44

Hawkins hielt den Telefonhörer ein paar Zentimeter über die Basis und ließ ihn dann herunterfallen. Als wollte er sich für diese schlechte Behandlung rächen, weigerte der Apparat sich einzurasten und fiel klappernd auf die Tischplatte. Sie packte ihn und knallte ihn lautstark auf.

Die letzten Nachrichten von Yasirs Team waren eher schlecht.

Sie starrte in die Luft und versuchte, den Verdacht niederzukämpfen, dass sie mal wieder auf dem Holzweg waren. So wie es aussah, war es ziemlich nutzlos, sämtliche Okkultisten in London aufzusuchen in der vagen Hoffnung, sie könnten auf diese Weise das nächste Opfer finden. Wie sollten sie diese Leute überhaupt ansprechen? Etwa so: »Hallo, ich bin von der Polizei. Wir suchen gerade einen ziemlich grässlichen Mörder. Hat eine Elektroschockpistole bei sich und nennt sich Nemesis. Sie haben ihn nicht zufällig gesehen?«

Selbst Faith Easton, die ja über jede Menge Kontakte in dieser Szene verfügte, konnte ihnen nicht weiterhelfen. Mochte ja sein, dass der Schock über den Verlust ihrer Tochter sie hart getroffen hatte, aber die vielen Stunden, die sie in spirituellen Chatrooms zubrachte, müssten doch zumindest zu ein paar Hinweisen führen.

Leider nicht.

Aber der spirituelle Ansatz war immer noch das Beste, was ihnen bisher eingefallen war, um die Opfer miteinander in Verbindung zu bringen. Wenigstens hatten sie etwas, woran sie sich abarbeiten konnten.

Hawkins seufzte und griff nach ihrem Handy. Sie konnte genauso gut bei Paul anrufen, um mit ihm zu vereinbaren, wann er seine Sachen abholte. Was auch immer im Fall Nemesis passierte, in den nächsten Tagen wurde es garantiert nicht ruhiger, also konnte sie wenigstens diese Angelegenheit regeln. Aber beim zweiten Klingeln beendete sie den Anruf, weil Mike eintrat.

Unvermittelt brach es aus ihr hervor: »Wo zum Teufel bist du gewesen?«

»Hab mir den Arsch aufgerissen.«

Sie riss sich zusammen. »Entschuldige, vergiss es. Was hat sich bei dir so getan?«

»Ziemlich viel.« Er entspannte sich. »Hab was richtig Großes gefunden. So eine Art verspätetes Weihnachtsgeschenk.«

Er griff in die Manteltasche und zog eine ramponiert aussehende Videokassette heraus.

Hawkins musterte ihn misstrauisch. Sie erinnerte sich an Mikes Leidenschaft fürs Fotografieren. »Ich hoffe, das ist jetzt nicht so eine Art Bekenntnis.«

Hawkins rieb sich die geschlossenen Augenlider und versuchte, die Anspannung loszuwerden, die das angestrengte Auf-den Bildschirm-Starren verursachte. Bislang hatten Mike und sie das Video, das er vor einer Stunde mitgebracht hatte, fünfmal angeschaut. Leider hatten sie bei den letzten drei Durchgängen nichts Neues entdeckt.

Sie spulte wieder zum Anfang zurück und verfluchte die marode Technik, weil der Rekorder jedes Mal das Band auswarf, wenn sie auf Stopp drückte. Sie zog die warme Kassette aus dem Schlitz und schlug gegen die Holzdekorseite des Fernsehgeräts.

»Blödes Ding.«

Das uralte Gerät schwankte hin und her. Das verzerrte, undeutliche Bild und das fahrbare Gestell, auf dem der Fernseher stand, erinnerten sie an den Biologieunterricht in der Schule. Aber dieses Schrottteil hier war das einzige, mit dem sie das alte Band abspielen konnten.

Immerhin konnten sie damit eine Aufnahme von Nemesis ansehen.

