Kapitel 3

Es gibt tausend Arten, seinem Vater zu sagen, wenn man etwas für einen guten Einfall hält, dachte Judith, als sie Klosterneuburg zum ersten Mal betraten, doch keine, die sicherstellt, dass dieser Vater auch auf einen hört. Seit sie in Wien von Vetter Salomon, dem herzoglichen Münzmeister, erfahren hatten, dass der Herzog an den Folgen einer Beinamputation dahinsiechte, hatte sie ihrem Vater damit in den Ohren gelegen, sich umgehend auf den Weg nach Klosterneuburg zu machen: »Die Söhne des Herzogs sollen alle Heilkundigen des Landes aufgefordert haben, ihrem Vater zu helfen.«

»Bin ich ein Österreicher? Nein.«

»Du bist ein Arzt, Vater. Ein viel besserer Arzt, als diese christlichen Toren es je sein könnten.«

»Ich bin ein Jude«, hatte ihr Vater unnachgiebig erklärt, »und noch dazu einer aus Köln, was bedeutet, dass keiner der hohen Herren hier Grund hat, mich zu schützen. Wenn der Herzog stirbt, dann werden sie einen Schuldigen suchen, und das wird gewiss nicht ihr eigener Medicus sein.«

»Vetter Salomon hat sein ganzes Leben hier verbracht und ist bis zum Münzmeister des Herzogs aufgestiegen. Er sagt, dass die herzogliche Familie gerecht sei. Und freigiebig«, schloss Judith bedeutsam, denn sie war sich sehr wohl bewusst, welche Opfer ihr Vater gebracht hatte, um Köln verlassen und mit ihr nach Salerno aufbrechen zu können. Er blieb unbeeindruckt.

»Es ist noch keine fünfzig Jahre her, da hätten meine Eltern das Gleiche von den Bürgern Kölns geschworen. Ich war nur ein kleines Kind damals, doch ich habe nie vergessen, wie sie von ihrem Kreuzzug wiederkehrten, diese gerechten, großzügigen Bürger, und Simon den Frommen in Stücke rissen, weil er sich nicht zum Christentum bekehren wollte.«

»Aber dich und deine Eltern haben sie nicht in Stücke gerissen. Du hast mir doch erzählt, dass eure Nachbarn euch sogar beschützt haben vor den Kreuzfahrern.«

»Dieser Herzog ist ebenfalls ein Kreuzfahrer«, sagte ihr Vater, »und seine Söhne haben gelobt, es ihm gleichzutun. Weißt du, wie dieser Herzog zu seinem neuen Wappen gekommen ist? Sein Waffenrock soll bei den Kämpfen um Akkon rot von Blut geworden sein; als er seinen Gürtel abnahm, war ein weißer Streifen dazwischen. Das war nicht nur Moslemblut, mein Kind. Keiner von den Christen unterscheidet zwischen uns und den Muslimen, wenn sie in das Land gehen, das unseres war, um es zu befreien, wie sie es nennen. Sie töten alle, die sich nicht befreien lassen wollen. Warum sollte ich also einem Mann helfen, der so viel Blut auf sich geladen hat und damit auch noch prahlt?«

Judith wechselte die Taktik. »Weil du Arzt bist«, sagte sie leise. »Du hast mich gelehrt, dass ein Arzt allen hilft, denn wenn man anfängt, zu entscheiden, wessen Leiden verdient sind, dann maßt man sich die Gewalt Gottes an.«

Ihr Vater, der all seine Söhne und Töchter hatte sterben sehen, bis nur noch sie übrig war, sah sie an und seufzte. »Du bist eine zu gute Schülerin, Judith.«

Sie spürte, dass er kurz davorstand, nachzugeben, und brachte ihr letztes Argument vor. »Rabbi Mosche ben Maimon wäre schon am Lager des Herzogs.«

»Rabbi Mosche ben Maimon ist vom Herrn gesegnet und der berühmteste Arzt des Erdkreises«, entgegnete ihr Vater trocken. »Ich bin nur Josef ben Zayn. Deswegen lebt er am Hof Saladins in Kairo, und ich habe Glück, wenn die Kaufleute Kölns, die sich von mir behandeln lassen, auch tatsächlich zahlen, statt ihren Erzbischof zu bitten, sie von ihren Schulden bei dem Juden zu befreien.« Aber er sagte nicht, dass sie unrecht hatte. Ihr Vater hatte alle medizinischen Schriften des Mannes gelesen, den die Christen Maimonides nannten. Sie waren in der arabischen Sprache verfasst, mit der Rabbi Mosche in Cordoba aufgewachsen war. Judith hatte vor fünf Jahren, als ihr letzter Bruder gestorben war, begonnen, Arabisch zu lernen, um es ihrem Vater eines Tages gleichtun zu können, doch es gab für sie keine Möglichkeit, die Sprache mit einem anderen als ihm zu üben, und er selbst hatte sie so viele Jahre nicht mehr gesprochen, dass er vieles vergessen hatte. Das würde sich ändern, wenn sie beide Salerno erreichten, doch bis dahin musste sie sich damit abfinden, nur Bruchstücke von Rabbi Mosches Weisheiten lesen zu können. Immerhin gab es die Möglichkeit, von Besuchern, im Haus ihres Vaters, Geschichten über Mosche ben Maimon zu erfahren. Sie verehrte ihn und war gewiss, dass ein Mann wie er, der bei Juden, Christen und Muslimen angesehen war, sich von den alten Schrecken, wie sie sich in Köln lange vor ihrer Geburt ereignet hatten, nicht würde zurückhalten lassen. Und was vergossenes Blut betraf, so behandelte Rabbi Mosche auch Saladin selbst und seine Generäle, die gewiss nicht weniger Tote zu verantworten hatten als der Herzog von Österreich.

»Es ist nicht gesagt, dass die Familie des Herzogs mich überhaupt empfangen wird«, murrte ihr Vater, und Judith wusste, dass sie gesiegt hatte.

