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Hawkins wartete, während die Nachzügler sich hinsetzten, trommelte mit den Fingern auf das Stehpult und schaute in die Runde. Auf der Uhr an der Wand war es sechs Minuten nach halb neun.
Leider zeigte das Zifferblatt auch das Datum an, das Hawkins beharrlich zu ignorieren versuchte. Im Juni, als sie und Paul noch vorgegeben hatten, dass ihre Beziehung zu retten sei, waren sie drauf und dran gewesen, für Weihnachten eine Reise nach Barbados zu buchen. Genau in diesem Moment hätten sie wahrscheinlich im Flugzeug gesessen.
Sie wartete immer noch, dass die Letzten endlich Platz nahmen, und überlegte, wie sie ihre Rolle als Chefinspektorin spielen sollte. Ihr fiel wieder ein, in welchem Moment sie diese großartige Nachricht erhalten hatte. Am Tag, als ihr Vorgesetzter DCI Norman Parr nach siebzehn Dienstjahren mit makelloser Gesundheit und keinem einzigen Fehltag während der Arbeit zusammengebrochen und gestorben war. Trotz seines tragischen Endes hatten sich ihre Gefühle ihm gegenüber auch da nicht geändert: Seit Beginn ihrer Zusammenarbeit drei Jahre zuvor hielt sie ihn für einen schleimigen, hinterlistigen Intriganten. Trotzdem übernahm sie gern seinen Posten, als man ihn ihr anbot.
Und so war sie nun, eine Woche vor Weihnachten, mit einem Fall befasst, den sie nicht einmal einem Investmentbanker an den Hals gewünscht hätte, und musste sich mit Leichen befassen, die aussahen, als hätten sie als Requisiten für einen der Saw-Filme gedient.
Glücklicherweise war ihren engsten Mitarbeitern die Bedeutung des Falls bewusst, so dass sie pünktlich erschienen waren. Ihr erfahrenster Kollege war ein Detective Inspector aus dem Nordosten Englands namens Frank Todd, der in der ersten Reihe neben der wesentlich jüngeren und exotischeren Detective Sergeant Amala Yasir Platz genommen hatte. John Barclay und Eddie Connor saßen auf der anderen Seite.
Später würde sie ihren vier Mitarbeitern erklären müssen, dass die Frustration, die sie zeigte, nichts mit ihnen zu tun hatte. Todd und Yasir waren schon früh gekommen, um die neuesten Informationen in die Schauwand einzuarbeiten, und sie musste zugeben, dass sie gute Arbeit geleistet hatten. Connor war erst einen Tag bei der Gruppe, und als sie heute Morgen in ihrem Büro angekommen war, hatte sie einen Riesenstapel mit den Unterlagen eines anderen Falls vorgefunden, den sie Barclay in der vergangenen Woche übergeben hatte. Connors Zusammenfassung war vorbildlich. Sie fragte sich, woher er die Zeit genommen hatte, um das alles zu schaffen.
Die übrigen Angehörigen ihrer erweiterten Einsatzgruppe waren nicht so engagiert.
Der mittelgroße Raum hatte sich rasch mit Beamten der verschiedensten Dienststellen gefüllt. Eine kleine Gruppe Uniformierter hockte in einer Ecke zusammen, und ihr Anführer spuckte große Töne. Ihnen gegenüber saß die Gruppe der Analysten, die aus sechs desinteressiert dreinblickenden Personen bestand, die anscheinend vor allem dazu da waren, jeden Raum in der Behörde mit dem Geruch von abgestandenem Kaffee zu verseuchen. Die übrigen freien Plätze wurden gerade von drei Detective Constables eingenommen, die man ihr schon Mitte letzter Woche als Verstärkung zugesagt hatte.
Auch wenn sie für die vier Tage Verspätung sicherlich nichts konnten, entschied Hawkins, ihnen die sechsminütige Verspätung unter die Nase zu reiben.
»Also.« Sie stand auf und sprach laut, um den geschwätzigen Beamten weiter hinten zu übertönen. »Ich eröffne die heutige Sitzung und heiße alle willkommen, die bisher noch nicht an diesem Treffen teilgenommen haben, das ich die Acht-Uhr-dreißig-Besprechung nenne. Der Name sagt schon alles: Ich bitte Sie zu einer Besprechung, und zwar um acht Uhr dreißig. Nicht um acht Uhr einunddreißig, nicht um acht Uhr sechsunddreißig, auch nicht um die Mittagszeit, verstanden?«
Schweigen.
»Gut.« Sie wartete einen Moment und fuhr fort: »Ich freue mich über die neuen Gesichter im Team. Es ist gut, dass Sie dabei sind, und ich gehe davon aus, dass die anderen Sie so schnell wie möglich auf den neuesten Stand bringen werden.« Sie quittierte das zustimmende Nicken mit einem Lächeln und kam auf die anstehende Arbeit zu sprechen.
