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Detective Chief Inspector Antonia Hawkins schloss die Haustür, blieb unter dem Vordach stehen und suchte in ihrer Tasche nach dem Regenschirm. Bis zum Auto waren es nur knapp fünfzehn Meter über ein Fleckchen städtischer Grünfläche hinweg, aber es regnete fürchterlich.
Sie spannte den Schirm auf und eilte auf den dunkelblauen Vauxhall Insignia zu, der am Straßenrand parkte. Ein scharfer Wind wehte, und sie zog erleichtert die Beifahrertür auf.
»Danke, dass Sie mich abholen«, sagte sie und ließ sich auf den Sitz fallen. Den Schirm verstaute sie im Fußbereich und griff nach dem Sicherheitsgurt. »Sie wissen ja, wo wir hinmüssen, oder?«
»Ja, Ma’am.« Der angehende Detective Constable John Barclay gab Gas und fuhr mit durchdrehenden Reifen los. »Hampstead.«
»Vornehme Gegend.« Als sie auf die Hauptstraße einbogen, warf sie ihrem schmächtigen jungen Kollegen einen Blick zu und verkniff sich die Bitte, er möge langsamer fahren. Es herrschte kaum Verkehr, und sie mussten so schnell wie möglich dorthin.
Erleichtert stellte sie fest, dass auch Barclay leicht derangiert war: Sein Hemdkragen hing schief, und um seinen Mund bemerkte sie eine dünne weiße Linie.
Sie war also nicht die Einzige, die Hals über Kopf aufgebrochen war.
»John«, sagte sie und deutete auf ihre eigene Mundpartie. »Sie haben da noch etwas Zahnpasta … «
»Oh.« Er befeuchtete den Zeigefinger mit der Zunge und säuberte damit den Mund. »Weg?«
»Ja.« Sie rückte ein Stück zur Seite, als seine Hand ihr Bein berührte, während er die Gangschaltung betätigte. Wahrscheinlich war es keine Absicht gewesen.
Sie fuhren eine Weile schweigend weiter. Hawkins zog ihr Handy aus der Tasche. »Ich werde mal Frank und Amala anrufen.«
»Hab ich schon erledigt.« Barclay klopfte gegen seine Ohrhörer. »Wir treffen sie vor Ort.«
»Prima.« Hawkins ließ das Handy wieder in die Tasche gleiten. Dank seiner Voraussicht würde das komplette Team am Tatort sein. Das war wichtig, um möglichst viele Zeugen zu befragen. Sie holte einen Notizblock heraus, legte ihn auf die Knie und skizzierte einen Ablaufplan für die bevorstehenden Ermittlungen.
»So«, sagte sie aufatmend, um die positive Atmosphäre zu nutzen, während sie noch schrieb. »Wie ich hörte, haben Sie einen Anruf vom Chef bekommen.«
»Ja«, sagte Barclay. Sie hielten an einer roten Ampel, während die Scheibenwischer geräuschvoll hin und her schabten und sein Schweigen kompensierten.
Sie machte noch einige Notizen, bevor sie aufschaute. »Und? Was hat er gesagt?«
Barclay warf ihr einen überraschten Blick zu, als hätte er ganz vergessen, dass sie auch noch da war. »Wir haben einen weiteren Mordfall, Ma’am. In der Meldung der Spurensicherung heißt es, dass die Frau irgendwann gestern Morgen zu Tode gekommen ist.«
Am Sonntag. Genau wie die anderen.
Die Ampel schaltete um, und sie fuhren weiter.