Vetter Salomon kam mit ihnen, weil er nicht sicher war, ob ein Empfehlungsschreiben bei den derzeitigen Verhältnissen überhaupt gelesen werden würde; als Münzmeister hatte er zwar genügend Verbündete bei Hofe, die er als Freunde bezeichnete, aber die hatten jetzt alle andere Sorgen. »Nur nimm es mir nicht übel, Vetter, wenn ich dir einen Rat gebe. Dass du auf dem Weg nach Salerno bist und den Winter bei mir verbringst, bis die Pässe wieder frei sind, das ist eine Sache, aber dein Vorhaben, Judith dort ausbilden zu lassen, eine ganz andere. Sie werden dich nicht für einen guten Arzt halten, wenn du das erzählst, sondern für einen törichten Alten, bei dem der Greisenwahn schon eingesetzt hat. Sag einfach, dass du selbst dort lehren willst. Das macht Eindruck, und niemand braucht weitere Erklärungen.«

Judiths Sympathie für Vetter Salomon sank, doch überrascht war sie nicht. Es gab jüdische Ärztinnen, nur eben nicht sehr viele; man konnte diejenigen, die namentlich bekannt geworden waren, an einer Hand zusammenzählen. Und ob Jüdin oder Christin, nur in Salerno war es Frauen überhaupt möglich, die Heilkunst auf wissenschaftliche Weise zu erlernen, nicht wie die Stümperei der Ärzte an den drei christlichen Universitäten in Bologna, Paris und Oxford, deren Hauptfach die Astrologie war, oder gar der Bader, die sich ohnehin meist mehr auf Haare schneiden, rasieren, zur Ader lassen und das Badevergnügen konzentrierten. Ihr Vater hatte seine Jugend in Salerno verbracht und hatte dort Ärztinnen erlebt, sonst wäre er nie bereit gewesen, sie für seine Nachfolge in Betracht zu ziehen. Der Rest der Familie in Köln war alles andere als glücklich darüber und murmelte davon, wie der Tod seiner Söhne Rabbi Josef den Verstand getrübt haben musste; dass Vetter Salomon ähnlich dachte, war zu erwarten gewesen. Tatsächlich wusste Judith, dass sie immer noch in Köln säße und statt einer Ausbildung in Salerno eine Ehe für sie geplant würde, wenn ihre Brüder noch am Leben wären. Sie konnte nie die Gebete für die Toten sprechen, ohne deswegen Schuldgefühle zu empfinden, nicht zuletzt, weil sie sich nichts sehnlicher wünschte, als Ärztin zu werden, seit sie als Kind ihrem Vater dabei zusehen durfte, wie er die Mutter von der Schwelle des Todes zurückgeholt hatte. Wenn Gott sie prüfen würde und fragte, ob sie ihre Brüder wiederhaben oder ihre eigenen Träume für immer aufgeben wollte, dann war Judith nicht sicher, ob sie diese Probe bestünde. Sie würde Menschen helfen, sagte sie sich, Menschen heilen, ihnen vielleicht sogar das Leben retten. Das Gefühl, selbstsüchtig zu sein, blieb dennoch.

All das hatte sie aber nicht davon abgehalten, ihren Vater wieder und wieder zu bitten, von seiner glücklichen Jugend in Salerno zu erzählen, als er bei den besten Ärzten Europas studiert hatte, und so dessen Sehnsucht nach der Vergangenheit auszunutzen. Natürlich war es undenkbar, dass eine alleinstehende junge Frau ihr Heim verließ und so Schande über ihr Elternhaus brachte, aber wenn er mit ihr kam, wenn er nach Salerno ging und anbot, dort zu lehren, als Entgelt dafür, dass man sie unterrichtete, dann gab es nichts, dessen sie sich schämen mussten, im Gegenteil. Er würde an einen Ort zurückkehren, wo er nicht in jedem Schatten seine tote Familie fand, und sie würde beweisen, dass sie seiner Lehren wert war.

Salomon und ihr Vater trugen beide die Kittel aus blaugefärbter Wolle, die gut für eine Reise waren, weil man ihnen den Dreck und Schnee, den der Weg von Wien nach Klosterneuburg hinterließ, nicht sofort ansah, und sie hatte darauf geachtet, ihrem Vater die wärmsten Beinlinge zu geben, die sie aus Köln mitgebracht hatten. Sein Filzhut hatte sehr unter der langen Reise im Herbst gelitten, deswegen hatte sie Vetter Salomon gebeten, ihrem Vater einen der seinen zur Verfügung zu stellen, und auch einen seiner guten Wollmäntel; niemand sollte ihren Vater mit einem der Scharlatane verwechseln, die auf den Dörfern ihre Dienste anpriesen, nur, weil er zu vorsichtig war, um seinen schönen Mantel mit den Stickereien auszupacken, den ihm ein dankbarer Kaufmann geschenkt hatte. Judith selbst trug ihr schwarzes Reisekleid mit den enganliegenden Ärmeln, was im Winter wärmer und sinnvoller war als die weitärmligen Leinenkittel, die Salomons Gattin und Töchter in ihrem Haus zur Schau trugen, und sie hatte sich ihr Haar geflochten, damit es ihr nicht ins Gesicht fiel. Um Salomon zu beschwichtigen, trug sie es außerdem vollständig umhüllt, obwohl das bei den Christen für Mädchen vor ihrer Ehe nicht Sitte war, doch da er ihrem Vater und ihr einen Gefallen tat, war das keinen Streit wert gewesen. Keine einzige rote Locke schaute unter dem Leinen hervor, das wie ein Verband um ihren Kopf und um den Hals geschlungen war. Unauffälliger und bescheidener konnte man sich nicht geben, davon war sie überzeugt – so lange, bis Vetter Salomon dem Haushofmeister von Klosterneuburg erklärte, wer sie waren und was sie wollten. Dieser kniff die Augen zusammen und erklärte, der Herzog habe schon seinen eigenen Medicus und zwei weitere um sich, die nach den Weihnachtstagen gekommen seien. Fast eine Woche ginge das nun so, ohne dass sich Besserung zeige. Warum ausgerechnet ein Jude daran etwas ändern solle, sei ihm schleierhaft.

