Die Reise nach Rouen
Ein exklusives Zusatzkapitel zu Tanja Kinkels »Das Spiel der Nachtigall«
Tanja Kinkels vierzehnter Roman »Das Spiel der Nachtigall« entführt seine Leser in eine der bewegtesten Zeiten des deutschen Mittelalters, in der das Heilige Römische Reich Deutscher Nation gleich mehrfach zwei Könige hatte. Mit über 900 Seiten ist der Roman alles andere als kurz geraten – und doch konnte die Autorin nicht alles darin verarbeiten, was sie sich zunächst vorgenommen hatte. »Es ist so gut wie unmöglich, der Fülle der geschichtlichen Ereignisse, die damals wichtig waren, gerecht zu werden«, erklärt Tanja Kinkel. »Und auch bei den Erlebnissen der fiktiven Figuren musste ich die schmerzliche Entscheidung treffen, was für die Handlung des Romans zwingend notwendig ist und von was ich mich trennen konnte, um nicht zu sehr von der Kerngeschichte abzulenken. Die nachfolgende Szene – die im Roman ursprünglich vor Kapitel 33 angesiedelt war – gehört nach wie vor zu meinen Favoriten, und ich freue mich sehr, sie nun auf diesem Weg veröffentlichen zu können.«
Der neue König von England, so erfuhr Paul von seinem Vater, litt derzeit unter nicht weniger Schwierigkeiten als die beiden deutschen Könige – und das hatte weitreichende Konsequenzen, die es nun zu nutzen galt. Deswegen war eine kleine Kölner Gesandtschaft auf dem Weg nach Rouen in der Normandie.
John hatte zu Beginn seiner Regierungszeit einen Vertrag mit dem König von Frankreich geschlossen – was bedeutete, dass er keinen Verbündeten mehr gegen den Erzfeind seines verstorbenen Bruders brauchte und seinem Neffen Otto umgehend die Zuwendungen kürzte, was diesem empfindlichen Schaden zufügte. »Ich gebe zu, dass ich damit nicht gerechnet habe: Richard war noch jung und König Otto sein Lieblingsneffe. Ich glaubte, dass Richard noch lange regieren und natürlich all seine Versprechungen einhalten würde, lange genug, bis Otto sicher und unbestritten über das gesamte Reich herrscht. Um ganz offen zu sein, ich hoffte sogar, dass er dann Richards Nachfolger werden würde; Richard hatte dies geplant, noch bevor wir dem Welfensohn die Krone anboten. Dann hätte Otto über das gewaltigste Reich aller Zeiten geherrscht; selbst Karl der Große konnte nichts dergleichen von sich behaupten. Die heidnischen Römer vielleicht, aber darüber weiß ich nicht genügend. Ich brauche dir nicht zu sagen, was das für den Handel bedeutet hätte, mein Sohn. Aber es ist nun einmal ganz anders gekommen, und ich hätte darauf vorbereitet sein sollen.«
»Weil König John seinen Neffen nicht ausstehen kann, das habe ich schon verstanden«, sagte Paul. »Doch wie willst du es ändern?«
»Die Umstände haben sich geändert«, erklärte Stefan mit einem schmalen Lächeln. »John hat es fertiggebracht, seine Barone gegen sich aufzubringen, die Bretagne ist in einem Aufstand gegen ihn begriffen, sein Vertrag mit dem König von Frankreich ist nichts mehr wert, und wie man hört, ist er gerade dabei, die Normandie zu verlieren, das Stammland aller Normannen. Kurzum, er braucht dringend Hilfe.«
»Vater«, sagte Paul vorsichtig, weil er nicht als dumm dastehen wollte, »ich weiß, dass ich nur einen Teil deiner Geschäfte kenne, aber haben wir und die anderen Kölner Kaufleute nicht genug Einbußen erlitten in den letzten Jahren? Wir müssen bereits Bischof Adolf und König Otto mit jeder Menge Geld unterstützen, da verstehe ich nicht, wie wir auch noch König John helfen könnten.«
Sein Vater klopfte ihm wohlwollend auf die Schulter. »Es gibt mehr als eine Währung, mein Sohn. Du wirst schon sehen.«