Den Fernseher mit eingebautem Videorekorder hatten sie in einem Lagerraum einen Stock tiefer ausfindig gemacht, der die reichlich übertriebene Bezeichnung »Medienraum« trug. Von dort durfte man eigentlich keine Geräte mitnehmen, nicht mal so altertümliche wie diesen Fernseher. Aber Hawkins fand, dass ihr Rang sie dazu berechtigte, diese Regel zu ignorieren.

Sogar die Putztruppe vermied es, den Medienraum zu betreten, in dem es nach Fastfood und Schweiß roch. Man wusste nie, wer den Schreibtisch da drin zuletzt benutzt hatte oder wofür. Affären zwischen Arbeitskollegen waren nicht Besonderes, und die Jalousien vor den Fenstern und das Drehschloss waren in dieser Hinsicht von Nutzen.

Hawkins schob den Stuhl zurück und ging zum Fenster. In der Hand hielt sie die Kassette. Immerhin konnte sie dankbar sein, dass sie sie hatten.

Es war die beste Nachricht seit Wochen.

Die Aufnahme stammte von einer Frau namens Doris Hicks, die kürzlich ihr Haus in zwei Wohnungen aufgeteilt hatte. Die untere Hälfte hatte sie an Summer Easton verkauft.

Miss Hicks hatte Freunde auf Korfu besucht und war erst am Abend zuvor zurückgekehrt. Als sie zu Hause ankam, fand sie alles mit Polizeiband abgesperrt. Sie hatte sofort die Nummer angerufen, die dort angegeben war, und landete schließlich bei Mike. Im Gespräch hatte sie die Überwachungskamera erwähnt, die über ihrer früheren Eingangstür hing und die sich einschaltete, wenn sich etwas in der Nähe bewegte.

Die Aufnahmen wurden von einem altmodischen Videorekorder auf einem Drei-Stunden-Band aufgezeichnet. Der Rekorder stand im oberen Stockwerk, wo sie wohnte. Ihr Anruf war gerade noch rechtzeitig gekommen. Das Gerät war so eingerichtet, dass die frühen Aufnahmen wieder überspielt wurden, wenn die Kassette voll war. Da niemand die Kamera bemerkt hatte, die unter dem Efeu über der Tür verborgen hing, waren die emsigen Aktivitäten der Polizei in den vergangenen Tagen alle festgehalten worden. Die infrage kommende Aufzeichnung war so ziemlich das älteste Material auf dem Band. Hätte Miss Hicks sich etwas später gemeldet, wären nur noch die Aufnahmen von Beamten der Spurensicherung übrig gewesen.

Hawkins starrte die Regentropfen an, die über das Fenster rannen, als Mike ihre Gedankengänge unterbrach.

»Willst du das Ding jetzt noch mal abspielen oder es für dich behalten?«

Hawkins merkte, dass sie die Kassette wie etwas Kostbares gegen ihre Brust drückte. Die Plastikhülle war mittlerweile deutlich abgekühlt.

Sie wandte sich wieder dem Videogerät zu, in der Hoffnung, dass es lange genug funktionierte, um die Aufnahme noch einmal anzusehen. Anton Harris, der ein begabter Techniker war, hatte bereits eine digitale Kopie angefertigt. Nun wollte er versuchen, die Bilder ein bisschen schärfer zu machen, aber das würde eine ganze Weile dauern. In der Zwischenzeit mussten sie das Original benutzen.

Hawkins war allerdings skeptisch. Harris konnte wahrscheinlich auch nicht mehr herausholen, als zu Beginn da gewesen war. Es handelte sich schließlich nicht um eine digitale Aufnahme im HD-Format.

Sie schob die Kassette in den Schlitz und wartete, während die Maschine sie sich mit einem lauten Stöhnen einverleibte. Sie verzog das Gesicht angesichts der merkwürdigen Geräusche, die das Gerät von sich gab, und hoffte, dass jetzt nicht irgendwelche messerscharfen Innereien anfingen, das Tonband zu zerfetzen.

