39
»Chefin, darf ich kurz …«
»Jetzt nicht, Harris«, schnauzte Hawkins den jungen Sergeant an. »Sprechen Sie mit Yasir.«
Alle hatten sich umgedreht, als sie und Mike die Einsatzzentrale in Hendon betraten, und der Geräuschpegel war deutlich gesunken. Aber nur Anton Harris hatte es gewagt, sie auf ihrem Weg zwischen den Kollegen hindurch zu belästigen.
»Entschuldigung, Ma’am.« Harris senkte den Kopf.
»Dämliche Aushilfen«, murmelte Hawkins leise vor sich hin. Im Leichenschauhaus war es ja vielleicht kalt gewesen und hatte übel gerochen, aber wenigstens quatschten einen die Toten nicht ungefragt an.
Sie traten in ihr Büro und schlossen die Tür hinter sich. Draußen ging jetzt bestimmt das Getratsche los. Simon Hunter, der am Fenster stand, drehte sich um. Frank Todd, der auf dem Stuhl vor Hawkins’ Schreibtisch saß, schaute auf. Hunter stellte ganz vorsichtig die gerahmte Urkunde für besondere Leistungen zurück auf die Fensterbank.
»Meine Herren«, sagte sie. »Vielen Dank, dass Sie gekommen sind.«
Die Luft roch abgestanden, was wahrscheinlich daran lag, dass sie die Tür seit fast zwei Wochen nicht mehr geöffnet hatte. Immerhin hatte sie bisher der Versuchung widerstanden, das Schild mit ihrem Namen durch ein anderes zu ersetzen, auf dem schlicht und ergreifend stand: »Hauen Sie ab!«
Sie trat hinter ihren Schreibtisch und überprüfte, ob die Jalousie zum Vorraum heruntergelassen war. Mike setzte sich auf den Stuhl neben Todd, Hunter blieb stehen.
Hawkins nahm auf dem Chefsessel Platz. Für dieses lederne Ungetüm mit der hohen Lehne hatte sie hart gearbeitet. Dass es sich so unbequem anfühlte, lag nicht am Möbelstück. Sie seufzte. Es war ihre Aufgabe, das erwartungsvolle Schweigen zu brechen.
»Also gut.« Sie beugte sich vor und legte die Hände auf den Tisch. »Reden wir nicht drum herum. Sie alle wissen, was mit Connor passiert ist, und mir gefällt es nicht, wenn in meinem Umfeld jemand umkommt, erst recht nicht, wenn es sich um einen so beliebten und respektierten Kollegen handelt.«
Sie hielt inne und schaute jeden der Anwesenden an. Todds Gesicht war angespannt, Hunters ausdruckslos. Mike nickte.
Sie fuhr fort. »Ja, wir hätten den Kerl beinahe erwischt, aber sonst ist gestern eine Menge schiefgelaufen. Die Leute über uns machen sich schon Gedanken, wie sie sich am günstigsten aus der Affäre ziehen können. Wir aber haben keine Möglichkeiten, uns zu verstecken. Früher oder später wird der Angehörige eines Opfers zur Beschwerdekommission gehen, und wenn das erst mal passiert ist, dann ist alles aus. Also wird der kommende Sonntag unsere letzte Chance sein, Nemesis zu fassen.« Sie hielt inne, um diesen Punkt zu betonen. »Ich habe dieses Treffen absichtlich klein gehalten, damit wir offen miteinander reden können. Danach wird das gesamte Team von unseren Entscheidungen unterrichtet. Das hat aber noch Zeit. Im Augenblick wird da draußen so viel getratscht, dass keiner richtig zuhört. Ich nehme an, Sie hätten alle längst die Gelegenheit gehabt, sich mit den Reportern anzufreunden, die da draußen kampieren. Was bedeutet, dass alle anderen im Team auch schon mit denen zu tun hatten. Ein weiteres Leck können wir uns nicht leisten. Also arbeiten wir jetzt noch mal kurz die Ereignisse von gestern auf und unterhalten uns dann darüber, welche Schritte folgen müssen, okay?«
Die Männer nickten. Sie gab einen kurzen Bericht über die Ereignisse der vorherigen Nacht aus ihrer Sicht, begann mit dem Namen in der eingegangenen Meldung, der sie zu dem Haus in der Old Queen Street geführt hatte, schilderte dann die Details von Connors Tod und beschrieb zum Abschluss die Jagd nach dem Täter durch den St. James’s Park.