Sie ging vom Pult zur weißen Tafel, an der die Bilder des neuesten Opfers jetzt neben denen der vorherigen hingen. »Durch den Fund der Leiche Jessica Andertons ist die Operation Charter nun zur bedeutendsten Echtzeit-Doku seit dem Fall Sutcliffe geworden. Und so wie es aussieht, wird die Sache immer größer.«
Sie beschrieb die drei Mordfälle und zeigte auf dem großen Stadtplan die Fundorte der Leichen. Außerdem nannte sie die ehemaligen Adressen der Opfer und erklärte, wo sie gearbeitet hatten. Aber das sich ergebende Gesamtbild zeigte nur noch deutlicher, dass es keine offensichtliche Verbindung zwischen den Ermordeten gab. Weder hatten sie zusammen gearbeitet noch in der gleichen Gegend gewohnt oder eingekauft. Normalerweise wurde nach drei aufeinander folgenden Morden ein Muster sichtbar. Hier aber war keins zu erkennen. Nicht mal die neueste Geo-Mapping-Software, mit der die Bewegungen von Personen über einen bestimmten Zeitraum nachvollzogen und analysiert werden konnten, um eventuelle »Hotspots« zu finden, hatte Ergebnisse gebracht.
Hawkins betonte, dass sie bis zu diesem Zeitpunkt den Medien nur wenige Details über die Bluttaten geliefert hatten. Die Pressestelle hatte alle Spekulationen über einen Zusammenhang zwischen den ersten beiden Morden heruntergespielt. Informationen über den grausigen Zustand der zweiten Leiche waren nicht veröffentlicht worden.
Die Außenwelt hatte bis zu diesem Morgen nur erfahren, dass in London zwei Frauen an aufeinander folgenden Sonntagen zur gleichen Uhrzeit umgebracht worden waren. Doch die Zeitungen hatten sich ihren eigenen Reim auf die bekannt gegebenen Fakten gemacht: In den letzten sieben Tagen hatten sie fleißig spekuliert, ob es am dritten Sonntag auch ein drittes Opfer geben würde.
Und das war nun der Fall.
Damit waren alle Hypothesen, es könnte sich um einen »verrückten Zufall« handeln, ad absurdum geführt.
Nahm man die Tatsache hinzu, dass es sich beim neuesten Opfer um die Ehefrau eines prominenten Politikers handelte, nämlich das ehemalige Starmodel Jessica Anderton, wurde die Angelegenheit eine Riesensensation.
Wenn die gnadenlose Medienmaschine erst mal ihren Namen publik gemacht hatte, erklärte Hawkins den Anwesenden, würde ein Höllengewitter über die Polizei hereinbrechen. Ab diesem Moment würden die grausigen Morde in aller Munde sein und ihre Ermittlungen im grellen Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit stattfinden.
Auf Personen, die in unmittelbarer Nähe der Opfer gelebt hatten, traf das auch jetzt schon zu. Jessica Anderton war ja schon lange vor ihrer Ermordung das Objekt von Klatschgeschichten gewesen, und obwohl ihre Nachbarn durchaus verschiedener Ansicht über ihren Charakter waren, waren sich einige in einer Sache ganz sicher: Sie hatten am Sonntagmorgen einen mediterran aussehenden jungen Mann aus dem Haus der Andertons kommen sehen, und zwar wenige Stunden nach ihrer Ermordung.
Fügte man noch die Tatsache hinzu, dass keiner der Zeugen den Mann kannte und er sich auch nicht selbst gemeldet hatte, war man ziemlich dicht dran, einen Verdächtigen zu benennen. Selbst wenn es sich nicht um den Mörder handelte, musste dieser Mann doch etwas wissen. Also kam es jetzt darauf an, ihn zu finden.
Hawkins machte eine dramaturgische Pause, nicht zuletzt, um ihre ängstlichen Zweifel zu kaschieren, und ließ den Blick über ihre Untergebenen schweifen. Sie war die Generalin, die ihre Truppe feierlich auf den Krieg einschwören musste. Die Position, die sie nun ausfüllte, hatte sie sich immer gewünscht. Aber sie wusste nur zu gut, dass der Abschluss dieses Falls über ihre Zukunft entschied, ganz egal, wie ihre Leistungen vorher gewesen waren. Üblicherweise regierte die Polizeibehörde auf Vorwürfe der Öffentlichkeit, sie sei unfähig, einen gemeingefährlichen Verbrecher zu fassen, mit der Entlassung oder Degradierung eines Verantwortlichen. Das konnte ziemlich schnell gehen.