Paul wünschte sich, er müsste nicht gerade jetzt an seine Base Jutta denken: Sie würde behaupten, dass sein Vater vorgehabt hatte, auch sie als eine solche Währung zu behandeln bei seinem Versuch, sich Otto zu verpflichten. Er konnte beinahe ihre scharfe Stimme hören und die Hauswand in seinem Rücken spüren, gegen die sie ihn gepresst hatte. »Auf wessen Kosten wird dieses neue Geschäft wohl gehen?«
Er war beinahe dankbar dafür, dass sie kurz nach Lüttich überfallen wurden, denn es gab ihm die Möglichkeit, zu kämpfen. Alles war einfacher in so einer Auseinandersetzung, dachte Paul: Niemand musste sich fragen, wer recht oder unrecht hatte. Sich gegen Angreifer zu verteidigen, war eine gute Sache, die Kerle, die einem ans Leben wollten, waren immer die Schurken, und überdies machte es ihn stolz, seinen Vater beschützen zu können. Vielleicht war er nicht so klug wie Stefan oder hatte die Art von Verstand, der ständig hinterfragte, wie Jutta ihn besaß, aber im Kampf mit ein paar gierigen Kriegsknechten brauchte er sich nicht mehr wie ein Verräter zu fühlen, der für den Tod eines Bischofs gesorgt und beinahe seine Base der Hurerei übergeben hatte.
Es gelang ihm und den anderen Bewaffneten, die Angreifer zu vertreiben, und sein Vater war in der Tat dankbar und stolz. »Ich selbst«, sagte Stefan, »habe nie eine Waffe führen dürfen. Wer hätte gedacht, dass mein Sohn es damit einmal einem Ritter gleichtut!«
»Dürfen, Vater?«
»Ich war ein Jude, Paul«, erinnerte ihn sein Vater, »und habe die Taufe erst Jahre, nachdem ich herangewachsen war, empfangen. Da war es zu spät, die Waffenkünste noch zu lernen, selbst, wenn ich es gewollt hätte.« Gewöhnlich sprach er nicht von seiner jüdischen Vergangenheit, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ; nur einmal, als Paul von ein paar Jungen auf der Straße deswegen gehänselt wurde, sagte er, Paul möge den Quälgeistern erwidern, es sei keine Schande, dem auserwählten Volk anzugehören, dem sich der Herr als Erstes offenbart habe, als ihre Vorfahren noch Götzen anbeteten. Das hatte Paul dann ein paarmal getan, und irgendwann waren die Spöttereien tatsächlich verstummt, da man sich ein anderes Ziel ausgesucht hatte.
Zum ersten Mal versuchte Paul, sich seinen Vater als jungen Mann in seinem Alter vorzustellen, mit unerfüllten Wünschen, doch er brachte es nicht fertig. Sein Vater war sein Vater: beinahe allwissend, älter und ewig.
»Hättest du es denn gewollt?«, fragte er stattdessen.
»Jeder Junge macht eine Zeit durch, in der er davon träumt, ein Ritter zu sein, Heldentaten zu vollbringen und Prinzessinnen zu retten«, sagte sein Vater milde. »Umso wichtiger ist es, diese Art Träume rechtzeitig abzulegen und sich der Wirklichkeit zu stellen – sonst verlebt man sein Dasein in Unzufriedenheit und tut sehr viel Törichtes, was anderen Menschen schaden kann. Schau dich selbst an. Ich verstehe, warum du damals deiner Base helfen wolltest, mit Gilles davonzulaufen. Es war die Tat eines gutherzigen Jungen. Aber nun bist du ein Mann und weißt es besser. Das ist gut so.«
Es war die Art von Bemerkung seines Vaters, die sich wie eine stachlige Klette festsetzen konnte, und Paul wusste, dass er sie von nun an in Gedanken hören würde, wenn er sich das nächste Mal fragte, ob es Jutta oder er selbst war, welcher die Dinge verzerrt sah. Er fühlte sich beschämt, nicht nur, weil sein Vater ihn an sein Fehlverhalten erinnerte, sondern weil immer noch Zweifel an ihm nagten, die sein Vater ihm nie anmerken durfte.