Die anderen wiederum berichteten von ihren jeweiligen Einsätzen, und alle machten sich Notizen. So wie es aussah, passten alle Schilderungen ins Gesamtbild. Aber eine Frage machte ihr immer noch zu schaffen.
Sie legte ihr Notizbuch beiseite: »Ich verstehe nicht, warum Eddie es nicht geschafft hat, einen Schuss abzufeuern. Er hatte die Waffe gezogen, trotzdem unterlag er einem Mann, der eine weniger schlagkräftige Waffe besaß. Warum?«
Todd meldete sich zu Wort. »Ich hab darüber nachgedacht. Vielleicht hat der Mörder die Tür ja nur einen Spaltbreit aufgemacht und da hindurchgeschossen. Jemand wie Connor drückt doch erst ab, wenn er ganz sicher ist, dass die Situation es erlaubt. Das gehört zum Training.«
»Das könnte sein, Frank«, schaltete Hunter sich ein. »Aber ich frage mich, ob es nicht noch eine andere Erklärung geben könnte. Hat jemand sich mal gefragt, ob Eddie seine Waffe jemals außerhalb des Schießstands benutzt hat?«
Hawkins schaute sich um. Nein.
»Nun«, fuhr Hunter fort. »Es gibt immer wieder Hinweise darauf, dass manche Beamte – und man kann das nicht vorhersehen, bevor es passiert – in solchen unmittelbaren Situationen plötzlich wie gelähmt sind. Viele von uns sind einfach nicht fähig, einen Menschen zu töten.«
So unangenehm Hunters Theorie auch war, musste Hawkins doch zugeben, dass sie zutreffen konnte. Mike bot an, mit Connors voriger Dienststelle Kontakt aufzunehmen, wenn sie mit der Besprechung fertig waren. Anschließend bat sie Todd, die Anwesenden über die neuesten Entwicklungen in Kenntnis zu setzen.
»Also …« Todd verzog das Gesicht und starrte auf seine Notizen, als hätte sie ein anderer geschrieben. »Wie Sie vielleicht erwartet haben, konnten die Kollegen von der Spurensicherung keine Fingerabdrücke oder DNA am Tatort finden, auch wenn sie eine Menge Zeug eingesammelt haben. Ich habe hier die Liste von allen Beweisstücken aus dem Haus.«
Er zog einige bedruckte Blätter aus einem zerschlissenen Ordner mit dem Aufdruck »Newcastle United«. »Alle Objekte wurden etikettiert. Die Liste ist nicht vollständig, einiges fehlt noch.«
Hawkins holte tief Luft, aber Todd hob abwehrend die Hand: »Ich rufe jede halbe Stunde im Labor an. Und ich kann Ihnen später sicher auch noch was über die Pistole sagen.«
»So schnell wie möglich bitte, Frank. Wie sieht es mit Zeugen aus?«
»Die Nachbarn haben ausgesagt, sie würden sich schon lange keine Gedanken mehr über die Kerle machen, die regelmäßig vor dem Haus des Opfers aufkreuzten. Niemand hat gesehen, wie der Mörder gekommen ist, aber fast alle Bewohner der Straße haben die Schüsse gehört. Er war ja vermummt, also sind die Beschreibungen wenig ergiebig. Jedenfalls liefern ihre Beobachtungen keine zusätzlichen Informationen. Was die beiden Typen am Fuß des Denkmals betrifft – mit denen haben wir auch gesprochen, aber von den Phantombildern sollte man nicht allzu viel erwarten, die beiden waren ganz schön voll. Wahrscheinlich konnten sie sich nur mit Mühe gegenseitig erkennen.«
Hawkins schaute Mike unzufrieden an. »Überwachungskameras?«
»Die Aufnahmen sind auf dem Server, falls Sie sie anschauen möchten«, fuhr Todd fort. »Aber wir haben keine besonderen Details gefunden.«
Sie hob die Hände. »Also haben wir eigentlich nichts Neues?«
»Na ja, fast nichts Neues.« Frank bemühte sich sehr, ein wenig positiv zu klingen. »Wir wissen jedenfalls, dass Charles Anderton den ganzen Samstagabend allein zu Hause war. Keine Anrufe. Und De Angelo wurde ebenfalls überwacht. Er verbrachte das ganze Wochenende zu Hause.«
Hawkins seufzte. »Okay, Frank, dann sag die Überwachung von Anderton ab. Das hier hat nichts mit irgendwelchen Auftragsmorden zu tun. Wir verschwenden nur Personal.« Eine Weile wartete sie schweigend. »Sonst noch was?« Die anhaltende Stille ermunterte sie, ihre eigene sehr vage Spur ins Spiel zu bringen.