»Noch dazu«, schloss er, »einer, der mit einem Weib reist. Wofür haltet Ihr unseren guten Herzog, für König David, der ein junges Mädchen braucht, um sich die Glieder zu wärmen?«

Im ersten Moment dachte Judith, sie hätte ihn nicht richtig verstanden. Sie hielt die Tasche mit ihres Vaters Instrumenten in den Händen, und ihre Finger, die sich in der Kälte gerötet hatten, wurden weiß an den Knöcheln, als sie ihre Hände zusammenkrampfte und auf den Boden starrte, um nicht die Beherrschung zu verlieren. Das Schlimmste war, dass weder ihr Vater noch Salomon überrascht wirkten. Im Gegenteil, sie schienen beide diese Art von Anzüglichkeiten und Demütigungen erwartet zu haben.

»Ich bin alt«, entgegnete ihr Vater, »und meine Tochter Judith geht mir zur Hand.«

»Wenn deine Finger so zittrig sind, dass dir ein Weib helfen muss, dann solltest du niemanden mehr behandeln, Jude, und schon gar keinen Herrscher«, sagte der Haushofmeister überheblich. So ging es noch eine Weile hin und her, bis einer der hohen Herren, dem ihre Gruppe im Burghof aufgefallen sein musste, zu ihnen trat. Sein aufwendig bestickter Rock reichte nur bis zu den Knien, eine Mode, die Judith noch nicht gesehen hatte, bevor sie nach Wien gekommen war. Sie dachte zuerst, es handle sich um einen der Herzogssöhne, aber der Haushofmeister zeigte nur Höflichkeit, als er den Kopf neigte und sagte: »Euer Gnaden.« Auch Salomon machte eine Verbeugung; offenbar wusste er, um wen es sich handelte.

»Ich bin nur ein Gast hier, und leider kein freiwilliger«, sagte der Edelmann, den Judith auf achtzehn Jahre schätzte, spöttisch, »doch mir scheint, dass dem Herzog jeder Arzt willkommen ist. Ein weiterer Medicus kann nicht schaden, aber vielleicht nützen.« Er sprach mit einem deutlichen Akzent, den Judith nicht einordnen konnte. Die Mantelspangen, die seinen Umhang festhielten, waren aus graviertem Silber; um ein einfaches Mitglied des Hofstaates handelte es sich definitiv nicht.

»Nun, Euer Gnaden …«

»Wenn dieser Mann Euren Herzog retten kann und Ihr ihn nicht zu ihm lasst, dann habt Ihr am Ende sein Leben auf dem Gewissen. Von seiner ewigen Seligkeit ganz zu schweigen. Oder irre ich mich?«

Der Haushofmeister murmelte etwas in seinen Bart, dann rief er einen Diener und beauftragte ihn, Judiths Vater zum Herzog zu führen. »Aber nicht das Weib«, setzte er mürrisch hinzu. »Selbst die Herzogin, Gott schütze sie, darf Seine Gnaden nicht in seinem Zustand sehen. Frauen haben inmitten von Blut und Eiter nichts verloren.«

»Wann habt Ihr das letzte Mal einer Geburt beigewohnt?«, fragte Judith, ehe sie sich zurückhalten konnte. Diesmal schaute nicht nur der Haushofmeister, sondern auch Vetter Salomon sie tadelnd an. Ihr Vater seufzte und blickte enttäuscht, was schlimmer war. Der fremde Edelmann jedoch lächelte.

»Ein Treffer, würde ich sagen. Gestattet mir, einen weiteren Vorschlag zu machen: Die Herzogin scheint mir selbst in einem beklagenswerten Zustand zu sein, und wen wundert das? Etwas Ablenkung würde der edlen Dame guttun. Schickt das Mädchen zu ihr, während ihr Vater den Herzog besucht.« Er ließ es so klingen, als sei Judith eine Jahrmarktsgauklerin, die Fackeln in die Luft werfen würde, aber sie war nicht dumm und hatte sehr wohl verstanden, dass er ihr gerade eine Audienz mit der Herzogin verschafft hatte, denn der Haushofmeister nickte zögernd. Natürlich wäre sie lieber an der Seite ihres Vaters geblieben. Sie hatte aber auch nicht vergessen, dass man vielleicht ihm die Schuld geben könnte, wenn der Herzog starb, weil es niemanden bei Hofe gab, der Grund hatte, ihn in Schutz zu nehmen. In Wien hatte sie geglaubt, dass er zu vorsichtig war, doch so, wie der Haushofmeister sich jetzt schon benahm, erschienen ihr seine Bedenken nicht mehr unwahrscheinlich. Die Gunst der höchsten Dame bei Hofe zu gewinnen, soweit es unter den momentanen Umständen machbar war, konnte da nicht schaden.

»Es wäre mir eine Ehre«, sagte Judith so bescheiden wie möglich.

Kurze Zeit später geleitete der fremde Edelmann sie und Vetter Salomon, der darauf bestanden hatte, sie zu begleiten, weil eine unverheiratete Frau seiner Familie auf gar keinen Fall allein mit einem Mann sein durfte, zum Gemach der Herzogin. Sie wusste nicht, warum der junge Mann so hilfsbereit und zuvorkommend war. Aus den Augenwinkeln warf sie ihm einen verstohlenen Blick zu. Er war kräftig, hochgewachsen und blond, und obwohl er vorhin erwähnt hatte, nicht freiwillig bei Hofe zu sein, bewegte er sich mit der Gewissheit eines Mannes, der erwartete, dass man ihm den Weg frei mache.

»Wann werden Euer Gnaden uns denn verlassen?«, fragte Vetter Salomon gepresst.