»Gilles ist noch nicht einmal bei ihr geblieben«, sagte er mit bitterer Stimme, um von sich abzulenken, »es sei denn, darüber hat sie gelogen. Sie hat uns seinetwegen verlassen, aber dann ist er davongerannt, und sie wurde das Weib des Minnesängers.«
Sein Vater zog die Augenbrauen zusammen. »Dass sie mit Walther von der Vogelweide verheiratet ist, das hast du bisher nicht erwähnt, Paul. Hat sie denn ihre Ehe mit Gilles von einem der zahmen Bischöfe Philipps für ungültig erklären lassen?«
Paul zuckte die Achseln.
»Hast du sie eigentlich je beten gesehen?«, hakte Stefan nach.
Das war eine völlig zusammenhangslose Frage, die Paul nicht verstand, aber vermutlich verstünde, wenn er klüger wäre. »Dazu war keine Zeit«, gab er zurück. »Wir waren doch kaum zwei Tage zusammen.«
»Vor dem Gesetz«, sagte sein Vater versonnen, »ist die Ehe zwischen einem Christen und einer Jüdin nicht gültig.«
»Aber ich dachte, Jutta sei schon längst Christin!«, sagte Paul bestürzt. »Als sie bei uns gelebt hat, da habt ihr doch …«
»Ich hielt es für besser, deine Mutter in dieser Überzeugung zu lassen, bis Jutta durch unser Vorbild zum rechten Glauben finden konnte«, entgegnete sein Vater begütigend. »Deine Mutter hatte zu Beginn unserer Ehe immer große Sorgen, dass man mir meine Bekehrung nicht glauben würde, und eine unbekehrte Verwandte hätte sie darin nur bestärkt.«
Paul fielen die vielen Male ein, die seine Mutter besorgt oder verstört geblickt hatte, wenn sein Vater mit Jutta leise in einer Sprache redete, die der Rest der Familie nicht verstand, und er glaubte, nun endlich zu begreifen.
»Hat sie wirklich erzählt, Gilles sei davongerannt und hätte sie verlassen?«, wollte sein Vater wissen.
»Das hat sie behauptet«, bestätigte Paul. »Glaubst du, sie hat gelogen?«
»Hmm …« Stefan strich sich über seinen Bart. »Weißt du, ich habe Gilles einige sehr wichtige Nachrichten anvertraut, als er noch für mich arbeitete. Zugegeben, er war nicht der Schwiegerso– …. nun, der Neffe, den ich mir gewünscht hätte, denn deine Base hätte es besser treffen können. Aber er war immer sehr, sehr zuverlässig und nicht die Art von Mann, der eine Frau schutzlos zurücklassen würde.«
»Herr Walther war ja bei ihr«, warf Paul bitter ein.
»Wie ich schon sagte: schutzlos«, fuhr sein Vater unbeirrt fort. »Außerdem hatte er gewisse Gründe, sehr dankbar für die Verbindung mit deiner Base zu sein. Er konnte auf wenig Besseres hoffen.«
»Nun, die Bücher und Instrumente ihres Vaters sind gewiss eine Menge wert, wenn man sie verkauft, aber das würde Jutta nie tun.«
»Ich meine nicht ihre Mitgift, mein Sohn. Nimm an, du wärest, nun … ein Jude in Córdoba. Das liegt in Spanien, und die Herrscher dort bestehen derzeit darauf, dass jeder ihrer Untertanen ihren falschen Propheten Mohammed verehrt. Nimm also an, du wärest ein Jude und gezwungen, dein Judentum zu verstecken. Eine Ehe mit einer Muslimin hilft dir dabei, denn die Menschen schauen auf sie und zweifeln nicht daran, dass auch du ein Muslim bist. Würdest du da davonrennen und dein Leben gefährden? Denn wohin du auch rennst, die Menschen werden dann wieder den Juden in dir sehen.«
Was auch immer sein Vater ihm mit diesem Vergleich sagen wollte, es verstörte Paul zutiefst. Gilles war kein heimlicher Jude, das ergab keinen Sinn nach der vorherigen Bemerkung. Die Vorstellung, sein Vater könne in all den Jahren gelogen, gar seine Mutter nur geheiratet haben, um besser lügen zu können, diese Vorstellung bereitete Paul Übelkeit; es würde bedeuten, dass all die höhnenden Straßenkinder in seiner Jugend recht gehabt haben könnten.
