43

Hawkins blieb auf dem obersten Treppenabsatz im Becke House stehen.

Direkt vor ihr befand sich die Doppeltür der Sonderermittlungsräume für besonders schwere Verbrechen. Sie waren dazu da, Beamte, die aus dem ganzen Land abgestellt wurden, an einem Ort zu bündeln, um einen bedeutenden Fall wie zum Beispiel die Operation Charter zu bearbeiten.

Zurzeit befanden sich an einem durchschnittlichen Arbeitstag fast einhundert Beamte in den Räumlichkeiten, die in vier Teams zu fünfundzwanzig Personen aufgeteilt waren und alle Dienstgrade vom Detective Inspector bis zur Schreibkraft umfassten. Hawkins’ Ziel, die Einsatzzentrale, lag hinter der Doppeltür auf der anderen Seite des Großraumbereichs.

Die ungefähr fünfundzwanzig Meter lange Strecke, die sie durch das Großraumbüro zurücklegen musste, war ihr vor fünf Monaten, als sie gerade befördert worden war, wie eine Ehrenrunde erschienen. Zu Anfang hatte es ihr noch gefallen, an den vielen Schreibtischen entlang zu ihrem Büro zu gehen. Inzwischen schämte sie sich beinahe dabei. Jeden Tag kam ihr die Strecke länger vor, und sie beschleunigte ihre Schritte in der Erwartung weiterer Hiobsbotschaften von einem ihrer Untergebenen.

Die Ermittlungen bezüglich des Todes von Connor und besonders ihr mögliches Verschulden in diesem Zusammenhang hätten eigentlich im Geheimen stattfinden sollen. Aber in der Realität war es schwierig, so etwas geheim zu halten, und Hawkins bemerkte, dass ihre Kollegen sich anders verhielten, seit das Gerücht die Runde gemacht hatte. Der Argwohn war nicht direkt zu spüren, aber er war vorhanden. Manche Beamte übertrieben neuerdings ihre Höflichkeit oder Freundlichkeit. Andere wurden durch ihre Anwesenheit verunsichert und vermieden, ihr allzu viel Zustimmung zu signalisieren.

All das lag hinter dieser Doppeltür. Und auch wenn das Opalglas verhinderte, dass die Beamten im Großraumbereich sie sahen, bedeutete dies andersherum natürlich auch, dass sie keine Ahnung hatte, wie viele Personen sich dort gerade aufhielten.

Sie holte tief Luft und zog ihre Jacke glatt. Auf geht’s.

Sie verließ ihre Deckung, schob die Türflügel auf und stellte dankbar fest, dass sie offenbar vor den meisten ihrer Kollegen eingetroffen war. Der Raum war spärlich besetzt, nur wenige Analysten und Computerexperten saßen vereinzelt herum. Die meisten waren viel zu beschäftigt mit ihrer Aufgabe, um ihre Ankunft zu registrieren.

Sie lief zwischen den Tischen hindurch und warf allen, die ihr begegneten, einen lässigen Gruß zu. Sie erreichte die Einsatzzentrale und atmete tief durch, als sie die Klinke herunterdrückte. Sie trat ein und schaute sich nach Mike um.

Links von ihr hing der große Stadtplan von London an einem Whiteboard. Darauf waren die Orte markiert, die mit dem Fall Nemesis zu tun hatten. Dicke Verbindungslinien verliefen von da zu den Fotos von Opfern, Tatorten und Autopsieberichten am Rand.

Zuerst dachte Hawkins, dass der Raum völlig leer sei, aber dann bemerkte sie ihren Kriminalanwärter an einem der Computerarbeitsplätze.

Barclay saß nach vorn gebeugt da und starrte auf den Bildschirm. Der schwarze Anzug, den er trug, schien viel zu groß für seine schmächtige Gestalt zu sein, seine mausgrauen Haare waren lange nicht gekämmt worden.

Sie musste mit ihm reden. Natürlich wollten alle den Fall so schnell wie möglich lösen, aber das würde ihnen nicht gelingen, wenn sie sich völlig übernahmen.

»Morgen.« Sie ging auf ihn zu. »Ganz allein?«

Barclay nickte, ohne sie anzusehen. Sie bemerkte, dass seine Augen gerötet waren, was nach den letzten Ereignissen kaum verwunderlich war. Connors Tod hatte alle schwer getroffen, und Barclay hatte sich sehr gut mit ihm verstanden.