»Nicht, solange es dem Herzog so schlechtgeht«, sagte der Edelmann aufgeräumt und ohne jedes Bedauern über den Zustand des Herzogs. »Selbstverständlich bin ich froh, dass Bischof Wolfger ihn überzeugen konnte, mich gehen zu lassen, aber ich würde meinem Onkel gerne genauere Kunde über den Herzog bringen, wenn ich nach Aquitanien zurückkehre.«

»Rabbi Josef wird sein Möglichstes tun«, sagte Salomon vorsichtig, »aber der Herr allein entscheidet …«

»Natürlich. Und ich bin eigentlich auch sicher, dass er bereits entschieden hat.« Der Edelmann lächelte noch immer. »Warum, glaubt Ihr, habe ich mich sonst dafür eingesetzt, dass Eurem Vetter Zugang zu dem Herzog gewährt wird?«

In den Gängen der Residenz war die Kälte des Wintertags der dumpfen Wärme von zahlreichen Fackeln an den Wänden und von vielen Menschen gewichen, doch bei diesen Worten war es Judith, als träufele Eiswasser ihren Rücken herab. Ein Missverständnis, sagte sie sich. Er spricht nicht seine Muttersprache, das ist bei diesem Akzent offensichtlich, und er will eigentlich nur sagen, dass er Vertrauen in meinen Vater hat. Doch warum sollte er das? In einen völlig fremden Mann?

»Euer Gnaden?«, fragte Salomon unsicher.

»Ich hoffe, dass er so qualvoll wie möglich zur Hölle fährt und dass das Letzte, was er auf Erden sieht, kein Priester ist, sondern ein gottverfluchter Jude«, sagte der Edelmann und schmunzelte vergnügt.

Judith kam es vor, als hätte er sie ins Gesicht geschlagen. Ihr war nicht mehr kalt, im Gegenteil, sie brannte vor Zorn. Vor Zorn und Furcht. Hatte sie ihren Vater in sein Verderben geführt? Jede Vorsicht hinter sich lassend, sagte sie laut: »Werdet Ihr diesen frommen Wunsch vor der Herzogin wiederholen, Herr, oder soll ich das tun? Vielleicht bleibt Ihr dann doch noch etwas länger Gast an diesem Hof, während mein Vater den Herzog rettet.«

Das Lächeln verschwand aus dem Gesicht des Mannes. Er blieb stehen und trat näher, so nahe, dass sie die Flecken in seinen wasserblauen Augen erkennen konnte.

»Die Herzogin wird sehr bald Witwe sein, nur noch dazu gut, sich in ein Kloster zurückzuziehen. Aber vorher kann sie noch einen Zweck erfüllen. Deswegen bringe ich dich zu ihr: Männer reden im Bett, und vielleicht hat ihr der teure Gemahl verraten, wo er den Rest unseres Geldes versteckt hat.«

Mit einem Mal machte Salomon, der bis dahin gleichzeitig verängstigt und empört dreingeschaut hatte, eine Miene, als seien ihm sehr viele Dinge klar; der Edelmann, der nur auf Judith blickte, bemerkte dies nicht.

»Euer Geld?«, wiederholte sie mit fester Stimme, um zu zeigen, dass sie nicht im Geringsten eingeschüchtert war.

»Ah, ich vergaß, mich vorzustellen«, erwiderte er mit höhnischem Lächeln. »Otto von Poitou. Ehe der Herzog meinen Onkel freiließ, forderte er Geiseln, um sicherzustellen, dass Richard ihn nicht umbrachte oder das Land verwüstete und dass auch die letzte Silbermark bezahlt würde. 100000 Mark in Silber, mehr als zwanzig Wagen voll. Die Hälfte hat der staufische Kaiser eingeheimst, dieser Dreckskerl, aber der Rest ist hier in Österreich eingetroffen. Unrecht Gut gedeihet nicht, wie man sieht, also werde ich dem zukünftigen Herzog nur einen Gefallen tun und es nach England zurückbringen, zumindest das, was davon noch übrig geblieben ist.« Er griff ihr unter das Kinn, was Salomon entrüstet aufstöhnen ließ. Otto achtete nicht auf ihn. »Ihr Juden seid doch gut darin, Geld aufzuspüren, oder etwa nicht? Misch der Herzogin ein Tränklein, welches sie zum Reden bringt, oder veranstalte sonst einen Hokuspokus, das kümmert mich nicht. Aber denke daran, wenn der Herzog deinem Vater unter den Händen wegstirbt, dann wird er einen Beschützer brauchen, und ihr solltet dafür etwas zu vergeben haben.«

Das Kind in Judith wollte mit dem Fuß aufstampfen und fragen, wie er als Geisel an einem fremden Hof, gerade selbst freigelassen oder nicht, jemanden beschützen wollte. Aber sie war kein Kind mehr. Sie wusste, dass der Mann mit ihr machen konnte, was er wollte. Ihr Vater hatte recht gehabt, er hatte wieder recht gehabt, und sie sich geirrt. Es gab hier niemanden, dem das Leben eines Juden etwas bedeutete. Noch dazu war Otto der Neffe eines Königs, und ganz gleich, ob dieser ein Feind der herzoglichen Familie war oder nicht, das stellte ihn so hoch über sie, dass sie selbst als Christin ein Nichts im Vergleich dazu gewesen wäre.

Also muss ein Nichts ein Etwas werden, schoss es ihr durch den Kopf. Und in diesem Moment begriff sie Salomons Miene, als Otto von dem Geld angefangen hatte. Es kitzelte sie, ihrem Gegenüber ins Gesicht zu lachen, denn durch Salomon wussten sowohl ihr Vater als auch Judith, was aus dem englischen Silber geworden war. Doch es war keine Antwort, die Otto gefallen würde. Daher musste sie eine andere Art und Weise finden, um sicherzustellen, dass ihrem Vater und ihr nichts geschah. Wie, das wusste sie noch nicht. Sie wusste nur, dass ihr Vater und sie diesen Hof wieder lebend verlassen würden, und nicht, indem sie diesem Königsneffen gab, was er wollte. Nein. Ein Floh kann selbst einen König beißen, dachte Judith und zwang sich, demütig zu schauen, und ganz gewiss einen Königsneffen.

