56

»Dann gehe ich eben zu Fuß weiter«, rief der Anzugträger über das Dröhnen des Presslufthammers hinweg. »Und Sie können sich das hier in den Arsch schieben.«

Er schlug die Tür des Taxis zu und warf das Geld durch das geöffnete Seitenfenster. Dann sprang er über das Geländer, nicht weit von der Stelle entfernt, wo Hawkins gerade stand.

»Beschissener Verkehr«, schimpfte er vor sich hin. »Und dafür sind diese Affen von den Bäumen gestiegen.«

Er ging mit weit ausholenden Schritten davon und meckerte die Arbeiter an, deren Werkzeug den Bürgersteig an der Victoria Street blockierte.

Dann, als wäre es choreografiert, schaltete die Ampel an der Baustelle um, und der Verkehr bewegte sich weiter. Hawkins sah zu, wie das schwarze Taxi an seinem ehemaligen Fahrgast vorbeifuhr, der gerade mal dreißig Meter zurückgelegt hatte. Der Fahrer streckte den Arm aus dem Fenster und machte das Victory-Zeichen. Hawkins lächelte vor sich hin.

Sie musterte die neue Autoschlange, die sich bereits gebildet hatte. Der Verkehr war am letzten Arbeitstag vor Silvester sehr dicht, aber der schwarze Mercedes, nach dem sie Ausschau hielt, war nirgendwo zu sehen. Ein Blick auf die Uhr machte ihr deutlich: Sie war fünf Minuten zu früh dran. Also wandte sie sich wieder der Morgenausgabe der Daily Mail zu.

Dank Danny Burns wurde die erste Seite der Mail von einer marktschreierischen Schlagzeile beherrscht: SERIENKILLER NIMMT DIE BLAUEN INS VISIER. Sie wand sich innerlich wegen des Spitznamens für Polizisten, den die Medien immer dann benutzten, wenn sie die Beamten ins positive Licht stellen wollten. Dabei passte es in diesem Zusammenhang gar nicht, denn ein Kriminalbeamter trug ja keine Uniform. Aber immerhin kam die Botschaft klar rüber. Unter der Überschrift waren die Fotos von Connor und Barclay platziert.

Wer umblätterte, stieß dann auf den Text von Vaughn, den er persönlich unterschrieben hatte. Er wandte sich an die Öffentlichkeit, deren Begeisterung für jede Art von Prominenz sich nun sogar auf den Serienkiller ausgeweitet hatte. Vaughn erklärte, dass Nemesis inzwischen auch für den Tod eines Polizisten verantwortlich sei und dass er einen weiteren Beamten entführt und womöglich umgebracht habe. Und er erinnerte die Leser daran, dass dieser Mann, der einen hohen moralischen Anspruch vertrat und die Medien erfolgreich für seine Zwecke einspannte, trotz allem nichts weiter als ein Mörder war.

Der eigentliche Sinn dieses Artikels war es natürlich, Nemesis zu verärgern.

Nachdem sie die Vorteile dieser Strategie eingesehen hatte, hätte Hawkins die Botschaft am liebsten von allen Zeitungen verbreiten lassen. Dennoch hatte sie Vaughn vorgeschlagen, sich mit Danny Burns in Verbindung zu setzen, da der Killer bislang die Mail benutzt hatte, um mit der Öffentlichkeit in Kontakt zu kommen. Die Polizei konnte es sich nicht leisten, der Zeitung zu überlassen, wann sie die nächste Botschaft des Killers abdruckte, nur weil sie sich scheute, mit dem Blatt eine Abmachung zu treffen.

Vielleicht hatte Nemesis ja recht, was die moralische Verkommenheit der Gesellschaft betraf.

Vaughn hatte natürlich zugestimmt. Auch er wusste, dass es keinen Sinn ergab, aus Prinzipienreiterei eine gute Chance zu vertun. Und so frustrierend es auch war, auf die Vorgaben eines Sensationsjournalisten einzugehen, Danny Burns hielt Wort. Noch vor sechs Uhr morgens hatte er sich telefonisch bei Hawkins gemeldet.

Eine weitere E-Mail von Nemesis war bei der Zeitung eingegangen.

Schon allein diese Tatsache belegte, dass der Killer kein religiöser Fanatiker war, denn inzwischen war die Adventszeit ja vorbei. Ein Täter, der einer solchen Obsession folgte, hätte seine Serie mit der Ermordung von Summer Easton beendet. Das ließ auch hoffen, dass es am ersten Adventssonntag kein bislang unbekanntes Opfer gegeben hatte.