»Und wie läuft’s so?« Sie blieb vor seinem Schreibtisch stehen. »Gibt’s was Neues … John?«

Barclay zuckte zusammen, als wäre er gerade aus dem Schlaf geschreckt, und schaute zu ihr auf. Beide sagten kein Wort, bis er wieder in sich zusammensackte wie eine Gummipuppe, der die Luft entweicht.

»Hören Sie«, setzte Hawkins an. »Ich weiß, dass Sie mit Eddie … gut befreundet waren.« Sie hielt inne. Wenn sie doch nur diesen Satz zu einem Ende bringen konnte, ohne sich lächerlich zu machen.

Ein Geräusch hinter ihr lenkte sie ab. Sie drehte sich um und sah, dass Amala Yasir den Raum betrat.

»Hallo, Chief. Gut, dass Sie da sind.« Yasir kam auf sie zu. Hawkins warf noch einen Blick auf Barclay, der wieder ins Leere starrte. »Ich störe doch nicht, oder?«

»Nein.« Hawkins schaute wieder ihre junge Mitarbeiterin an. »Was ist denn?«

Während sie es sagte, hörte sie, wie Barclay den Stuhl zurückschob, an ihnen vorbeiging und den Raum verließ.

»Was ist denn mit ihm?«, fragte Yasir, nachdem die Tür zugefallen war.

Yasirs Auftreten, stellte Hawkins zufrieden fest, war genauso adrett wie ihr Aussehen, der Tod ihres Kollegen hatte sie nicht aus der Bahn geworfen.

»Er spürt einfach den Druck, der auf uns lastet. Genau wie alle anderen.«

»Ich verstehe, Ma’am, auch wenn es mir so vorkommt, als würden Sie das alles locker wegstecken. Es gibt nicht viele starke Frauen in solchen Positionen. Wie schaffen Sie das bloß?«

»Amala.« Hawkins widerstand dem Drang, der jungen Frau die Augen zu öffnen. Es wäre bestimmt nicht gut, das Vertrauen ihrer eifrigen Kollegin zu zerstören. »Jeder hier spürt doch diesen Druck. Mir geht es genauso. Und wenn Sie mal in einer ähnlichen Position sind, werden Sie mich verstehen.«

»Aber …«, Yasir schaute sie verwirrt an, »… wie könnte ich denn? Sie sind so …«

»Genug.« Hawkins hob abwehrend eine Hand. »Darüber reden wir ein andermal. Was wollten Sie mir denn sagen?«

»Natürlich.« Yasir war jetzt wieder ganz bei der Sache, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. »Ich habe gute Nachrichten. Frank sagte, Sie wollten, dass wir nach möglichen spirituellen Hintergründen bei den ersten beiden Opfern suchen. Es hat gar nicht lange gedauert, und da hatten wir etwas. So wie es aussieht, war Tess Underwoods Cousine so etwas, was man ›Geistheilerin‹ nennt. Sie behauptet, sie könne mit Handauflegen und Sprüchen Menschen von allerlei Gebrechen kurieren.«

Hawkins horchte auf. »Und was ist mit Glenis Ward?«

»Das ist eher dünn«, gab Yasir zu. »Aber nach Aussage ihrer Bekannten bei den Anonymen Alkoholikern hat sie ihrem täglichen Horoskop große Aufmerksamkeit geschenkt.«

Hawkins war wie elektrisiert.

Yasir merkte es und beeilte sich, die Sache genauer zu beschreiben. »Sie haben erzählt, dass Glenis das sehr ernst genommen hat. Sie konnte keine Entscheidung treffen, ohne die Horoskope von mindestens zwei verschiedenen Astrologen studiert zu haben.«

Das genügte.

»Gute Arbeit.« Hawkins lächelte. »Da müssen wir dranbleiben. Sprechen Sie mit Frank. Stellen Sie eine Arbeitsgruppe zusammen und sprechen Sie mit allen in London ansässigen Spiritualisten. Fangen Sie mit Faith Easton an – vielleicht kennt sie ja Kollegen von Summer oder Leute, die in dieser Hinsicht mit ihr zu tun hatten. Dann knöpfen Sie sich die Prominenten in diesem Bereich vor und jene, die ihre Dienste in der Öffentlichkeit anbieten. Wahrscheinlich haben solche Leute ständig mit so etwas zu tun, fragen Sie aber trotzdem alle nach Klienten, die ihnen merkwürdig vorkamen. Oder beängstigend. Halten Sie mich auf dem Laufenden. Okay?«

»Ja, Ma’am.« Yasir machte sich auf den Weg.

»Amala?« Hawkins wartete, bis sie sich noch mal umgedreht hatte. »Das muss alles ganz schnell gehen. Die Zeit läuft uns davon.«

Der Adventkiller
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