»Ich werde tun, was Ihr wünscht, Herr«, flüsterte sie. Da es genau das war, was er von den meisten Menschen in seinem Leben hörte, zweifelte er nicht einen Herzschlag lang daran, dass sie es auch so meinte.

»Tu das«, sagte er und ließ sie wieder los. Erst da fiel ihm das entgeisterte Gesicht Salomons auf. »Aber warum denn so bekümmert?« Er klopfte ihm auf die Schulter und grinste. »Eure hübsche kleine Base hier wird gleich der Herzogin vorgestellt werden!«


Die Herzogin Helena war sechsunddreißig Jahre alt; viele der Frauen in diesem Alter, die Judith kannte, hatten bereits einige Zähne verloren, und ihr Haar war voller grauer Strähnen. Wie es um das Haar der Herzogin bestellt war, konnte man nicht erkennen, da sie, wie jede verheiratete Frau ihres Standes, nicht nur eine Leinenbinde um Wange und Kinn, sondern auch einen Schleier auf ihrem Kopf trug, der von einem reichverzierten Kopfreif gehalten wurde. Doch ihre Augenbrauen waren noch dicht und schwarz und gehörten zu einem angenehm wirkenden Gesicht, das vergleichsweise wenige Falten zeigte, was natürlich auch an dem sorgfältig aufgetragenem Bleiweiß liegen konnte. Dass sie einmal sehr schön gewesen sein musste, war nicht zu übersehen. Lediglich an den Lippen erkannte man, dass sie kein junges Mädchen mehr sein konnte, vor allem jetzt, da sie sich sehr skeptisch wölbten, was zeigte, wie rissig sie waren.

»Vielleicht sollte ich mich geschmeichelt fühlen«, sagte sie, und ihrer Stimme hörte man noch schwach ihre ungarische Herkunft an, »da Graf Otto es für die Mühe wert hält, mir eine Spionin zu schicken.« Sie hob ungeduldig eine Hand, an der zahlreiche Ringe steckten. »Gib dir nicht die Mühe, zu bestreiten, dass du hier spitzeln sollst, Mädchen. Otto hat sich in den zwölf Monaten, die er nun schon an diesem Hof als Geisel weilt, noch nie die Mühe gegeben, mehr als einen höfischen Gruß an mich zu richten. Wenn ihn etwas anderes in dieser Zeit gekümmert hat als das nächste Turnier, dann ist mir das nicht aufgefallen. Du siehst also, es gibt nichts, was du mir sagen könntest, das ich glauben würde.«

Da die Herzogin mit dieser kleinen Rede gewartet hatte, bis Otto nach seiner Vorstellung wieder mit Salomon verschwunden war, wusste Judith, dass es trotzdem etwas geben musste, was Helena von ihr wollte, sonst wäre sie sofort fortgeschickt worden. Zumindest war die Herzogin neugierig genug, um sich die Mühe dieses Wortwechsels zu machen. Angesichts dessen, was ihrem Vater drohte, galt es, jede noch so kleine Gelegenheit zu nutzen.

»Auch nicht, wenn es nur ein Mittel ist, mit dem Ihr Eure Lippen pflegen könnt, um ihnen Glanz und Röte zu verleihen?«, fragte Judith, weil es das Erste war, das ihr einfiel, und sie nicht zögern durfte. Zeit, um nach klugen Argumenten zu grübeln, hatte sie nicht. Die Herzogin zog eine Braue in die Höhe, sagte jedoch nichts. »Nehmt entrahmten Honig, fügt etwas weiße Zaunrübe, gewöhnliche Zaunrübe und Spritzgurke hinzu, und ein klein wenig Rosenwasser. Dann lasst diese Mischung kochen, bis sie auf die Hälfte ihres Gehalts geschrumpft ist. Diese Tinktur tragt täglich auf. Sie wird die Haut Eurer Lippen kräftigen und gleichzeitig weich und geschmeidig machen. Solltet Ihr dort je unter Ausschlägen leiden, so wird die Tinktur auch dagegen helfen.«

Nicht nur die Herzogin, sondern auch ihre Mägde und die beiden Damen, die, gemessen an ihrer Kleidung, dem Adel angehören mussten, schauten gleichzeitig verblüfft und aufrichtig interessiert drein. Eine der beiden Damen fuhr sich unwillkürlich mit den Fingern an den Mund.

»Hmm«, machte die Herzogin. »Ist das ein jüdisches Mittel?«

»Nein, Euer Gnaden«, entgegnete Judith und befahl sich, ruhig zu bleiben. »Es stammt aus dem Buch der Trota von Salerno über die Behandlungen für Frauen.« Ihr Vater hatte ihr erst im letzten Jahr gestattet, dieses Buch zu lesen, das er als junger Mann aus Salerno mitgebracht hatte. Einige seiner Lehrer hatten noch selbst bei Trota gelernt, und er hielt viel von ihr. Natürlich glaubte er auch, dass es Dinge gab, die zu wissen sich für Jungfrauen nicht schickten, und hätte lieber mit den Passionibus Mulierum Curandorum gewartet, bis sie verheiratet war. Da sich jedoch abzeichnete, dass er vor ihrem Studium in Salerno keinen geeigneten Ehemann für sie finden konnte, hatte er nachgegeben. Sie gut vorbereitet zu wissen, war ihm schließlich wichtiger gewesen.