»Es gibt derzeit unendlich Wichtigeres«, sinnierte sein Vater weiter, »aber eines Tages würde ich gerne herausfinden, was wirklich aus Gilles geworden ist.«
Paul starrte gequält auf die Landstraße. Da hatte er, nein, da musste er etwas falsch verstanden haben; diese Reise sollte doch seine Zweifel beheben, nicht sie verstärken oder gar neue schaffen, wie gerade eben.
Auf dem Weg in die Normandie wurde es damit nicht besser. Gewiss, zwischendurch gab es immer wieder Ereignisse, bei denen er sich am rechten Ort fühlte, aber Wurm blieb Wurm, und der steckte nun in ihm.
Kurz bevor sie ihr Ziel erreichten, fragte einer der Bewaffneten, die Paul aus Köln mitgebracht hatte, mit ehrfürchtiger Stimme, ob in der Kathedrale von Rouen wirklich Könige beerdigt seien.
»Wir beherbergen in Köln die Gebeine der Heiligen Drei Könige«, sagte Paul halb im Ernst, halb als Scherz und war dankbar für die Ablenkung. »Höherrangige Fürsten werdet Ihr in keiner Kirche finden, das wisst Ihr doch.«
»Nun ja, da wäre noch der Dom zu Bamberg, nachdem die Kaiserin Kunigunde jetzt heiliggesprochen wurde, wie ihr Gatte vor ihr«, sagte der Söldner pfiffig. »Heilige Kaiser stehen über heiligen Königen, selbst Königen, die unseren Herrn als Säugling erblickt haben.«
Erst jetzt begriff Paul, warum es in Köln geheißen hatte, dass Bischof Adolf so erbost über die Heiligsprechung der toten Kaiserin Kunigunde gewesen war und König Otto es schamlos genannt hatte, dass Philipp deren Gebeinen ein Grabmal gespendet und seine zweite Tochter nach ihr benannt hatte.
»Ich kenne mich in der normannischen Geschichte nicht aus. Habt Ihr hier heilige Herzöge oder Könige?«, fragte er einen der Führer, den sie für die letzte Strecke gewonnen hatten, und war stolz darauf, das normannische Französisch zu beherrschen, zumal ihm das Lernen nicht leichtgefallen war.
Der Mann lachte. »Nein. Die Sachsen hatten einen heiligen König, aber die haben England an uns Normannen verloren. Wenn Ihr mich fragt, Heilige sind schlechte Herrscher.« Er fügte noch hinzu, dass das Herz des verstorbenen König Richard in der Kathedrale beerdigt war, desgleichen sein Bruder Hal, seine Großmutter Maude, die einst Kaiserin des Heiligen Römischen Reiches gewesen war, und seine Schwester, Ottos Mutter Mathilde, die Gemahlin Heinrichs des Löwen. Das verschaffte Paul die Gelegenheit, endlich einen Vorschlag zu machen, mit dem er, wie er hoffte, seinen Vater beeindrucken würde.