Gab es einen Rekord für den Zeitraum der Übernahme eines Falls durch einen Kriminalbeamten und seiner Abberufung? Zwei Wochen wären wahrscheinlich kaum zu übertreffen.
Sie fuhr fort und listete die Namen der Personen auf, die sie dringend ausfindig machen mussten. Darunter befand sich auch Gary Ward, der nicht sonderlich beliebte Stiefsohn des ersten Opfers, der zurzeit verschwunden war. Dann referierte sie kurz und knapp die wichtigsten Ermittlungsstränge und umriss die Fragestellungen, unter denen die verschiedenen Ermittlerteams arbeiten sollten: Warum schlug der Mörder um eine bestimmte Uhrzeit an einem ganz bestimmten Wochentag zu? Wie war er bei seinen Taten vorgegangen? Wo hatte er sich den Taser besorgt? Und wenn die Opfer in keiner Verbindung zueinander standen, wie hatte er sie dann ausgesucht?
Abschließend schaute Hawkins in die Runde. »Gibt es noch Fragen?«
Ein paar uniformierte Beamte wollten wissen, wie die Überstunden abgegolten würden. Ansonsten schienen alle die grundlegenden Probleme der Ermittlung verstanden zu haben. Hawkins bedankte sich für ihre Einsatzbereitschaft und drückte ihre Hoffnung aus, dass alle sich der Bedeutung des Falls bewusst waren.
Sie lief den Flur entlang, ihre Gedanken kreisten weiter um den Fall.
Bei den beiden ersten Morden hatte man noch nicht davon ausgehen können, dass eine regelmäßige Abfolge beabsichtigt war. Drei Morde an drei aufeinander folgenden Sonntagen aber bedeuteten, dass dieser Serienmörder, um wen es sich auch handeln mochte, einen Plan verfolgte.
Abgesehen davon, ob es Zufall oder Absicht war: Am kommenden Sonntag war Weihnachten und eine Woche später Neujahr. An beiden Tagen hatten die meisten Menschen frei und suchten nach einem Gesprächsthema, über das sie sich mit ihren Verwandten das Maul zerreißen konnten.
Wurde der Fall nicht in der kommenden Woche gelöst, überlegte sie missgelaunt, hätten sogar einander wenig gewogene Verwandte im ganzen Land ein gemeinsames Gesprächsthema zum Weihnachtsfest.
Sie erreichte das Ende des Flurs und schaute zurück, als sie um die Ecke bog. Die Uniformierten und die Analysten verließen gerade den Raum, in dem das Briefing stattgefunden hatte. Ihre engsten Mitarbeiter waren nicht zu sehen, was wahrscheinlich bedeutete, dass sie abwarteten, bis die anderen gegangen waren, um sich zu beraten.
Sie kannte drei von ihnen gut genug, um sich vorstellen zu können, wie dieses Gespräch ablief.
Frank Todd würde als Erster mit seinem harten nordenglischen Akzent das Wort ergreifen: Habt ihr das mitbekommen? Unser Quotenfräulein wird zickig. Ich hab ja gleich gesagt, dass sie nicht genug Mumm hat.
Amala Yasir würde vielleicht entgegnen: Sei nicht so ungerecht, Frank. Die Chefin weiß, was sie tut.
Barclay, der sich als Kriminalanwärter lieber bedeckt hielt, würde nichts dazu sagen.
Blieb noch der neue Mitarbeiter, dessen Urteil entscheiden würde. Hawkins war sich bewusst, dass es auf ihn ankam. Ihn wollte sie keinesfalls an das Lager ihrer Feinde verlieren, aber das würde nicht einfach werden. Viele Kollegen hatten sich über die Jahre immer wieder Frank Todds Urteil angeschlossen. Sie fragte sich beunruhigt, ob er vielleicht recht hatte.
Was war, wenn sie tatsächlich nicht genug Mumm besaß?
Fälle wie dieser kamen in der Wirklichkeit sehr selten vor, egal, was all jene dachten, die sich ständig die neuesten Hollywoodproduktionen mit ähnlichen Szenarios zu Gemüte führten. Die meisten Mordfälle, die nicht im Zusammenhang mit Terrorismus oder Krieg standen, waren vereinzelte Vorfälle. Zumeist waren sie das Ergebnis unerträglicher Verzweiflung oder Wut, die sich in einem kurzen Augenblick Bahn brach, die Mordlust des Täters befriedigte oder ihn mit Schuldgefühlen zurückließ.
Der Unterschied zwischen einem Mörder aus Leidenschaft und einem Menschen, der eine ganze Reihe von Bluttaten über einen längeren Zeitraum akribisch plante, war immens. Planvolles Töten setzte einen nahezu inhumanen Bewusstseinszustand voraus. Und wie es aussah, hatten sie es hier mit so einem Täter zu tun.