»Ich habe von den weisen Frauen aus Salerno gehört«, sagte die Herzogin langsam. »Ihr wollt also tatsächlich eine Magistra der Medizin werden? Und ich hielt das für die einzig einfallsreiche Kleinigkeit in Graf Ottos Lügen.«

»Es ist mein größter Wunsch«, entgegnete Judith. Eigentlich wollte sie so überleiten zu der Bitte, das etwaige Dahinscheiden des Herzogs auf keinen Fall ihrem Vater zur Last zu legen, doch dazu konnte sie die Herzogin noch nicht genügend einschätzen. Am Ende würde eine solche Bitte ihr als Fluch ausgelegt werden, der den Herzog erst zu Tode brachte. Also ergänzte sie stattdessen: »Mein Vater hatte das Glück, in Salerno ausgebildet zu werden, und hat in unserer Heimatstadt Köln vielen Menschen helfen können. Ich hoffe, eines Tages in seine Fußstapfen zu treten und mich dessen würdig zu erweisen, was er mich bereits gelehrt hat.«

»Hmm«, machte die Herzogin noch einmal, verschränkte ihre Finger ineinander und schien zu einem Schluss zu kommen. »Mehrere meiner Frauen hier«, fuhr sie fort und wies mit dem Kinn auf die Mägde, nicht auf die Damen, »husten und schniefen mir schon den ganzen Winter die Ohren voll. Was würdest du ihnen empfehlen, Mädchen?«

»Andorn, Euer Gnaden«, gab Judith, ohne zu zögern, zurück. Das war eine der leichtesten Fragen, schon deswegen, weil in Köln ständig Nachfrage danach bestanden hatte, auch in Josefs eigenem Haus, als es noch voller heranwachsender Kinder gewesen war. »Er hilft gegen Husten und Halsschmerzen, oft auch gegen Ohrenkrankheiten. Bringt Wasser zum Kochen, übergießt einen Löffel voller Andornkraut mit einem Becher des heißen Wassers, lasst das Ganze fünf Minuten lang ziehen und abseihen. Dann gebt zwei kleine Becher Wein dazu und lasst die Mixtur aufkochen. Ich selbst gebe vor dem Trinken etwas Honig hinein, weil es die Bitterkeit lindert.«

Die Herzogin runzelte die Stirn. »Mag sein, dass wir Andorn in der Küche haben. Schlimmer kann das Gehuste nicht werden, also wird ein Versuch nicht schaden. Viel Schlaf ist mir in dieser Woche ohnehin nicht beschieden gewesen, und den wenigen ständig gestört zu finden, war eine zusätzliche Last.« Sie schnipste mit den Fingern. »In die Küche mit euch, um genügend Andorntrank für uns alle zu bereiten«, sagte sie zu ihren Mägden, und fügte, an die Damen gewandt, hinzu: »Auch Ihr solltet mitgehen, um ein Auge auf die jungen Dinger zu haben, sonst halten sie sich am Ende am Wein gütlich und vergessen den Andorn vollkommen.«

Judith beobachtete, wie die Frauen hinausflatterten. Es war klar, dass der Befehl der Herzogin darauf hinauslief, mit ihr allein gelassen zu werden. Ihr Herz schlug ein wenig schneller. Das musste, das durfte nur etwas Gutes bedeuten.

Als auch die letzte Magd verschwunden war, sprach Helena erneut. »Und nun verrate mir, was sollst du für Graf Otto herausfinden? Warum hat er nicht einfach eine meiner Mägde mit etwas Silber oder seinem Welfenlächeln bestochen?«

»Ich glaube, es war ein plötzlicher Einfall«, entgegnete Judith. Sie war froh, äußerlich ruhig zu bleiben, doch sie konnte nicht verhindern, dass sich unter dem Leinenband, das von ihrem Haaransatz bis in ihre Stirn ging, Schweißtropfen bildeten. »Er fand meinen Vater und mich im Hof, sah, dass wir hier keine Freunde besitzen, und glaubte, leichtes Spiel zu haben.« Der Zorn, den Otto in ihr geweckt hatte, ließ sie hinzufügen: »Vielleicht wollte er auch einfach Bestechungsgeld sparen. Eure Mägde haben bei Euch ein sicheres Auskommen und wären töricht, wenn sie es für weniger als eine gute Mitgift riskieren würden. Mir dagegen brauchte er nur mit dem Leben meines Vaters zu drohen.«

Die Herzogin, die bisher in einem Armstuhl gesessen hatte, erhob sich abrupt. »Mädchen, weißt du, wer Otto von Poitou ist?«

Ein Fehler, dachte Judith verzweifelt, ich habe wieder einen Fehler gemacht. Geisel oder nicht, Feind oder nicht, sie hat mehr mit ihm gemein als mit mir. Ich hätte es wissen müssen! Warum lasse ich nur immer wieder meiner Zunge freie Bahn!

»Der Neffe des Königs von England«, gab sie hölzern zurück.

»Und der dritte Sohn Heinrichs des Löwen, der einst Barbarossa selbst den Thron streitig machte«, sagte die Herzogin. »Es gibt kaum jemanden von edlerer Herkunft im Reich, bis auf seine Brüder.« Ihre Augen verengten sich. »Vor allem aber ist er ein unerträglich eingebildeter Gernegroß, der meint, in Aquitanien und am englischen Hof aufgewachsen zu sein, mache ihn uns deutschen Fürsten gegenüber überlegen.« Sie lachte kurz auf. »Es war eine finstere Woche, Mädchen. Am Ende bin ich dir und Otto für die Ablenkung noch dankbar.« Ihre Augen glitzerten boshaft. »Also, was möchte er wissen?«

Sei vorsichtig, mahnte sich Judith. Wenn sie der Herzogin diese Auskunft erteilt hatte, dann gab es nichts mehr, was Helena noch von ihr wollte. Eine Ablenkung, die ihren Zweck erfüllt hatte, schickte man fort und dachte nicht mehr an sie, vor allem, wenn der eigene Gatte starb. Sollte es ihrem Vater nicht gelingen, den Herzog zu retten, würde seine trauernde Witwe keinen Gedanken an sie und die guten Ratschläge für Lippenpflege und Erkältungstrank verschwenden.

»Etwas, das er durch eine ehrliche Frage an richtiger Stelle wohl eher erfahren würde«, murmelte sie, obwohl sie das mitnichten glaubte. »Euer Gnaden, ich …«

Weiter kam sie nicht, denn eine von Helenas Mägden kehrte zurück, nicht aus der Schlossküche, sondern aus dem Zimmer des Herzogs, und sie kam nicht allein. Bei ihr war ein junger Mann, den Judith auf den ersten Blick nicht einschätzen konnte.

