16

Die Figuren säumten das Zimmer, ihre Umrisse waren kaum erkennbar. Einige hatten Namen, manche waren kaputt. Sie standen da wie versteinerte Wachposten. Seine Spielzeuge.

Der Blitz ließ die Äste der abgestorbenen Eiche draußen zu Silhouetten werden. Das Licht, das durch den Raum flackerte, beleuchtete die Abbilder. Er ließ seinen Blick über sie schweifen und prallte zurück.

Jede Figur hatte das Gesicht seines Vaters.

Ein Rumpeln war zu hören. Zuerst dachte er an Donner, aber dann merkte er, dass es sich um Stimmengewirr handelte; sie redeten alle durcheinander. Dann fing das ganze Pack an zu johlen und zu singen, forderte ihn auf, seinen Unterschlupf, das Bett, zu verlassen. Er sollte mit seiner furchtbaren Reise Richtung Treppe beginnen.

Er schlug die Hände vor die Augen, wollte, dass das aufhörte, aber die Schreie wurden nur noch lauter. Dann verstummten sie genauso schnell, wie sie sich erhoben hatten. Nur noch eine einzige schwache Stimme war zu hören.

»Willst du denn nicht nach unten gehen?«

Er nahm die Hände herunter und sah die zierliche Person neben seinem Bett an. Ein kleines Mädchen, nicht älter als er selbst.

»Du gehst doch immer«, sagte sie. »Am Ende gehst du doch.«

Er starrte zur Tür und dachte darüber nach. Schließlich schob er einen Fuß unter der Decke hervor und ließ ihn über die Bettkante hängen. Aber als er sich bewegte, fingen die Holzpfosten an den Ecken seines Bettes an, sich zu verändern und sich auszudehnen. Er hatte gerade noch genug Zeit, den Fuß wieder zurückzuziehen und sich zusammenzurollen, während der Käfig um ihn herum höher wuchs und über seinem Kopf ein Wirrwarr aus gezackten, spitz zulaufenden Stöcken bildete.

Er schaute seitlich über seine Knie hinweg durch das Geflecht, hinter dem das Mädchen stand.

»Also?« Sie legte den Kopf auf die Seite. »Worauf wartest du denn noch?«

Er setzte sich auf, hatte Angst, sich zu bewegen. Dann streckte er die Hände aus und packte ein besonders filigranes Teil des Geflechts. Er zog daran, aber die dünnen Äste waren störrisch, ihre scharfen Kanten schnitten in seine Haut. Er stand auf, gebückt innerhalb seines beengten Raums, und trat zu, einmal, zweimal, dreimal. Aber das Geflecht hielt seinen Tritten stand, während die Spielzeug-Wachposten ihn amüsiert anfeuerten.

»Du Armer.« Das Mädchen kam näher. »Vielleicht solltest du das hier benutzen?«

Sie schob ein kleines Beil durch eine Lücke.

Er nahm es, umfasste den Griff sorgfältig und platzierte seine andere Hand darüber, so wie es sein Vater ihm gezeigt hatte. Damit er keine Blasen davon bekam. Er suchte das Innere des Käfigs nach Schwachstellen ab. Dann hob er das Beil und zielte.

Er schlug zu und zuckte zusammen, als die Schneide gegen die dunklen Äste prallte. Die Klinge fraß sich ins Holz, und Splitter flogen durch die Luft, während die Horde in zustimmendes Gejohle ausbrach. Im gleichen Augenblick zerbrach sein Schlafzimmerfenster, die Glassplitter wurden nach innen geschleudert, verteilten sich im ganzen Raum, und der heftige Windstoß, der ihm folgte, warf ihn beinahe um. Aber er umklammerte weiterhin den Griff des Beils und hielt stand.

Als der Wind aufgehört hatte, stellte er sich erneut in Position und riss das Beil heraus. Das Holz war zerbrochen.

»Fester!«, rief die Horde.

Er hob die Waffe an und zielte erneut. Die Spielzeuge brüllten vor Begeisterung, als die Klinge ihr Ziel traf, aber dann lief alles in Zeitlupe ab: Die Bäume draußen vor dem Fenster erstarrten in bedrohlichen Winkeln; der Wind, der seine Haut gepeitscht hatte, wurde zu einem Hauch; und die Wand seiner Zelle veränderte ihre Form.

Er wollte aufhören, aber die Klinge bewegte sich weiter.

Die Äste ordneten sich, ihre schroffen Umrisse fanden sich zu einer neuen Struktur zusammen, die sich als das Abbild eines weiblichen Gesichts entpuppte.

Ihres Gesichts.

Ein Schrei entfuhr ihm, als seine Waffe auftraf und ihr perfektes Gesicht in kleine hölzerne Fragmente zerbarst, die vor ihm in der verdichteten Luft hängen blieben. Das Lachen des Mädchens hallte schrill in seinen Ohren, und dann kehrte der Rest der Welt zu seiner normalen Geschwindigkeit zurück.

Die Zuschauer kreischten erneut auf, und der Wind wurde zu einer Ziegelmauer, die Bruchteile ihres zersplitterten Gesichts wurden in seine Haut gedrückt, wo sie wie glühende Nadeln eindrangen. Er schrie.

Dann war der Schmerz mit einem Mal vergangen, genauso schnell, wie er gekommen war. Der Wind legte sich, und er öffnete blinzelnd die Augen. Der hölzerne Käfig war verschwunden, und seine Spielzeugfiguren standen nicht mehr da. Der Himmel war klar geworden, und das Mondlicht leuchtete freundlich durch das unbeschädigte Fenster. Und endlich sah das Zimmer wieder so aus, wie er es in Erinnerung hatte.

»Gut.« Das Mädchen deutete zum Treppenabsatz. »Jetzt kannst du losgehen. Versuch einfach, keine Angst zu haben, okay?«

Er starrte sie an. Schließlich versetzte sie ihm einen Schubs. »Na los doch, du Dummkopf. Ich schau nicht hin.«

Sie hüpfte aus dem Zimmer und zog die Tür hinter sich zu.

Er wartete, bis ihre Schritte verhallt waren, dann stieg er aus dem Bett, blieb stehen und schaute die Tür an. Es gab nichts, das ihn nun aufhielt. Zögernd machte er einen Schritt.

Alles blieb ruhig. Die Stille im Zimmer wurde nur gestört von dem leisen Rascheln einer sanften Brise, die über das Maisfeld hinter dem Hof wehte. Er schaute hinaus. Der Himmel war ruhig. Im Süden konnte er die Brücke sehen, die die Grenze des Grundstücks seines Vaters markierte.

Seine Wollsocken rutschten über den Holzfußboden, als er sich der Tür näherte. Ein bekanntes ungutes Gefühl breitete sich in seinem Magen aus, als er nach der Klinke griff. Würde es diesmal anders sein?

Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.

Er drückte die Klinke herunter und zog die Tür auf.

Der Adventkiller
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