»Also, wie wir wissen, war diese Summer Easton eine …« Sie schaute Mike hilfesuchend an. »Wie hat ihre Mutter das am Telefon genannt?«
»Psychometrikerin.«
»Genau. Sie nimmt Verbindung mit den Toten auf und so was. Eine unserer uniformierten Beamtinnen, Katrina Wilson, hat in ihrer Promi-Zeitschrift einen Artikel gefunden, in dem stand, dass Jessica Anderton einen persönlichen Astrologen engagiert hatte. Und nun frage ich mich, ob es da eine Verbindung gibt. Es ist nicht gerade viel, aber wir werden uns schwarzärgern, wenn wir dem nicht nachgehen, und später stellt sich heraus, dass doch was dran war.«
Sie wandte sich an Todd. »Frank, nehmen Sie sich ein paar Leute und versuchen Sie herauszufinden, ob die anderen Opfer ebenfalls einen Hang zu, Sie wissen schon, Spiritualität hatten. Tarotkarten, Wahrsagen und all so was.«
»Geht klar.« Todd streckte sich.
Sie wandte sich an Mike. »Es sollte sowieso selbstverständlich sein, aber ich will alles über Summer Easton wissen. Das wird vielleicht nicht unbedingt angenehm für die Familie, aber irgendwo muss es eine Spur geben. Nemesis mordet nicht nach dem Zufallsprinzip. Er plant jedes Detail akribisch. Deshalb glaube ich, dass er seine Opfer bewusst ausgewählt hat. Sag den Leuten …« Sie machte eine Handbewegung Richtung Nebenraum. »… dass der Nächste, der das Wort Zufall benutzt, einen Monat lang Berichte abheften muss, verstanden?«
Maguire nickte.
Sie wandte sich an Hunter. »Gibt es irgendwelche neuen Details, die wir Ihrem Profil von Nemesis hinzufügen können? Wie Sie sehen, sind wir offen für alle Anregungen.«
»Nun.« Hunter kratzte sich am Kopf. »Also, die gute Nachricht ist, dass ich nicht glaube, dass dieser Fall noch lange offen bleiben wird. Ich glaube, dass Nemesis auf ein bestimmtes Ziel zusteuert. Und wenn Sie und Ihre Leute ihm nicht dazwischenfunken, dann wird sehr wahrscheinlich eine von zwei Möglichkeiten eintreten. Das erste Szenario sieht so aus, dass er kurz davorsteht, das zu verwirklichen, was er als die ultimative Tat ansieht. Etwas, das nicht mehr zu übertreffen ist. Sollte das der Fall sein, dann wird er danach ganz einfach verschwinden.«
»Weil er seinen Kreuzzug zu Ende geführt hat«, sagte Hawkins.