»Lasst hören, Herr Walther, was gibt es zu berichten?«

Wie die meisten Männer, die sie bisher in der Residenz gesehen hatte, trug er keinen bis über die Knie reichenden Kittel wie die Leute zu Hause, sondern einen nur bis zum Knie gehenden Rock, der am Saum geschlitzt war. Stickereien wie bei Otto fehlten, und der rote Stoff war sogar abgewetzter als der des Haushofmeisters, genau wie die Wolle seiner Beinlinge, doch wie ein Diener benahm er sich auch nicht. Seine Verbeugung vor der Herzogin war zwar höflich, doch nicht tiefer, als die Ottos es gewesen war. Er hielt auch nicht die Augen gesenkt. Judith sah, dass sie nicht nur grün waren, sondern auch bemerkenswert schön – ein Gedanke, den sie sofort energisch zur Seite schob –, und so unbekümmert blickten, als begegne er seinesgleichen. Er hatte braune, schulterlange Haare, und sein Kinn war glatt rasiert, was sie zunächst verwunderte, bis sie sich wieder besann, dass bei den Christen nicht jeder erwachsene Mann einen Bart trug. Ein Knabe war er jedenfalls schon lange nicht mehr; die Stimme, mit der er sprach, füllte den Raum und fuhr ihr durch die Glieder. Was er mit dieser Stimme sagte – und wie unverhohlen er schmeichelte –, brachte Judith aber gleich dazu, ihn abzulehnen.

»Ich habe heute Morgen im Garten Zweige gesehen, auf denen der Tau gefroren war, so dass Eiskristalle eine Zauberwelt erkennen ließen. In ihnen war Euer Gesicht geformt, aber es war nicht schöner als das Original.« »Wie geht es meinem lieben Herrn?«, fragte die Herzogin. »Keine Ausflüchte und Schönfärbereien; ich will die Wahrheit wissen.«

Er wirkte enttäuscht, als die Herzogin mit keiner Miene auf seine Worte einging, stellte sein Verhalten aber sofort um. »Nicht gut, Euer Gnaden, und jetzt, wo ein weiterer Medicus an ihm herumstümpert, gewiss noch viel schlechter«, gab der aufgeblasene langnasige Kerl zurück. »Sie meinen es gewiss gut, doch nach dem, was ich in den letzten Tagen beobachtet habe, könnte man mit dem gleichen Erfolg einen Haufen blinder Küchenjungen einen Braten schneiden lassen. Manchmal denke ich, dass Ärzte eine weitere der zehn Plagen sind, mit der Gott die Menschheit straft.«

Wenn Judith dergleichen in Köln gehört hätte, eingehüllt in die ruhige Gewissheit, dass ihr Vater genügend Patienten hatte, um eine derartige Bemerkung im Nichts verhallen zu lassen, hätte sie den Sprecher nur ausgelacht. Hier und jetzt, wo die Herzogin jederzeit entscheiden konnte, dass gehängt zu werden noch zu gut für Josef ben Zayn war, zögerte Judith nicht einen Moment. Obwohl sie genau wusste, dass es sich nicht ziemte, in Gegenwart einer adligen Dame als Erste das Wort zu ergreifen, sagte sie verächtlich: »Die elfte Strafe Gottes sind dumm schwätzende Nichtstuer wie Ihr. Es mag Ärzte geben, die weniger begabt sind als andere, aber jeder, der die Heilkunst studiert hat, wünscht sich nichts mehr im Leben, als anderen Menschen zu helfen. Er arbeitet Tag und Nacht dafür und –«

Der Mann, der eine Laute in der Hand hielt, fuhr ihr ins Wort und sagte, zur Herzogin gewandt: »Ärzte sind und bleiben Menschen, deren Irrtümer die Erde zudeckt, eine Gnade, die kaum ein anderer für seine Fehler erhält.«

Ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen, sprach Judith weiter: »Selbst wenn Ihr uns nur die niedrigsten Beweggründe unterstellt, müsst Ihr zugeben, dass tote Patienten weder dankbar und freigiebig sein können noch ihre Familie dem gleichen Arzt anvertrauen. Also weiß jeder gebildete Mensch, dass ein Arzt sein ganzes Geschick aufwendet, um den Patienten zu helfen. Jeder, außer einem Narr, der mit dem Verstand eines Huhns gackert, weil er offenbar nicht in der Lage ist, ein einziges vernünftiges Wort zu sprechen!«

Erst als ihr Ausbruch in Stille verklang, wurde sich Judith bewusst, dass die Herzogin sie beide nicht unterbrochen oder ihnen zu schweigen befohlen hatte. Sie schaute zu Helena und stellte fest, dass die Herrin von Österreich sich wieder gesetzt hatte und sich mit einem mokanten Lächeln in ihren Stuhl zurücklehnte. Die Magd, deren Aufgabe es eigentlich gewesen wäre, Bericht vom Krankenbett des Herzogs zu erstatten, hatte die Hände vor den Mund geschlagen.

»Herr Walther«, sagte die Herzogin trocken, »darf ich Euch Judith von Köln vorstellen, die danach strebt, zu den mulieres Salernitanae zu gehören und eine Magistra zu werden? Frau Judith, dies ist Herr Walther von der Vogelwiese, ein Schüler der Dichtkunst unseres teuren Herrn Reinmar.«

Der junge Mann, der bisher immer noch blasiert dreingeschaut hatte, obwohl er sie nun sehr genau ins Auge fasste, zuckte fast unmerklich zusammen, als die Herzogin seinen Namen nannte. Entweder legte er keinen Wert darauf, ihn zu hören, oder die Herzogin hatte einen falschen Namen genannt. Gleichzeitig wurde Judith noch etwas anderes klar: Wenn die Herzogin in der Lage war, sich durch Streitereien belustigen zu lassen, statt wütend nach dem Zustand ihres mit dem Tode ringenden Gatten zu fragen, dann lag ihr dieser womöglich nicht so am Herzen, dass sie später aus Schmerz nach Sündenböcken suchen würde.