Aber es bedeutete auch, dass es weitere Morde geben würde, wenn es ihnen nicht gelang, Nemesis zu verhaften.

Die Ampeln schalteten erneut um, und der Verkehr kroch weiter. Kurz darauf ertönte rechts von ihr eine Hupe. Sie schaute auf und bemerkte einen Mercedes CLS, der fünfzehn Meter neben ihr anhielt. Sie hob die Hand, um dem Fahrer zu signalisieren, dass sie ihn gesehen hatte, und faltete die Zeitung zusammen, bevor sie sich zwischen den stehenden Autos ihren Weg zur Beifahrertür bahnte.

»Bin ich zu spät?«, fragte Tristan Vaughn und schaltete das Radio aus. Bruno Mars verstummte mitten im Refrain.

»Überhaupt nicht. Ich bin war zu früh.«

Sie machten kurz ein wenig Smalltalk über den dichten Verkehr und dass man um diese Zeit besser nicht mit dem Auto unterwegs war, dann wurde es Grün, und Vaughn gab Gas. Noch während sie die Baustelle passierten, räusperte er sich.

»Was macht unser Fall?«

Welcher denn?, hätte Hawkins beinahe gefragt. Aber da ihr Aufpasser durchaus freundlich dreinblickte, hielt sie sich mit einem allzu provokanten Scherz lieber zurück und sagte knapp: »Läuft gut.«

»Gibt’s was Neues?«

Ihr Instinkt sagte ihr, dass es ein schwerer Fehler wäre, die möglicherweise heiße Spur in Bezug auf Curtis Rickman anzusprechen. Yasir und Walker hatten den ganzen gestrigen Abend in der Billardhalle in Deptford verbracht, von der Karin Shelton gesprochen hatte, und nach dem Verdächtigen gefragt. Vaughn zu erklären, warum sie ihn über eine so bedeutsame Entwicklung nicht auf dem Laufenden hielt, wäre schwierig – allerdings erst recht, wenn sie Rickman tatsächlich fanden.

Sie wollte, dass diese Festnahme auf ihr Konto ging und nicht auf das von Vaughn; das wäre vor allem dann von Vorteil, wenn Rickman tatsächlich der Killer war.

Stattdessen legte sie Vaughn ihren Verdacht dar, dass es zwischen den Opfern eine Verbindung innerhalb der spirituellen Szene gab, mit der alle zu tun gehabt hatten, und dass sie Emilia Jeffries ausfindig gemacht hatten. Sie erwähnte auch, dass sie Jeffries davon überzeugt hatte, in ein sicheres Haus zu ziehen, wo sie rundum von bewaffneten Polizisten geschützt wurde. Aber sie erwähnte nicht die Namen, die das potenzielle Opfer genannt hatte, und auch nicht die Spur, die zu Rickman führte.

Sie beendete ihre Ausführungen mit dem Hinweis, dass sie dank der Ausstrahlung des Überwachungsvideos vom Haus Summer Eastons in der gestrigen Crimewatch-Sendung weitere mögliche Zeugen gefunden hatten. Zwar gab es noch keinen Durchbruch, aber sie würden Konkreteres wissen, nachdem die Ermittlungsteams in der morgendlichen Konferenz Bericht erstattet hatten.

Sie wurde von einer vorlauten Stimme unterbrochen, die Vaughn anwies, geradeaus über die A302 durch Grosvenor Gardens zu fahren.

»Ansonsten«, fuhr Hawkins fort, nachdem das Navi wieder still war, »gehe ich davon aus, dass Ihnen die Berichte über die DNA-Untersuchungen in der Wohnung von Barclay vorliegen.«

Vaughn blickte erstaunt drein. Tatsächlich hatte er die Berichte noch nicht gesehen. Eins zu null für mich, dachte Hawkins klammheimlich. Sie hatte das Labor gebeten, ihr die Ergebnisse so früh wie möglich zu übermitteln. Der Anruf war vor zwanzig Minuten gekommen.

Sie erklärte, dass die meisten der vielen Spuren in Barclays Wohnung von ihm selbst stammten. Das galt auch für den blutigen Handabdruck auf der Tischplatte. Alle forensischen Ergebnisse schienen darauf hinzudeuten, dass seit letztem August niemand außer ihm in der Wohnung gewesen war.

Falls Nemesis für das Verschwinden von Barclay verantwortlich war, hatte der Killer bislang jedenfalls noch nicht verlernt, seine Spuren zu verwischen.

