungen, um zu ihm zu eilen und sich in seine Arme zu stürzen. Aber noch bevor sie eine Bewegung machen konnte, kamen Durchsagen auf beiden Funkgeräten.
Dreißig Minuten später, nachdem sie alle Diskussionen über ihre Beziehung pflichtschuldigst verschoben hatten, saßen sie immer noch an ihren Schreibtischen, beugten sich über die zahlreichen Anrufprotokolle und hielten Kontakt mit ihren Einsatzteams. Sie hatten sich bei der Bearbeitung abgesprochen und teilten die Meldungen in drei Kategorien ein: »vielversprechend«, »möglich«, »nicht relevant«. Leider waren alle drei Stapel viel größer als der mit der Bezeichnung »erledigt«. Sie hatten keine weitere Nachricht von Kirby-Jones bezüglich der Verstärkung erhalten, und die durchschnittliche Zeitspanne, bis ein Team vor Ort war, lag jetzt bei über einer halben Stunde.
Die Uhr zeigte 00:41.
Hawkins rieb sich die Schläfen. Ihr Kopf tat weh, ihre Kehle schmerzte von den ständigen Befehlen, die sie über Funk durchgeben musste. Na großartig, vielleicht würde sie heute Nacht ja nicht nur ihre Karriere, sondern auch ihre Stimme für immer ruinieren.
Sie wollte nicht zugeben, dass ihr Plan gescheitert war, aber bislang hatte die Idee, die Öffentlichkeit als eine Art Radar zu benutzen, nichts gebracht.
Die Einsatzgruppen hatten bereits drei Männer festgenommen, aber zwei von ihnen waren viel zu betrunken gewesen, um jemandem ernsthaft etwas antun zu können. Der dritte war wegen Autodiebstahl einbehalten worden.
Nemesis aber war immer noch dort draußen unterwegs.
Zum Teufel mit ihm.
Sie griff gerade in ihre Schultertasche, um die Packung mit den Marlboros und das Feuerzeug herauszuholen, und hatte sich schon einen scheinheiligen Spruch von wegen »ich muss mal zur Toilette« zurechtgelegt, als sie unterbrochen wurde.
Connor schob die Tür auf. »Ich hab gehört, hier ist noch ein Job im Callcenter frei. Ihr braucht wohl Unterstützung.«
Hawkins war froh, dass er da war. Nach ihrem Gespräch mit Kirby-Jones hatte sie per Funk durchgegeben, dass der Sergeant zu ihnen in die Einsatzzentrale zurückkkehren sollte, und sein Team hatte ihn vor Scotland Yard abgesetzt. Sie erklärte ihm, wie weit sie gekommen waren, und überließ ihm dann ihren Stuhl.
Maguire und Connor kümmerten sich um die Funkgeräte, während sie die Meldungen kategorisierte.
Inzwischen war bereits eine Stunde des Sonntagmorgens verstrichen.
Hawkins’ Anspannung wuchs. Jetzt war es so weit. Sie hatten das Zeitfenster erreicht, in dem der Mörder normalerweise zuschlug. Und sie konnten nichts weiter tun, als in diesem Büro zu hocken und hilflos die Papierstapel auf den Schreibtischen durchzugehen. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und raus auf die Straße gelaufen, um alle dort draußen lautstark zu warnen, dass sie vorsichtig sein sollten. Aber das wäre völlig nutzlos. Ihre einzige Option war weiterzumachen.
Hawkins legte ein weiteres Blatt auf den »Nicht relevant«-Stapel und fing an, die nächste Meldung zu lesen. Sie seufzte, als sie feststellte, dass sie auf deprimierende Weise dem vorangegangenen Bericht ähnelte. Als sie am Ende angekommen war, schweiften ihre Gedanken ab.
Aus irgendeinem Grund musste sie daran denken, wie sie vor sechs Tagen die Leiche Jessica Andertons gefunden hatten, und an die üblichen grauenhaften Befragungen von Freunden und Verwandten, die nie zuvor in ihrem Leben mit einem Mordfall zu tun gehabt hatten.
Hawkins war sich nie sicher, ob sie solche Menschen beneiden oder bedauern sollte.
Sie drängte das Gefühl zurück. Letztlich war sie an ihrer aktuellen Situation ja selbst schuld. Wäre es überhaupt möglich gewesen, die Ermittlungen in eine andere Richtung zu lenken? Säße Nemesis längst hinter Schloss und Riegel, wenn ein anderer die Verantwortung gehabt hätte? Hatte sie etwas Wichtiges übersehen?