Vor den Stadttoren, während sie darauf warteten, dass die Wachen kamen und ihren Tross begutachteten, zog Paul seinen Vater zur Seite und erzählte ihm von den Gräbern in der Kathedrale. »Wir sollten eine Kerze für die tote Herzogin Mathilde stiften und dem König etwas aus Rouen mitbringen, um seine Mutter zu ehren. Wird ihn das nicht für dich einnehmen, Vater?«
»Nur, wenn er seine Mutter liebt«, entgegnete Stefan, bemerkte Pauls enttäuschte Miene und klopfte ihm auf die Schulter. »Nach allem, was ich gehört habe, tut er das. Ein guter Gedanke, mein Sohn.«
Zur Kathedrale zu ziehen erwies sich als ein ausgesprochener Glücksfall; man konnte schon von weitem die Wachen mit dem Wappen der Könige von England davor sehen, was bedeutete, dass sich König John dort befand, vielleicht, um für seine toten Familienangehörigen zu beten. Die Kathedrale selbst war eine leichte Enttäuschung, weil sie zwar groß angelegt war, aber erst vor einiger Zeit niedergebrannt sein musste und noch lange nicht wieder im so gelobten alten Glanz erstrahlte. Überall standen Gerüste, und es waren mehr Handwerker als Ameisen unterwegs; Paul hörte einen der Bewaffneten zynisch bemerken, wenn König John wirklich in Gefahr stünde, die Normandie zu verlieren, dann sollte er lieber sein Geld sparen und all diese Männer für den Bau von Festungen einsetzen.
»Ganz gewiss wird er die Normandie verlieren«, entgegnete der Führer und bekreuzigte sich. »Gott helfe uns. Dies ist die Kirche, in der schon die normannischen Herzöge bestattet wurden, ehe der Eroberer den Kanal überquerte, um dort König zu werden, und sie brannte nieder, als das letzte Jahrhundert vor drei Jahren ein Ende fand. Das war ein Omen, meine Freunde: Eine Zeitenwende ist angebrochen! Gott will nicht länger, dass der König von England auch Herzog der Normandie, der Bretagne und Aquitaniens ist. Er will, dass all diese Fürstentümer von der ältesten Tochter der Kirche regiert werden, und das ist die Krone von Frankreich.«
»Vater«, fragte Paul auf Deutsch, da ihn so niemand außer ihren eigenen Leuten verstehen würde, »wenn König John seine französischen Herzogtümer verliert, dann sind doch unsere Handelsverträge so oder so nichts mehr wert. Sollen wir nicht lieber versuchen, den französischen König für Otto und Köln zu gewinnen?«
»Der französische König hat sich für die Staufer entschieden, da ist vorerst nichts zu machen«, sagte sein Vater leise und bedeutete ihm dann, zu schweigen, während sie mit andächtigen Mienen auf das rußbefleckte Portal zugingen. Die Wachen hielten Pauls Vater nicht an, aber Paul, seines Kurzschwerts wegen. Er drückte es einem ihrer Leute in die Hände; auf gar keinen Fall wollte er seinen Vater allein mit einem König lassen, dem man sogar den Mord an seinem Neffen nachsagte, selbst in einer Kirche nicht.
Es war nicht weiter schwer, die kleine Ansammlung von Edelleuten in der Krypta zu entdecken, wo sich die Grabmäler befanden; der Lärm, den die unzähligen Handwerker verursachten, war etwas ganz anderes. »Wir haben Glück«, sagte sein Vater Paul fast schon ins Ohr, um nicht rufen zu müssen. »Einer von ihnen ist William Marshall. Den habe ich bei meinen Verhandlungen mit Richard kennengelernt. Bleib hinter mir, verbeuge dich tief, und vor allem: Sag kein Wort.«
Paul wusste nicht, ob die letzte Anweisung eine Beleidigung war, doch er tat, wie ihm geheißen. Er hielt auch den Blick streng auf den Boden gerichtet, während sein Vater mit dem edlen William Marshall, Graf Pembroke sprach, der ihn nach einigen Hinweisen wiedererkannte; dabei hätte Paul nichts lieber getan, als diesen Mann selbst kennenzulernen. William Marshall war, neben Heinz von Kalden, der berühmteste Ritter Europas, schon seit fast zwanzig Jahren, ein leibhaftiger Siegfried, nicht ein erfundener, und auch, wenn er einem Reich angehörte und Königen diente, die nicht Pauls waren, so hatte sich sein Ruhm doch bis nach Köln herumgesprochen. Gerade jetzt, da die Ereignisse Paul immer öfter enttäuschten oder verwirrten und er das Gefühl hatte, sich die Hände dreckig gemacht zu haben, wäre es gut, zu wissen, dass ein tapferer und unbestritten ehrenhafter Mann wie William Marshall auf ihrer Seite des Streites stehen konnte.