Die intensiven Untersuchungen hatten zugleich zutage gefördert, dass der junge Kriminalbeamte keine sozialen Kontakte gehabt hatte, seit er in diese Wohnung eingezogen war, vermutlich auch aufgrund der beruflichen Beanspruchung der letzten Zeit. Hawkins verzichtete auf die Bemerkung, dass sein Privatleben damit dem ihren auf tragische Weise ähnelte.

Vaughn hörte ihr aufmerksam zu, bis sie geendet hatte, antwortete aber nicht sofort darauf.

Hawkins wurde immer nervöser, je länger die Gesprächspause dauerte, und wünschte sich, das Schweigen in dem fast lautlos dahingleitenden Mercedes würde endlich gebrochen. Sogar die vorlaute, nach Marilyn Monroe klingende Stimme aus dem Navi wäre ihr recht gewesen.

Musste Vaughn ihre Informationen erst mal verarbeiten, oder hatte er etwas von der Rickman-Spur erfahren? Ganz offensichtlich verblassten die Neuigkeiten über Barclay dadurch, dass die Befragung der Nachbarn rein gar nichts ergeben hatte. Auch wenn man in Betracht zog, dass ihr Durchschnittsalter deutlich über sechzig lag, musste man zur Kenntnis nehmen, dass keiner von ihnen einen Besucher gesehen oder gehört hatte, auch nicht am Tag seines Verschwindens.

Sie biss sich auf die Unterlippe und schaute aus dem Fenster.

»Na gut«, sagte Vaughn plötzlich. »Ich bin sicher, dass sich bald etwas ergeben wird.« Er deutete auf ein klotziges Gebäude im Art-déco-Stil. »Ich glaube, das da ist es.«

Er bog nach links in die Derry Street ein und lenkte den Wagen direkt vor den Eingang einer Tiefgarage. Vor der geschlossenen Schranke hielt er an, und ein Parkwächter steckte den Kopf aus seinem Wachhäuschen.

Vaughn ließ das Fenster herunter. »Wir haben einen Termin mit Danny Burns.«

»Warten Sie bitte einen Moment.« Der Wächter stellte sich vor die Kühlerhaube des Mercedes und überprüfte das Nummernschild mit den Notizen auf seinem Clipboard. Dann kehrte er in sein Häuschen zurück, und die Schranke ging hoch. Er steckte den Kopf aus dem Fenster und wies sie an: »Fahren Sie auf dieser Ebene ganz nach hinten durch. Mr Burns erwartet Sie bei den Aufzügen.«

Vaughn nickte und gab Gas. Hawkins bemerkte den Journalisten am Ende der Tiefgarage und deutete auf ihn.

Danny griff nach dem Köfferchen, das neben ihm stand, und kam ihnen entgegen.

»Sie sind wahrscheinlich Tristan Vaughn.« Er gab ihm durch das Wagenfenster hindurch die Hand. »Hallo, Antonia.«

»Freut mich«, sagte Vaughn und deutete mit dem Kopf auf die Rückbank. »Können wir das hier erledigen?«

»Kein Problem.« Danny zog die Tür auf und nahm hinten Platz. Er beugte sich zwischen den Sitzen nach vorn. »Tut mir leid, dass ich Sie hierherbemühen musste, aber das alles läuft ja unter dem Siegel der Verschwiegenheit. Zurzeit muss ich mir fast schon eine schriftliche Genehmigung holen, wenn ich zur Toilette gehe. Wenn ich diese Botschaft hier per Mail verschicke, schmeißen sie mich gleich raus.«

»Schon in Ordnung«, sagte Hawkins. »Wir wissen das sehr zu schätzen. Das alles ist sehr brisant.«

»Ganz genau.« Danny deutete auf die Zeitung in ihrer Hand. »Und wie finden Sie unseren Aufmacher?«

»Genau, wie wir es uns erhofft haben«, sagte Vaughn. »Wir sind froh, dass wir Sie mit im Boot haben.«

Danny grinste. »Die berühmte Win-win-Situation, richtig? Und morgen schreiben alle Zeitungen über Ihre Nachricht und nicht mehr über seine.«

»Wo wir gerade davon sprechen.« Hawkins wollte die Angelegenheit möglichst schnell über die Bühne bringen. »Dürfen wir jetzt mal einen Blick darauf werfen?«

»Klar, Entschuldigung.« Danny legte das Köfferchen auf seinen Schoß. »Ich muss zugeben, dass der Mann sein Handwerk versteht. Die Botschaften kommen immer Freitagfrüh zwischen fünf und sechs Uhr rein. Das ist zu spät für die aktuelle Ausgabe, gibt uns aber jede Menge Zeit, die Schlagzeile für den nächsten Tag zu konzipieren.«

Er zog einen Zettel aus dem Aktenkoffer und reichte ihn nach vorn. Hawkins zügelte ihre Ungeduld und ließ Vaughn den Vortritt.