Schließlich wurde es ruhig, und sie drückte auf Play.

Der Bildschirm leuchtete blau auf, und dann erschien ein grobkörniges Bild, das zunächst nur undeutlich zu erkennen war, während das Band anlief.

Das Ende der vorherigen Aufnahme war zu sehen, die Rückkehr von Summer Easton nach Hause, gewissermaßen als Ouvertüre ihrer letzten Stunden. Es war bereits Abend, und ihre hellen Haare lieferten einen starken Kontrast zu dem dunklen Pflasterweg, über den sie lief.

Einen Moment später war sie aus dem Blickfeld der Kamera verschwunden und betrat das Haus. Es folgte ein zehn Sekunden langes Stillleben der Eingangsstufen. Dann, als keine Bewegung mehr vorhanden war, schaltete die Kamera sich ab.

Das Bild flackerte, wurde von gezackten Linien gestört, und schließlich gab es wieder etwas zu sehen.

Ein paar Füße traten von oben ins Bild. Sie beugten sich beide vor, und Hawkins hob eine Hand, damit ein Schatten auf den Bildschirm fiel. Sie wollte kein noch so winziges Detail auf der unscharfen Aufnahme verpassen.

Die Gestalt erschien jetzt vollständig im Bild. Sie erkannte den Overall, den Rucksack und die Baseballmütze wieder. Das Gesicht des Mörders wurde größtenteils von der Mütze verdeckt. Sie bemühte sich, alle Einzelheiten mit ihrer Erinnerung zu vergleichen, und stellte erneut fest, dass sein Kopf von langen Haaren eingerahmt wurde, die unter seiner Mütze hervorquollen.

Aber das Bild zitterte zu sehr, um die Gesichtszüge zu erkennen. Da die Kamera ziemlich weit oben hing, war es auch schwierig, Größe und Statur einzuschätzen.

Der Killer hatte einen Blumenstrauß in der Hand und zog ein Klemmbrett aus dem Rucksack. Dann schob er ihn wieder auf den Rücken und drückte auf den Klingelknopf.

Sie hörten, wie die elektrische Glocke ertönte, und sahen zu, wie Nemesis wartete, dass Summer Easton ihm die Tür öffnete.

Hawkins hatte das Gefühl, ihr Magen würde sich gleich umdrehen, genau wie bei dem vorherigen Abspielen des Materials. Hier in der sicheren Umgebung ihres Büros zuzusehen, wie kontrolliert der Mörder vorging, verstärkte nur den Eindruck seiner Gefährlichkeit. Darüber hatte sie nicht weiter nachgedacht, als sie sich in der Weihnachtsnacht nur wenige Meter von ihm entfernt befunden hatte.

Auf dem Bildschirm war ein Lichtstreifen zu sehen, der auf die Treppenstufen fiel und deutlich machte, dass die Tür geöffnet worden war. Die Sicherungskette war vorgelegt. Dann sagte der Killer etwas.

»Vierundzwanzig-Stunden-Blumenservice, gnädige Frau.« Seine Stimme war kratzig und verzerrt, aber er hatte einen Londoner Akzent. Er hob das Klemmbrett an, um nachzuschauen, was dort stand. »Von Ihrer Mutter.«

Nemesis wandte den Kopf und schaute rechts und links die Straße hinunter. Währenddessen verschwand der Lichtstreifen und wurde dann wieder breiter, als die Tür ganz aufging.

Hawkins musste schlucken, als der Schattenriss von Summer Easton in der Tür erschien.

»Sie müssen nur hier unterschreiben, Gnädigste. Darf ich kurz ein bisschen ins Licht treten?«

Der Schatten trat zur Seite, und Nemesis verschwand aus dem Blickfeld. Die Tür ging zu, und die Stufen waren leer. Zehn Sekunden später flackerte das Bild, erlosch, und gleich darauf begann die nächste Aufnahme. Hawkins sah, wie sie selbst zusammen mit Mike vor der Tür auftauchte.