Connor lehnte sich zurück, nahm den Kopfhörer ab und streckte sich. Er warf Hawkins einen Blick zu: »Wie läuft’s denn so, Ma’am?«
»Oh, großartig«, gab sie zurück. »Wir sind angeblich eine der besten Polizeiorganisationen der Welt, aber obwohl dieser Kerl uns Zeit und Ort seines nächsten Mordes mitgeteilt hat, haben wir nicht die geringste Spur. Ziemlich deprimierend.«
»So würde ich das nicht sehen, Chefin.« Connor drehte den Stuhl herum und schaute sie an. »Manchmal kann man sich nur auf den Zufall verlassen. Erinnern Sie sich noch an den Fall Geoffrey Evans?«
»Ja, daran erinnere ich mich sehr gut.« Hawkins dachte an ihre Magisterarbeit zum Thema Serienkiller. »Irlands bedeutendster Serienmörder in den Siebzigern, der wegen mehrfacher Vergewaltigung und Mord gesucht wurde.«
»Genau der. Er hat angekündigt, jede Woche eine Frau umzubringen. Glücklicherweise wurde er nach der zweiten Tat geschnappt. Aber es war die Öffentlichkeit, die ihn ausfindig machte. Er hatte ein Auto gestohlen und es umgespritzt. Jemand sah es an einer Tankstelle, fand es verdächtig und alarmierte die Polizei. Ein paar Tage später bemerkte eine Streife den Wagen und hielt den Fahrer fest. Wie sich herausstellte, war es derselbe Kerl.«
Derselbe Kerl.
Auf einmal kamen die Abläufe in ihrem Kopf ins Stocken. Den Bruchteil einer Sekunde später wurden sie aufgesprengt, als ein Gedankenblitz sich manifestierte und wie etwas Greifbares vor ihrem geistigen Auge auftauchte.
Mike und Connor zuckten zusammen, als sie von ihrem Sitz hochschnellte.
Es musste da sein. Wenn es noch so was wie Gerechtigkeit gab, musste es da sein.
Sie schnappte sich ihre Tasche, die auf dem Boden gestanden hatte, und wühlte darin herum. Connor rückte mit dem Stuhl beiseite, als sie Heftordner und Einsatz-Briefings auf dem Schreibtisch verteilte.
Als sie schon anfing zu fluchen, weil sie nicht fündig wurde, fiel ihr das Gesuchte doch noch in die Hand. Sie riss das Gummiband von ihrem Ringbuch, in das sie ihre Notizen gekritzelt hatte und das längst schon voll war. Sie schlug es auf und blätterte die Seiten durch.
Mike trat zu ihr. »Was ist denn?«
»Warte«, sagte sie. »Nur … noch … eine Minute.«
Ja, da war die Seite. Sie las sie durch, bis sie in der entsprechenden Zeile angekommen war. Dann legte sie das Ringbuch auf den Tisch und starrte darauf, während sie sich gleichzeitig mit einer Hand nervös über die Stirn strich.
»Das ist es.« Sie klopfte auf die Seite.
»Das ist was?«, fragte Mike. »Sag schon, Toni, was ist das?«
Hawkins wurde klar, dass ihr Verhalten völlig unverständlich war. Sie reichte ihm das Protokoll eines Anrufs, der ziemlich weit oben auf dem »vielversprechenden« Stapel gelandet war. »Dieser Anruf kam zehn Minuten nach Mitternacht herein. Die Anruferin heißt Faith Easton. Ihre Tochter Summer rief sie vor ein paar Stunden an, um Viertel vor zehn. Sie telefonierten bis Mitternacht miteinander, als es bei ihrer Tochter auf einmal an der Tür klingelte. Sie dachte, es wäre vielleicht ein Freund, und versprach, ihre Mutter zurückzurufen. Aber das hat sie nicht gemacht. Und sie ging auch nicht mehr an den Apparat, als ihre Mutter zurückrief. Zuerst dachte sie noch, ihre Tochter sei vielleicht ausgegangen, aber dann erinnerte sie sich an einen Mann, der übers Internet Kontakt mit ihr aufgenommen hatte, in einem Chatroom vor einigen Tagen. Er suchte ihre Tochter, offenbar aus beruflichen Gründen. Und jetzt macht sie sich große Sorgen.«
»Klingt auch nicht anders als eine Menge anderer Anrufe, die wir heute Nacht reinbekommen haben«, sagte Connor. »Was ist das Besondere daran?«
»Das Schreckliche ist …«, Hawkins deutete auf das Blatt in ihrem Ringbuch, »… dass sie, glaube ich, recht hat. Ich musste plötzlich an meine Gespräche mit Jessica Andertons Freunden denken. Sie erwähnten nämlich einen Mann, der im Internet Fragen über sie stellte. Schaut euch mal das Namenskürzel auf diesen beiden Zetteln an.«
Sie hielt das Ringbuch neben das Anruf-Protokoll. Mike und Connor starrten die beiden Zettel einen Moment lang an, dann lasen sie unisono die Buchstaben vor, die darauf standen.
»JJ.«