Der so in Gedanken Gepriesene stellte derweil jemanden namens Etienne de Cologne vor. Es dauerte einen Moment, bis Paul begriff, dass damit sein Vater Stefan aus Köln gemeint war – das konnte nur bedeuten, dass nun der berüchtigte König John zu ihnen getreten war. Vorsichtshalber ließ er sich ehrerbietig auf die Knie fallen; dann hob er vorsichtig seinen Blick von den blauen Schuhspitzen bis über das Knie und, als niemand es zu bemerken schien, weiter bis zum Gesicht des Königs.
John war nicht groß für einen Mann; etwa so hoch wie Pauls Base Jutta. Er hatte dunkle Haare, einen überraschend gepflegt wirkenden Bart und nicht die geringste Ähnlichkeit mit seinem Neffen Otto, den Paul mittlerweile oft genug bei Prozessionen aus der Nähe gesehen hatte, um Einzelheiten auszumachen. Otto, sagte sich Paul zufrieden, ist eben nach der welfischen, deutschen Seite der Familie geraten. Dann fiel ihm ein, dass der verstorbene Richard auch blond gewesen war, denn man hatte ihn in Köln auf den Straßen gefeiert, nachdem er aus der Gefangenschaft befreit wurde, und das Bild war Paul unvergessen geblieben.
»Mein König«, sagte Pauls Vater in seinem besten Französisch, »gestattet mir, einen Augenblick Eurer kostbaren Zeit zu verschwenden.«
»Was Ihr hiermit bereits getan habt«, sagte John von England spöttisch, doch nicht angriffslustig, mehr, als prüfe er Pauls Vater. »Das Kirchenportal ist dort drüben – Eure Füße werden Euch nun gewiss in diese Richtung tragen wollen.«
»Nicht, ehe meine Ohren Euch haben sagen hören, dass Ihr der heiligen Ursula hier in dieser Kirche zehn Kerzen aus Dankbarkeit dafür stiftet, dass der Heilige Vater Eure Ansprüche gegen den König von Frankreich unterstützt.«
Das löste ein paar überraschte Laute bei den anderen Edelleuten aus und irgendwo ein hastig ersticktes Kichern. Johns Augen verengten sich, und er verschränkte die Arme ineinander. »Dann, so scheint mir, sei Euch ein weiterer Augenblick gestattet.«
»Der Papst«, sagte Pauls Vater, »scheint mir ein Mann zu sein, der gerne Familien wieder zusammenbringt.«
Mit einem Mal nahm das Schweigen von Johns Edelleuten eine andere Färbung an und wurde lauernd, während man das Schimpfen und die Zurufe der Bauleute und Steinmetze von den Gerüsten schallen hörte.
»Wenn das ein frommer Wunsch sein soll, etwas über das Schicksal meines verstorbenen Neffen zu erfahren, dann habt Ihr mehr Mut als die Leute an meinem Hof«, sagte John ausdruckslos.
»Nein, natürlich nicht.« Stefan schüttelte seinen Kopf. »Es ist der fromme Wunsch, Euch wieder mit Eurem Neffen Otto zu vereinen.«
»Mein Neffe Otto, der es trotz seiner Lehre bei meinem verstorbenen Bruder, dem angeblich größten Krieger aller Zeiten, immer noch nicht fertiggebracht hat, sein Königreich einem ehemaligen Mönch zu entreißen? Das ist in der Tat ein sehr frommer Wunsch«, gab John beißend zurück. Aufgebracht dachte Paul, dass dies auch Johns Schuld war, weil er Otto die Zuwendungen fast gänzlich gestrichen hatte.