Sie drückte auf Stopp und griff nach der Kassette, als der Rekorder sie ausspuckte.

»Der weiß genau, was er tut«, sagte Mike. »Das muss man ihm lassen. In dieser Verkleidung erkennt ihn nicht einmal ein Opfer, das ihm schon begegnet ist. Jedenfalls nicht, bevor es zu spät ist.«

Hawkins nickte.

»Gehen wir das noch mal durch«, fuhr Mike fort. »Es spielt keine Rolle, ob er der Frau nach Hause folgt oder bereits weiß, wo sie wohnt. Er wartet bis nach Mitternacht, dann klingelt er und behauptet, er würde einen Blumenstrauß ihrer Mutter bringen, so weit richtig?«

Hawkins sprach weiter: »Sie ist angenehm berührt und fühlt sich nicht bedroht, weil der Mann ja gesagt hat, dass sie einen Vierundzwanzigstundenservice haben. Also lässt sie ihn rein.«

»Dann wird sie mit dem Taser gelähmt und …« Mike schüttelte den Kopf. »Was dann mit ihr passiert, haben wir ja gesehen.«

»Und weil sie ihn freiwillig hereinlässt, schöpft kein Nachbar, der das zufällig mitbekommt, Verdacht und schlägt Alarm.«

»Genau. Der Overall sieht aus wie eine Uniform, ist aber ein Schutzanzug. Wir haben auch solche Dinger, aber die sind weiß, nicht blau. Im Video ist das nicht deutlich zu sehen, aber ich wette, dass er bereits schwarze Überschuhe und durchsichtige Plastikhandschuhe trägt, wenn er ankommt. Das alles kann man problemlos im Fachhandel für Berufskleidung kaufen.«

Hawkins bat Mike, das Ermittlungsteam zu unterrichten. Sie wollte, dass sie herausfanden, woher die Blumen stammten, die der Killer benutzt hatte. Falls sie echt waren, musste er sie wenige Tage vor der Tat gekauft haben. Vielleicht in einem Blumenladen in der Nähe. Wenn sie falsch waren, konnte man vielleicht den Hersteller ermitteln.

Nachdem Mike gegangen war, rief Hawkins in der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit an und bat sie, mit der Redaktion von Crimewatch Kontakt aufzunehmen. Was den Zeitpunkt betraf, hatten sie Glück. Die Videoaufnahme konnte in der nächsten Sendung ausgestrahlt werden.

Mike kam zurück, während sie ihren zweiten Anruf machte, um herauszufinden, wie weit Harris mit der Digitalisierung der Aufnahme gekommen war.

Sie legte auf und sah, wie Mike eines der Bilder in die Hand nahm, die auf dem Regal hinter ihrem Schreibtisch standen. Darauf waren sie beide auf der letzten Weihnachtsparty der Polizei zu sehen, am Ende ihrer Affäre.

»Das Bild hatte ich ganz vergessen«, sagte er. »Wieso hat es neulich nicht schon hier gestanden?«

»Hat es. Die ersten digitalen Kopien des Videos sind in einer Stunde fertig, und die Aufnahme wird morgen bei Crimewatch gezeigt.«

»Sehr gut. Aber warum ist dieser Bilderrahmen nicht so eingestaubt wie der ganze Rest hier?«

»Also gut, Monsieur Poirot. Ich hab das Bild gestern in der Schublade gefunden. Anton meint, die Bereinigung des Tons und die Verbesserung der Bildqualität funktioniere gut. Wir könnten Yasir und Todd dabei helfen, die Aufnahme den Freunden und Bekannten der Opfer zu zeigen.«

»Prima. Wo ist denn der Schnappschuss, den ich bei deiner Beförderung von dir gemacht habe?«

»Der ist auch noch irgendwo«, antwortete sie in der Hoffnung, dass Mike sich nicht an das Foto von Paul erinnerte, das sie weggepackt hatte, um es durch das von Staub befreite Bild zu ersetzen.