»Sie glauben doch nicht etwa«, warf Todd ein, »dass er die Sache dann einfach so überwunden hat? Soll das ein Witz sein?«
»Also gut«, lenkte Hunter ein. »Ich denke auch, dass Szenario zwei wahrscheinlicher ist. Es könnte sein, dass er sich einbildet, unbesiegbar zu sein. In diesem Fall will er allen – und auch sich selbst – beweisen, dass er Morde verüben kann, ohne dafür bestraft zu werden. Wenn wir die vergangenen Morde anschauen, ist da eine Steigerung zu beobachten. Zuerst genügt ein einfacher Mord, aber die nächste Tat ist schon grausamer. Dann sucht er sich eine prominente Person aus. Danach, ob das nun geplant war oder nicht, verübt er den Mord direkt vor der Haustür der Metropolitan Police. Und dann … wer weiß?«
Todd war damit nicht zufrieden. »Sie wollen uns also erzählen, dass er jedes Mal ein größeres Risiko eingeht, bis er sich am Schluss eine Eins plus gibt und sich stellt?«
Hunter lächelte. »Oh nein, ich glaube nicht, dass er das tun wird. Aber immerhin gibt es ein paar positive Aspekte für uns. Je größer der Nervenkitzel, desto größer das Risiko. Das führt unweigerlich dazu, dass er irgendwann sein Glück zu sehr herausfordert.«
»Bislang hat ihn das Glück jedenfalls nicht verlassen«, warf Hawkins ein. »Gibt es irgendwas, womit wir die Sache beschleunigen können?«
»Das gibt es tatsächlich.« Hunter setzte die Brille ab und begann die Gläser mit einem Stück seines zerknitterten weißen Hemds zu putzen. »Sie müssen sich die Bedeutung der Ereignisse der letzten Nacht vergegenwärtigen.« Er trat nach vorn und setzte sich auf den Rand von Hawkins’ Schreibtisch. »Nemesis ist viel leichter zu verstehen, als zu fangen. Sein Bewusstsein mag zwar getrübt oder gestört sein, wenn man ihn mit einem gesunden Menschen vergleicht, aber er verhält sich logisch und konsequent. Das bedeutet, dass er in der Lage ist, innerhalb seines Rahmens Gefühle zu empfinden. Letzte Nacht haben Sie ihm sehr wahrscheinlich einen Schock verpasst, davon gehe ich aus. Nicht nur, weil Sie ihm so nah gekommen sind und ihn beinahe gefasst hätten. Sie haben ihn auch dazu gezwungen, jemanden zu töten, um sich zu schützen. Bis dahin hat er sich alle Opfer genau ausgesucht. Den Tod von Sergeant Connor hatte Nemesis jedoch genauso wenig geplant wie Sie. Nun muss er davon ausgehen, dass diese Tat in der Öffentlichkeit breitgetreten wird. Damit wird die Botschaft, die er eigentlich aussenden will, verzerrt.«
»Und worauf läuft das jetzt hinaus, bitte schön?«, fragte Todd.
»Entschuldigen Sie, Frank.« Hunter stand auf. »Sie wollen Klartext, richtig? Also, letzte Nacht haben Sie den Stolz dieses Mannes verletzt, indem Sie seinen Plan durcheinanderbrachten. Damit hätte er niemals gerechnet. Und darauf wird er jetzt auf die eine oder andere Art reagieren.« Er warf Hawkins, die ihre Besorgnis hinter einem Stirnrunzeln zu verbergen suchte, einen Blick zu und fuhr fort. »Sie haben sein Selbstbewusstsein verletzt, indem Sie ihn beinahe zu fassen bekamen. Vielleicht haben Sie es auch aufgewertet, weil es Ihnen nicht gelungen ist. Aber in beiden Fällen ist mein Rat, dass Sie den Druck auf ihn erhöhen.«
Mike stellte die Frage, die ganz offensichtlich im Raum stand: »Wie?«
»Nun, es ist vielleicht nicht der eleganteste Plan, Detective, aber ich denke, Sie sollten sich im Fernsehen zeigen und den Mann herausfordern. Machen Sie eine große Sache darum, dass Sie ihn beinahe gekriegt hätten. Versichern Sie ihm, dass Sie es das nächste Mal garantiert schaffen. Stacheln Sie ihn auf. Machen Sie ihn so wütend, dass er nicht mehr anders kann, als den Fehler zu begehen, auf den Sie warten. Tatsache ist, dass er jetzt reif ist.«
»Was für eine Wirkung könnte das haben?«, fragte Hawkins.
»Tja.« Hunter runzelte die Stirn. »Es geht darum, die Emotionen, die Sie in ihm wachgerufen haben, zu verstärken. Wenn Sie ihn beunruhigt haben, wird er vielleicht aufgeben, aber so wie ich ihn einschätze, will er sich rächen.«
»An uns.«
»Ja.«
»Und ich soll dafür meine Leute in Gefahr bringen?«, fuhr sie ihn an. »Das mach ich nicht, tut mir leid.«
»Ich arbeite nur mit den Fakten, die uns zur Verfügung stehen«, sagte Hunter. »Ich wünschte, Sie hätten ihn letzte Nacht verhaftet, Detective. Aber nun haben Sie alles auf eine persönliche Ebene gebracht.«