»Um wen handelt es sich bei dem Opfer?«
Barclay hustete. »Kennen Sie Jessica Anderton?«
»Die Frau des Politikers?«
Natürlich kannte sie Jessica Anderton und ihren Ehemann Charles. Er war eine beliebte, charismatische Führungspersönlichkeit der Labour Party und seine Frau ein gut aussehendes, nicht weniger prominentes Exmodel. Beide waren ständig in den Schlagzeilen. Kürzlich hatten sich Promi-Verrückte auf einer Wohltätigkeitsauktion eine regelrechte Schlacht geliefert, um eine Gucci-Handtasche von Jessica Anderton zu ergattern. Die Ausgabe des Klatschmagazins Hello, in dem Fotos ihrer Hochzeit und ein Exklusivinterview mit dem Paar abgedruckt wurden, war in kürzester Zeit ausverkauft gewesen. Sogar die ständigen Nörgeleien von Oppositionspolitikern, die kritisierten, Andertons Hochzeit mit dem Exmodel sei nur ein PR-Gag, waren in den letzten Monaten verstummt.
»Ich werd verrückt.« Hawkins versuchte, die Erregung aus ihrer Stimme zu bannen. »Und die genaueren Umstände?«
»Da ist er ja.« Hawkins schaute auf, als Barclay nach vorn deutete. Dann fiel ihr wieder ein, dass Kirby-Jones ihnen aufgetragen hatte, unterwegs einige Kollegen einzusammeln.
Barclay hielt am Straßenrand an. »Genau wie der Chef gesagt hat: in den Dreißigern, dünn und unnötig viele Haare im Gesicht.«
Hawkins spähte durch die nasse Windschutzscheibe und versuchte, sich einen Eindruck von ihrem neuesten Team-Mitglied zu verschaffen. Der Mann stand im Schutzhäuschen einer Bushaltestelle, winkte ihnen zu und eilte los, während er sich mit der einen Hand eine Zeitung über den Kopf und mit der anderen das Handy ans Ohr hielt. Er bahnte sich seinen Weg durch Berufstätige in Anzügen, die auf den Bus warteten.
Hawkins ließ das Seitenfenster herunter, während er um die letzte Gruppe herummanövrierte. Er beendete sein Telefonat und ließ das Handy in die Tasche seiner Wildlederjacke gleiten, bevor er die hintere Tür des Wagens aufzog und einstieg.
»DCI Hawkins?« Er hatte einen leichten Akzent. Vielleicht aus Belfast. »Ich bin Detective Sergeant Eddie Connor.«
»Sagen Sie doch Antonia.« Sie reichte ihm ihre Hand zwischen den Sitzen hindurch. »Und das hier ist unser Trainee John Barclay. Vielen Dank, dass Sie sofort kommen konnten.«
»Tja, unser Mann hat die Presse jedenfalls nicht enttäuscht.« Connor zog die Wagentür zu und hielt seine durchnässte Ausgabe der Daily Mail hoch.
Hawkins drehte sich nach hinten um. »Schlägt Killer wieder zu?« Sie las die Überschrift im Stil eines sensationslüsternen Film-Trailers vor, um sich locker zu geben. »Wo wären wir nur ohne die großartige britische Presse, die so gern im ganzen Land Panik schürt? Wer weiß, was passiert, wenn die Arschlöcher von unserem neuesten Fund erfahren.«
»Sie wissen es schon«, sagte Connor. »Ich hab gerade mit einem Freund von der Spurensicherung gesprochen. Die Medien waren noch vor ihm am Tatort.«
»Na großartig.« Sie hatten keine Zeit mehr zu verlieren. Hawkins warf Barclay einen auffordernden Blick zu. Aber das war gar nicht nötig. Er gab Gas und fädelte sich flink in den morgendlichen Londoner Verkehr ein.
»Und von welcher Dienststelle wurden Sie zu uns versetzt?«, fragte Hawkins über die Schulter hinweg. Sie musste sich mit einem Arm auf der Lehne abstützen, weil Barclay ansetzte, einen Müllwagen zu überholen.