Hawkins ging zum Fenster, schob die schmuddelige Jalousie ein Stück weit auf und spähte ins Nebenzimmer. Barclay war seit seinem dramatischen Abgang noch nicht wieder erschienen, aber Amala Yasir saß an ihrem Schreibtisch und telefonierte. Wie ihre gebeugte Haltung zeigte, war sie sich bewusst, dass Frank Todd, der einzige andere Beamte im Raum, ihr Gespräch mithören konnte.

Wahrscheinlich entschuldigte sie sich mal wieder bei ihrem Freund, weil die Chancen sehr schlecht standen, dass sie zu einer humanen Zeit nach Hause kam. Hawkins hatte sie und Todd angewiesen, die Aufnahme allen Beamten, die mit dem Fall zu tun hatten, vorzuspielen.

Es war auf jeden Fall gut, dass das Video morgen Abend bei Crimewatch ausgestrahlt wurde, aber bis dahin waren es noch dreißig Stunden. So lange hatten sie einen Vorteil gegenüber Nemesis, der bislang noch nicht wusste, dass sie eine Aufnahme von ihm besaßen.

Wenige Sekunden später legte Yasir ihr Headset beiseite. Dann packten sie und Todd ihre Sachen zusammen und gingen. Wahrscheinlich wollten sie was essen.

Sie drehte sich zu Mike um. Auf einmal war ihr schwindelig. »Hast du schon zu Mittag gegessen?«

»Nein.« Er schaute sie besorgt an, als sie sich an der Tischplatte festhalten musste. »Wann hast du denn zum letzten Mal was zu dir genommen?«

»Mir geht’s gut«, sagte sie, ohne wirklich überzeugt zu sein. »Ich muss bloß mal hier raus. Den ganzen Mist vergessen, in dem ich hier … in dem wir hier stecken.«

»He.« Mike strich ihr über die Schulter. »Nicht aufgeben. Wir werden diesen Kerl kriegen, das verspreche ich dir.«

Hawkins pulte an einem Holzsplitter, der aus der Tischplatte ragte, und bemühte sich, begeistert zu nicken.

»Na, komm her.« Mike legte seine Arme um sie. »Lass mich jetzt nicht hängen.«

Sie legte den Kopf an seine Brust, schloss die Augen, schlang die Arme um seinen Nacken und atmete tief ein. Sie roch sein Aftershave.

Das leise Klopfen an der Tür hörte sie kaum. Sie befand sich noch immer in Mikes Umarmung, als die Tür aufging. Sie löste sich, schaute auf und sah, wie Barclay mit entsetztem Blick auf der Schwelle stehen blieb. Sein Mund stand offen, er blinzelte nervös, als könne er nicht verkraften, was er da sah.

»John …«, sagte Hawkins.

Barclay erwidert nichts, wandte sich ab und ging. Die Tür knallte hinter ihm zu.

Mike schaute verblüfft und wandte sich an sie. »Was zum Teufel war das denn?«

»Wie meinst du das?«

»Ach, komm schon. Wenn man irgendwo hereinplatzt und die Chefin dabei überrascht, wie sie einen Kollegen umarmt, dann entschuldigt man sich, oder?«

Hawkins wollte lässig etwas erwidern, als ihr klar wurde, was passiert war. Sie starrte zu Boden und versuchte, eine halbwegs plausible Antwort zu finden. Plötzlich fand sie es erstaunlich, dass sie es nicht früher gemerkt hatte.

»Oh, verdammter Mist.« Sie ließ sich auf ihren Stuhl fallen.