»Außerdem kann er sichergehen, dass Sie die Informationen nicht an die Fernsehleute rausgeben, bevor die Zeitung gedruckt ist. Auf diese Weise kommt die Meldung in allen Medien synchron heraus, was ihren Effekt noch verstärkt.«

Vaughn ging den Zettel durch und reichte ihn an sie weiter. »Immerhin passt diesmal auch unser Timing.«

Sie fing an zu lesen.

Polizei,

ich habe dafür gesorgt, dass meine Botschaft Gehör findet.

Ich hoffe also, Sie sehen ein, dass alle Bemühungen, mich von meiner Kampagne abzuhalten, sinnlos sind.

Ich habe bereits bewiesen, was mit jenen geschieht, die dies versuchen.

Meine nächste Zielperson ist bereits identifiziert.

An diesem Sonntag werden Sie Zeugen meiner großartigsten Demonstration.

Nemesis

Der Adventkiller
cover.html
978-3-641-14559-0.html
978-3-641-14559-0-1.html
978-3-641-14559-0-2.html
978-3-641-14559-0-3.html
978-3-641-14559-0-4.html
978-3-641-14559-0-5.html
978-3-641-14559-0-6.html
978-3-641-14559-0-7.html
978-3-641-14559-0-8.html
978-3-641-14559-0-9.html
978-3-641-14559-0-10.html
978-3-641-14559-0-11.html
978-3-641-14559-0-12.html
978-3-641-14559-0-13.html
978-3-641-14559-0-14.html
978-3-641-14559-0-15.html
978-3-641-14559-0-16.html
978-3-641-14559-0-17.html
978-3-641-14559-0-18.html
978-3-641-14559-0-19.html
978-3-641-14559-0-20.html
978-3-641-14559-0-21.html
978-3-641-14559-0-22.html
978-3-641-14559-0-23.html
978-3-641-14559-0-24.html
978-3-641-14559-0-25.html
978-3-641-14559-0-26.html
978-3-641-14559-0-27.html
978-3-641-14559-0-28.html
978-3-641-14559-0-29.html
978-3-641-14559-0-30.html
978-3-641-14559-0-31.html
978-3-641-14559-0-32.html
978-3-641-14559-0-33.html
978-3-641-14559-0-34.html
978-3-641-14559-0-35.html
978-3-641-14559-0-36.html
978-3-641-14559-0-37.html
978-3-641-14559-0-38.html
978-3-641-14559-0-39.html
978-3-641-14559-0-40.html
978-3-641-14559-0-41.html
978-3-641-14559-0-42.html
978-3-641-14559-0-43.html
978-3-641-14559-0-44.html
978-3-641-14559-0-45.html
978-3-641-14559-0-46.html
978-3-641-14559-0-47.html
978-3-641-14559-0-48.html
978-3-641-14559-0-49.html
978-3-641-14559-0-50.html
978-3-641-14559-0-51.html
978-3-641-14559-0-52.html
978-3-641-14559-0-53.html
978-3-641-14559-0-54.html
978-3-641-14559-0-55.html
978-3-641-14559-0-56.html
978-3-641-14559-0-57.html
978-3-641-14559-0-58.html
978-3-641-14559-0-59.html
978-3-641-14559-0-60.html
978-3-641-14559-0-61.html
978-3-641-14559-0-62.html
978-3-641-14559-0-63.html
978-3-641-14559-0-64.html
978-3-641-14559-0-65.html
978-3-641-14559-0-66.html
978-3-641-14559-0-67.html
978-3-641-14559-0-68.html
978-3-641-14559-0-69.html
978-3-641-14559-0-70.html
978-3-641-14559-0-71.html
978-3-641-14559-0-72.html
978-3-641-14559-0-73.html
978-3-641-14559-0-74.html
978-3-641-14559-0-75.html
978-3-641-14559-0-76.html
978-3-641-14559-0-77.html
978-3-641-14559-0-78.html
978-3-641-14559-0-79.html
978-3-641-14559-0-80.html
978-3-641-14559-0-81.html
978-3-641-14559-0-82.html
978-3-641-14559-0-83.html
978-3-641-14559-0-84.html
978-3-641-14559-0-85.html
978-3-641-14559-0-86.html
978-3-641-14559-0-87.html
978-3-641-14559-0-88.html
978-3-641-14559-0-89.html
978-3-641-14559-0-90.html
978-3-641-14559-0-91.html