»Euer Neffe Otto, der nichts lieber will, als Euch gegen den König von Frankreich zur Seite zu stehen, wenn er nur die Hände freihätte«, sagte Pauls Vater bedeutsam. »Euer Neffe Otto, der vom Papst als der wahre König der Deutschen anerkannt wurde und seine Freunde in der Not nicht vergessen wird.«
»Jetzt langweilt Ihr mich. Das habe ich alles schon gehört, doch niemand konnte mir bisher verraten, warum ich Geld, von dem ich ohnehin zu wenig habe, an Otto verschwenden sollte, wenn es so aussieht, als ob Philipp gewinnt.«
»Philipp von Schwaben steht nicht nur unter dem Kirchenbann, er hat sich der Ermordung seines Kanzlers schuldig gemacht, des Erzbischofs von Würzburg«, gab Pauls Vater zurück. »Er wird von Glück sagen können, wenn er am Ende noch eine Grafschaft sein eigen nennen kann.«
John lachte. »Guter Mann, mein Vater hat seinen Kanzler und Erzbischof töten lassen, also spreche ich hier aus Erfahrung, und lasst mich Euch versichern: Das ist nichts, was einem den Thron kostet, wenn man eine Buße findet, die auffällig genug ist und der Kirche genügend einbringt. Mein Vater hat sich öffentlich geißeln lassen, wir haben jetzt einen Heiligen mehr im Kalender und einen neuen Schrein in Canterbury, zu dem Pilgerströme fließen, während früher niemand in dem Nest länger bleiben wollte als nötig. Der Papst brauchte nur ein Jahr, um meinen Vater wieder seinen allerchristlichsten Sohn zu nennen und gegen den Rest seiner Familie zu unterstützen.«
»Mit Verlaub, Euer Gnaden, Philipp ist nicht Euer Vater. Er hat längst nicht den Verstand, aber dafür den Stolz aller Staufer. Man hört, dass er Tränen über Konrad vergossen hat, aber das ist auch schon alles. Niemand im Reich glaubt an seine Unschuld, und der Onkel des Mörders, der das Ganze in Auftrag gegeben hat, ist nach wie vor der mächtigste Mann an seinem Hof. Ein Ministeriale noch dazu, ein Mann aus niederem Adel, was bedeutet, dass alle Fürsten von edlerem Blut ihn hassen. Ein kluger König würde ihn loswerden, aber Philipp gibt ihm immer mehr Macht. Es mag im Reich noch Menschen geben, die Barbarossas jüngsten Sohn auf dem Thron sehen wollen, aber glaubt mir, mein König, niemand will einen Heinz von Kalden als Herrscher.«
»Nicht mehr und nicht weniger, als man hier einen William Marshall statt meiner will, wie?«, fragte John freundlich; trotz des sanften Tonfalls sah Paul, wie der so Erwähnte zusammenzuckte. Ganz gleich, ob John nun das Gegenteil von dem meinte, was er sagte, oder ob er tatsächlich der Ansicht war, dass niemand William Marshall wollte, es war eine Bemerkung, auf die es keine gute Antwort gab. Jeder hier wusste, dass William Marshall weit über alle Landesgrenzen als überaus ehrenhaft und berühmt für seine Treue galt – genauso wie jeder wusste, dass John seinen Bruder Richard verraten hatte, davor seinen Vater Henry, und dass ihm jeder zutraute, seinen Neffen Arthur umgebracht zu haben. Es war, als fordere er jeden heraus, ihm das ins Gesicht zu sagen, im Bewusstsein, dass es keiner wagen würde; alles nur, um den Mann an seiner Seite zu demütigen. Er war, entschied Paul, wie König Gunther, der es nicht hatte aushalten können, dass Siegfried ein größerer Held war als er, nur dass König John keine Lanzen schleuderte, sondern Worte wie Fallen auslegte. Paul hatte gelernt zu kämpfen, und er hatte auch notgedrungen gelernt zu täuschen, obwohl er offenkundig nicht gut im Letzteren war, sonst hätte ihn Jutta nicht so leicht durchschaut. Johns Wortfallen waren ihm unheimlicher, als es zehn für die Staufer kämpfende Kriegsknechte waren, denn bei denen wusste er, was er zu erwarten hatte.
»Nicht mehr und nicht weniger, als Ihr selbst Heinz von Kaldens Schwert an Eurer Kehle wollt, mein König«, sagte Stefan bedächtig.