»Hallo?« Mike trat zu ihr. »Was für ein verdammter Mist denn?«

Hawkins seufzte. Ihr fiel kein überzeugendes Argument ein, warum sie es ihm verheimlichen sollte. »Ich dachte, dass er wegen der Sache mit Eddie so überspannt ist, aber vielleicht hat er ja erwartet …« Sie brach ab, als sie merkte, dass es besser war, die Geschichte von Anfang an zu erzählen. »Also … John hat mich mal gefragt, ob ich mit ihm ausgehen möchte. Letztes Jahr, als ich das Seminar gegeben habe. Ich habe natürlich abgelehnt.«

»Natürlich«, äffte Mike sie nach. »Und das war’s dann? Es ist nichts … passiert?«

»Ach komm. Selbstverständlich ist nichts passiert.«

»Und er hat dir nicht signalisiert, dass er damit nicht einverstanden ist?«

»Nein.« Hawkins fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger über den Nasenrücken. In diesem Moment lasteten alle Überstunden der letzten dreiundzwanzig Tage wie Blei auf ihren Schultern. »Nicht bis zu diesem Moment.«

»John ist also in dich verknallt«, stellte Mike fest. »Warum hast du mir nichts davon erzählt?«

»Weiß ich auch nicht. Ich schätze, das fing etwa um die Zeit an, als das mit Paul kaputtgegangen ist.«

»Aha, und mit kaputtgegangen meinst du, als du genau das getan hast, wovor ich dich gewarnt habe, nämlich ihm alles zu erzählen.« Er starrte sie an. »Du musst John wieder reinholen, Toni. Du kannst das nicht einfach auf sich beruhen lassen.«

»Und du glaubst wohl neuerdings, du kannst mein Team dirigieren und in mein Leben reinpfuschen?«, sagte sie mit erhobener Stimme. »John fällt in meine Verantwortung, nicht in deine. Ich werde mich um ihn kümmern, weil er unter meinem Kommando steht. Und das ist übrigens etwas, das auch du dir vergegenwärtigen solltest.«

Mikes Gesichtszüge spannten sich an, aber er signalisierte, dass er verstanden hatte.

Als er wieder das Wort ergriff, bemühte er sich, ruhig zu bleiben. »Ich verstehe trotzdem nicht, warum du mir nichts davon gesagt hast.«

»Wir hatten schon genug Probleme, wie du dich vielleicht erinnerst.«

»Ich meine doch, seit ich wieder zurück bin. Macht dir das denn nichts aus?«

»Eigentlich nicht, nein. Und wir sind jetzt nicht gerade in einer Situation, wo man sich über einen verknallten Schuljungen aufregt.«

»Ein Schuljunge ist er aber nicht mehr.«

Sie antwortete nicht.

Mike schaute sie forschend an. »Oder hast du doch irgendwas getan, um ihn zu ermutigen?«

»Was meinst du denn damit?« Hawkins merkte, wie sie wieder lauter wurde. »Dass ich ihn an der Nase herumgeführt habe?«

Sie starrte ihn an und wartete, ob er einen Rückzieher machte. Als er das nicht tat, wandte sie sich ab und strich sich verwirrt mit der Hand durchs Haar. Wie konnte sich ihr Verhältnis denn in so kurzer Zeit derart verschlechtern?

»Geh einfach«, sagte sie zur Wand gedreht.

Mike atmete hörbar ein und aus, dann ging er. Sie zuckte zusammen, als die Tür hinter ihm laut zuschlug, und starrte das Bild an, auf dem sie beide zu sehen waren. Wie kam es nur, dass er ihr immer noch so unter die Haut ging? Es war, als hätten sie einfach nur sechs Monate Pause gemacht. Kaum war Mike wieder da, machten sie genau da weiter, wo sie aufgehört hatten.

Seufzend setzte sie sich auf die Tischkante. Sie griff nach dem Telefon, um die Techniker anzurufen, brach aber ab, als sie die halbe Nummer eingegeben hatte. Es war ja erst ein paar Minuten her, seit sie dort nachgefragt hatte, und sie hatten versprochen, sich sofort bei ihr zu melden, wenn die Kopien fertig waren.