»Kripo. Bewaffneter Raub und organisierte Kriminalität«, sagte Connor mit lauter Stimme, um den Regen zu übertönen, der auf das Wagendach prasselte. »Ich hab schon vor Jahren um eine Versetzung gebeten, aber es ist nichts passiert, bis ich heute Morgen von Ihrem Vorgesetzten angerufen wurde. Ich gehöre bis auf Weiteres zu Ihrer Einsatzgruppe. Anscheinend hat er meinen Antrag gerade erst bekommen. Aber wahrscheinlich hat das alles vor allem damit zu tun, dass von der Downing Street Druck gemacht wird.« Er lachte. »Jedenfalls ging es so schnell, dass noch niemand von mir verlangt hat, meine Dienstpistole zurückzugeben.«
»Sie hatten mit den ganz harten Fällen zu tun?« Barclay wandte sich kurz um.
»Mord, Schießereien und Verfolgungsjagden im Auto«, sagte Connor. »Alles, wovon ein Junge träumt, wenn er zur Polizei geht.«
Hawkins merkte, dass Connor ihr ironisch zulächelte, und grinste zurück. Einen bewaffneten Beamten im Team zu haben war nicht unbedingt schlecht, wenn es darum ging, einen gemeingefährlichen Serienmörder zu stellen.
»Das ist ein Wagen aus dem Fahrzeugpark, richtig?« Connor wartete, bis sie es bestätigt hatte, bevor er sich das Wasser aus den Haaren strich und es auf das Polster tropfen ließ. »So, dann erzählen Sie mir mal das, was nicht in der Zeitung steht.«
»Es gab vorher schon zwei Opfer«, erklärte Hawkins. »Beide weiblich, beide an aufeinander folgenden Sonntagen frühmorgens in ihrer eigenen Wohnung getötet. Die Erste war die dreiundsechzigjährige Glenis Ward. Sie wurde in ihrer Badewanne ertränkt. Zuerst dachten wir an Selbstmord, weil es keine Hinweise auf Fremdeinwirkung gab. Glenis Ward war Alkoholikerin – weshalb sie ihren Job als Köchin aufgeben musste. Außerdem war bei ihr ein Krebsleiden festgestellt worden, und sie war schwer depressiv, was die Selbstmordthese stützte. Aber dann stellte sich heraus, dass sie in ihrem Wohnungsflur überfallen und betäubt wurde, bevor der Täter sie nach oben ins Badezimmer schleppte.«
Hawkins bemerkte ein Schild, das die Richtung nach Belgravia anzeigte. Sie waren bald da. »Dann, genau sieben Tage später, wurde eine achtundvierzigjährige ehemalige Krankenpflegerin namens Tess Underwood mit einem Baseballschläger zu Tode geprügelt. Ihre Knochen wurden systematisch zerschlagen, einer nach dem anderen, vom Schienbein aufwärts. Der Gerichtsarzt sagte, sie starb erst, als der Mörder bei ihrem Kopf angekommen war, und selbst dann nur aufgrund einer Gehirnblutung nach einem frontalen Schlag gegen das Gesicht. Dabei drang ein Stück Schädelknochen in ihr Gehirn.«
»Na toll«, sagte Connor mit angewidertem Unterton.
Hawkins registrierte es mit Genugtuung. Zumindest geriet er angesichts der grauenhaften Details nicht vollkommen aus der Fassung.
In der Nähe des Royal Thames Yacht Club wurde der Verkehr dichter, und Barclay warf ihr einen fragenden Blick zu. Er wollte das Blaulicht benutzen. Auf ihr Nicken hin schaltete er es ein. Das Martinshorn ertönte, und Barclay lenkte den Wagen durch die Lücke, die sich zwischen den Autoreihen auftat.
»Na, jetzt geht’s ja endlich zur Sache.« Connors Kopf erschien zwischen den Lehnen der Vordersitze. Seine Augen leuchteten wie die eines Kindes, das gerade vor den Toren von Disneyland ankommt. »Und was hat er mit seinem neuesten Opfer gemacht?«
Hawkins drehte sich zu ihm um. »Ich schätze, das werden wir gleich erfahren.«