Vielleicht täuschte Judith sich aber auch? Nach dem Tod ihrer Mutter hatte ihr Vater mit ihren damals noch lebenden Brüdern über das Traktat Mosche ben Maimons über das Asthma debattiert, um nicht zusammenzubrechen. Außerdem kannte sie die Herzogin nicht, noch war ihr jemals zuvor eine Dame von so hohem Rang begegnet; am Ende verhielten sich die Angehörigen des hohen Adels völlig anders?

Die Körper der Menschen aber blieben sich gleich, das hatte Judiths Vater sie schon vor Jahren gelehrt, und ihre Zeichen waren dieselben für Bettler und Reiche, was jeder Arzt wusste. Nicht nur bei Krankheiten. Während jener Debatten nach dem Tod von Judiths Mutter war alles an ihrem Vater verkrampft gewesen. Seine Stimme hatte zwar meistens ruhig geklungen, doch sein Körper schien dabei aus nichts als angespannten Sehnen zu bestehen. Die Herzogin dagegen saß entspannt da. Wenn sie nicht die Kunst beherrschte, auch mit ihrer Haltung zu lügen, dann bereitete es ihr nicht wirklich Schmerz und Furcht, ihren Gatten dem Tode nahe zu wissen.

»Das Huhn ist ein zutiefst missverstandener Vogel«, sagte Walther. In seiner Stimme lag Spott, aber er zwinkerte ihr auch zu, was sie ganz und gar nicht erwartet hatte. »Doch selbst seine größten Gegner müssen zugeben, dass es hin und wieder ein Korn findet. Wenn Ihr tatsächlich in der Heilkunst bewandert seid, dann werdet Ihr mir sicher zustimmen, dass derjenige am lautesten brüllt, dem man die Finger in eine offene Wunde legt. Unbetroffene Menschen dagegen pflegen das Gezwitscher von harmlosen Vögeln wie mir zu ignorieren.«

Das war nicht nur eine gekonnte Art, nicht auf ihr Argument einzugehen, sondern sie auch durch einen rhetorischen Kunstgriff ins Unrecht zu setzen. Es machte obendrein ihren Zorn schlimmstenfalls verdächtig, bestenfalls lächerlich. Ja, sie begann, diesen Walther aus ganzem Herzen zu verabscheuen. Aber Dummheit konnte sie ihm ehrlicherweise nicht vorwerfen. Judith entschloss sich, die Taktik zu wechseln. Auf die Herzogin kam es an; sie durfte sich nicht mehr von ihr ablenken lassen. »Euer Gnaden«, sagte sie, so demütig und reuig wie möglich klingend, und sank vor der Herzogin auf die Knie, wie sich das für eine Bittstellerin gehörte, »da Graf Otto mir gegenüber damit prahlte, dass er die Ärzte schuldig am Tod Eures Gatten aussehen lassen könne, trage ich tatsächlich eine Wunde im Herzen, die mich unüberlegt sprechen lässt. Ich bete, den Ärzten möge es gelingen, Euren Gemahl zu retten, Euer Gnaden, doch nur Gott allein ist unfehlbar. Sollte es sein Wille sein, den Herzog zu sich zu nehmen, dann wäre es ein großes Unrecht, wenn jemand wie der Graf auch noch Gewinn aus diesem Unglück zöge.«

Das war nicht genau so, wie Otto es gesagt hatte, doch Judith hatte diese neue Formulierung absichtlich gewählt. Ärzte in der Mehrzahl lenkte die Aufmerksamkeit nicht so auf ihren Vater, und der Hinweis auf Otto erinnerte die Herzogin daran, warum sie Judith eigentlich hierbehalten hatte. Vielleicht verdächtigte sie sogar diesen Walther, im Bunde mit Otto zu sein, und schickte ihn fort.

»Der Graf von Poitou«, sagte die Herzogin kühl, »ist ein geladener Gast in diesem Herzogtum, was man von dir nicht behaupten kann. Mir scheint, du kannst deine Zunge immer noch nicht wahren.«

Diese völlige Umkehrung dessen, was Helena vorhin gesagt hatte, kam wie ein Schwall kalten Wassers. Doch vorhin waren sie auch allein gewesen; das hätte Judith nicht vergessen dürfen. Offenbar war die Herzogin nicht gewillt, vor Zeugen etwas Ungünstiges über den Adligen zu sagen.

»Gäste von Graf Ottos Art mögen geladen worden sein, doch kann man nicht behaupten, dass sie der Einladung aus freien Stücken Folge leisteten«, warf Walther zu Judiths Überraschung ein. »Da könnte man verstehen, wenn er nur einen Nutzen für einen Arzt sieht, nämlich den, Heimweh zu heilen, doch das, so hört man, heilt bei ihm bald von selbst.«

Leider verfing sein ablenkender Plauderton diesmal bei der Herzogin ganz und gar nicht.

»Gab es noch etwas, das Ihr mir auszurichten habt, Herr Walther?«, fragte sie und klang mittlerweile eisig. »Sonst wüsste ich nicht, was Euch noch hier hält.«

»Nun ja, ich wollte Euch von Eurem Kummer durch ein, zwei Lieder ablenken, und –«

»Sehe ich aus, als ob ich Ablenkung von Euresgleichen benötige? Geht! Das gilt für Euch beide«, verkündete Helena, und ehe sie es sich versah, fand sich Judith auf dem Gang mit dem vorlauten Walther wieder, dessen Ankunft das bisschen guten Willen der Herzogin in Luft hatte aufgehen lassen.

»Graf Otto, wie?«, fragte Walther scharf. »Wenn der Euer Gönner ist, dann weiß ich nicht, warum Ihr der Herzogin das Märchen von der Magistra aufgetischt habt.«

Ihr Vater war noch genauso gefährdet wie vorher, und sie hatte einen Laffen am Hals, der ein gehöriges Maß Schuld an dem Rausschmiss trug und sich dazu noch in anzüglichen Bemerkungen gefiel. Judith gab ihrem dringenden Wunsch nach, holte aus und schlug ihm ins Gesicht.

Das Spiel der Nachtigall
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