Einen Moment lang hielt sie den Hörer in der Hand. Dann tippte sie Mikes Handynummer ein, brach ab, begann von neuem. Beim dritten Versuch gab sie die Nummer komplett ein und hielt die Luft an, während sie dem Rufton lauschte. Als der Anrufbeantworter sich einschaltete, atmete sie aus. Sie legte den Hörer beiseite und schlug die Hände vors Gesicht.

Sie hatte sich schon lange nicht mehr so einsam gefühlt.

Der Adventkiller
cover.html
978-3-641-14559-0.html
978-3-641-14559-0-1.html
978-3-641-14559-0-2.html
978-3-641-14559-0-3.html
978-3-641-14559-0-4.html
978-3-641-14559-0-5.html
978-3-641-14559-0-6.html
978-3-641-14559-0-7.html
978-3-641-14559-0-8.html
978-3-641-14559-0-9.html
978-3-641-14559-0-10.html
978-3-641-14559-0-11.html
978-3-641-14559-0-12.html
978-3-641-14559-0-13.html
978-3-641-14559-0-14.html
978-3-641-14559-0-15.html
978-3-641-14559-0-16.html
978-3-641-14559-0-17.html
978-3-641-14559-0-18.html
978-3-641-14559-0-19.html
978-3-641-14559-0-20.html
978-3-641-14559-0-21.html
978-3-641-14559-0-22.html
978-3-641-14559-0-23.html
978-3-641-14559-0-24.html
978-3-641-14559-0-25.html
978-3-641-14559-0-26.html
978-3-641-14559-0-27.html
978-3-641-14559-0-28.html
978-3-641-14559-0-29.html
978-3-641-14559-0-30.html
978-3-641-14559-0-31.html
978-3-641-14559-0-32.html
978-3-641-14559-0-33.html
978-3-641-14559-0-34.html
978-3-641-14559-0-35.html
978-3-641-14559-0-36.html
978-3-641-14559-0-37.html
978-3-641-14559-0-38.html
978-3-641-14559-0-39.html
978-3-641-14559-0-40.html
978-3-641-14559-0-41.html
978-3-641-14559-0-42.html
978-3-641-14559-0-43.html
978-3-641-14559-0-44.html
978-3-641-14559-0-45.html
978-3-641-14559-0-46.html
978-3-641-14559-0-47.html
978-3-641-14559-0-48.html
978-3-641-14559-0-49.html
978-3-641-14559-0-50.html
978-3-641-14559-0-51.html
978-3-641-14559-0-52.html
978-3-641-14559-0-53.html
978-3-641-14559-0-54.html
978-3-641-14559-0-55.html
978-3-641-14559-0-56.html
978-3-641-14559-0-57.html
978-3-641-14559-0-58.html
978-3-641-14559-0-59.html
978-3-641-14559-0-60.html
978-3-641-14559-0-61.html
978-3-641-14559-0-62.html
978-3-641-14559-0-63.html
978-3-641-14559-0-64.html
978-3-641-14559-0-65.html
978-3-641-14559-0-66.html
978-3-641-14559-0-67.html
978-3-641-14559-0-68.html
978-3-641-14559-0-69.html
978-3-641-14559-0-70.html
978-3-641-14559-0-71.html
978-3-641-14559-0-72.html
978-3-641-14559-0-73.html
978-3-641-14559-0-74.html
978-3-641-14559-0-75.html
978-3-641-14559-0-76.html
978-3-641-14559-0-77.html
978-3-641-14559-0-78.html
978-3-641-14559-0-79.html
978-3-641-14559-0-80.html
978-3-641-14559-0-81.html
978-3-641-14559-0-82.html
978-3-641-14559-0-83.html
978-3-641-14559-0-84.html
978-3-641-14559-0-85.html
978-3-641-14559-0-86.html
978-3-641-14559-0-87.html
978-3-641-14559-0-88.html
978-3-641-14559-0-89.html
978-3-641-14559-0-90.html
978-3-641-14559-0-91.html