Zum ersten Mal wirkte John überrascht. Er ließ die Arme sinken. »Und warum sollte er es eben dorthin halten? Ich weiß, dass die Staufer mit dem König von Frankreich im Bett liegen, aber seit mein Bruder Richard nicht mehr unter uns weilt, ist daraus eine kalte Ehe geworden. Selbst wenn nicht, glaube ich kaum, dass Philipp oder sein Heinz Männer darauf verschwenden können, um sie in die Normandie zu schicken. Gar so schlecht macht Otto seine Sache als König nun doch nicht. Außerdem hörte ich, dass Philipp beabsichtigt, sich an dem neuen Kreuzzug zu beteiligen. Da habt Ihr die große Bußgeste, die Ihr ihm nicht zutraut, Maître Etienne.«
»Männer wie Heinz von Kalden töten, wenn sie sich und das Ihre bedroht wähnen«, gab Pauls Vater zurück. »Deswegen musste Konrad sterben, und deswegen wird er nie glauben, dass Ihr nicht vorhabt, Euren Neffen zu beerben.«
Noch nie in seinem Leben hatte Paul jemandem das Kinn herunterfallen sehen, obwohl er den Ausdruck kannte; nun konnte er es bei John und allen seinen Edelleuten erleben, bis auf William Marshall. Das hätte er mehr genossen, wenn nicht sein eigenes Kinn bei dieser Äußerung seines Vaters auch dem Boden zugestrebt hätte.
»Damit ich Euch recht verstehe …«
»Herr Otto, sei’s geklagt, hat weder Weib noch Kind, und er setzt sein Leben fast täglich aufs Spiel. Sein Bruder, der Pfalzgraf, hat sich auf die Seite der Staufer geschlagen. Wenn ich Heinz von Kalden wäre, dann würde ich glauben, dass Ihr, mein König, der Ihr gerade erst geheiratet habt und bei der Fruchtbarkeit Eurer Familie gewiss bald Söhne haben werdet, vorhabt, Euren Neffen zu unterstützen, während er für Euch die Kämpfe ausficht, die nötig sind, damit das Reich endgültig den Welfen zufällt. Im sehr wahrscheinlichen Fall seines frühen Ablebens bliebe Euch nichts anderes übrig, als zu aller Nutzen die deutsche Krone selbst zu ergreifen, um sie später einmal einem Eurer Kinder zu übergeben.«
Diesmal verstand Paul, was bei all dem Herumgerede wirklich beabsichtigt schien: Sein Vater bot John an, im Gegenzug zu dessen Erneuerung der englischen Unterstützung, nach Otto selbst den Thron für sich beanspruchen zu können. Da John gerade dabei war, demütigenderweise jene Fürstentümer zu verlieren, die sein Bruder und Vater gehalten hatten, vielleicht selbst die Normandie, die Heimat des derzeitigen Königsgeschlechts, würde das sein Geschick mit einem Schlag umkehren. John Ohneland, wie man ihn manchmal nannte, wäre John mit dem meisten Land, das ein englischer König je gehabt hatte, und der französische König würde sich sehr warm anziehen müssen, bei dem kalten Wind, der ihm dann von zwei Seiten entgegenblasen würde, aus England und dem Reich. Es war ein Angebot, das kein Fürst ablehnen konnte.
»Meister Stefan«, sagte John und gebrauchte den deutschen Namen von Pauls Vater, obwohl der ihm gar nicht genannt worden war, »ich finde, Ihr solltet eine Weile in Rouen bleiben – wenn es Euch nichts ausmacht, in einer Stadt zu sein, die demnächst belagert sein könnte. Kommt heute Abend zu mir, dann sprechen wir weiter.«
Paul und sein Vater machten ihre Verbeugungen und entfernten sich. Erst, als sie die Kathedrale längst hinter sich gelassen hatten, wagte Paul mit zugeschnürter Kehle zu fragen: »Du willst doch nicht wirklich … diesen Mann … zu unserem König machen?«
»Keineswegs«, sagte sein Vater vergnügt. »Aber ich hoffe doch sehr, dass er an die Möglichkeit glaubt. Das, mein Sohn, mag man eine Rosstäuscherlist nennen, aber sie sichert Köln die Handelsprivilegien, die Richard uns gegeben hat, Otto das englische Geld und mir Ottos Gunst.«