Kapitel 4
Es war alles ihre Schuld. Walther hatte geplant, die Herzogin erst ein wenig aufzuheitern und dann das Gespräch auf ihre Söhne zu lenken: was für ein Trost Leopold sein musste, wie stolz sie auf Friedrich sein konnte, etwas in der Art. Durch ihre Reaktionen wäre ihm bestimmt klargeworden, ob sie derzeit auf einen von beiden schlecht und auf den anderen besonders gut zu sprechen war. Der Klatsch, der ihm bekannt war, wusste nichts von einer Bevorzugung, doch Walther hatte auch nie sehr darauf geachtet. Reinmar, der sie nur als seine Muse auserkoren hatte, weil es üblich war, seine Lieder der höchsten Dame bei Hofe zu widmen, verbrachte viel lieber Zeit mit ihrem Gemahl und hatte über die Herzogin kaum mehr gesagt, als dass sie schön und edel sei, was so aufregend wie ein gefrorener See klang und daher nie Walthers Neugier geweckt hatte.
Aber eine Bestätigung für seine Vermutung aus berufenem Munde hatte ihm die kleine Furie verdorben, die ihm grundlos mit der Kraft einer Waschfrau ins Gesicht schlug, was seinen Kopf zur Seite riss und seine Haut brennen ließ. Zum Glück trug sie keine Ringe, sonst hätte sie ihm die Lippe aufgerissen.
»Das nenne ich die Hand einer Heilerin«, sagte er spöttisch, weil es ihm unmöglich war, zurückzuschlagen, und Worte ohnehin seine liebsten Waffen darstellten.
»Das könnt Ihr auch«, gab sie zurück, nicht im mindesten beschämt, sondern genauso beißend wie er. »Manchmal ist es nötig, zuzuschlagen, um das Blut in Wallung zu bringen. Selbst bei Säuglingen.«
»Bei Säuglingen sollten Frauen das den Hebammen überlassen und es bei Männern mit geschickter Hand tun, so dass alles wächst, was sie anfassen. Ist das nicht ihre wahre Bestimmung?«
»Da habt Ihr recht, doch gibt es auch die hoffnungslosen Fälle, mit denen die Natur sich jenen kleinen Scherz erlaubt hat, bei dem selbst geschickte Hände nichts mehr nützen. Sicher wollt Ihr mir darüber auch noch mehr erzählen?«
Was die hohe Kunst des Beleidigens betraf, so war sie nicht schlecht. In Gegenwart der Herzogin war sie ihm erst aufgefallen, als sie den Mund aufgemacht hatte. Anders als die üppigen Schönheiten, die er schätzte und die ihre weiblichen Reize gerne zur Geltung brachten, trug sie ein formloses Gewand, und er war unwillkürlich davon ausgegangen, dass sie das Verstecken nötig hatte. Jetzt, da er sie aus der Nähe sah, bemerkte er, dass sie zwar kein sanftmütiges Gesicht besaß, aber doch ein erstaunlich fesselndes: eine hohe Stirn, große braune Augen, die im Moment sehr zornig blitzten, und eine Nase, die ein klein wenig zur Stupsnase neigte, was zu den starken Wangenknochen einen interessanten Kontrast ergab. Ihre Augenbrauen waren gerade und dicht, nicht gewölbt und gezupft, aber das störte ihn nicht. Soweit sich bei dem unkleidsamen Kittel etwas erkennen ließ, war sie von Gott wohlwollend ausgestattet worden. Leider gingen all diese Annehmlichkeiten wie auch der großzügig geschwungene Mund mit einer bösartigen Zunge einher, und er war nicht so um weibliche Gesellschaft verlegen, dass er sich um einen wandelnden Igel bemühen musste. Außerdem hatte er Wichtigeres zu tun.
»Erst ein Huhn und nun ein Säugling?«, fragte Walther. »Wenn Ihr so weitermacht, vergleicht Ihr mich demnächst noch mit etwas, das wirklich unangenehme Töne von sich gibt, wie einem zänkischen Weib beispielsweise.«
»Ich würde Euch niemals die Ehre antun, Euch ein Weib zu heißen. Dazu müsstet Ihr erst ein Mensch sein«, sagte sie und wandte sich ab. Mit einem Mal wirkte sie erschöpft und traurig. Ihm fiel ein, wie sie vor der Herzogin gekniet hatte. Am Ende war die Verzweiflung in ihrer Stimme nicht gespielt gewesen, sondern echt?
Sie standen direkt neben einer brennenden Fackel in einer Wandhalterung, und das Licht ließ die dunklen Wimpern Schatten unter ihre Augen malen. Frauen, stellte Walther fest, hatten die höchst hinterlistige Gabe, einem Mann durch das bloße Neigen des Kopfes und mit einer betrübten Miene das Gefühl zu geben, zum Nothelfer berufen zu sein. Auch ihn beschlich das Gefühl, irgendetwas wiedergutmachen zu müssen, so unsinnig es auch war.
»Ihr braucht Euch keine Sorgen wegen des Grafen Otto zu machen«, hörte er sich sagen. »Er wird bald zurück an den Hof seines Onkels verschwinden, und keiner von uns wird ihn je wiedersehen. Wenn er mal wieder mehr Dienerschaft und ein größeres Gemach haben wollte, hat er stets damit geprahlt, dass ihn König Richard zu seinem Nachfolger machen wird. Geisel im Fürstenstand zu sein, das ist doch ein Leben! Wie eine Made im Speck. Nun, es wäre eines für meine Wenigkeit, doch Graf Otto wird einen Thron in England vorziehen. Sobald die Wege wieder frei sind, wird er so schnell aus Österreich verschwinden, dass wir nicht einmal eine Staubwolke hinter ihm sehen werden, und er wird jeden vergessen haben, dem er in seiner gastlichen Wohnstätte begegnete, ob Ärzte, Diener oder Reisende aus Köln.«
Die Schatten wichen nicht aus ihrem Gesicht, im Gegenteil. »Das ist zu spät«, murmelte sie. »Wenn es Eurem Herzog wirklich so schlechtgeht, wie jeder behauptet, dann hat er eine Blutvergiftung. Wenn die in den Torso dringt, bleiben ihm nur noch Tage, vielleicht sogar Stunden, und dann wird man nach Schuldigen suchen.« Sie schüttelte den Kopf. »Mein Vater hat es mir prophezeit, aber ich wollte nicht hören. Ich dachte nur daran, dass er den Ruhm ernten könnte, dem Herzog von Österreich das Leben gerettet zu haben.«
»Der neue Medicus ist Euer Vater?«, fragte Walther, dem mit einem Mal vieles klarwurde. »Dann macht Euch trotzdem keine Sorgen. Belohnen wird man ihn zwar sicher nicht, aber wegen mangelnder Erfolge ist noch kein Arzt umgebracht worden. Im Übrigen wird der Hof hier mit ganz anderen Dingen beschäftigt sein.« Wie der Nachfolge, dachte er.
»Wie dem englischen Silber?«, fragte sie. Walther fiel für einen Moment das Kinn herunter. Sie drehte sich gerade noch rechtzeitig zu ihm, um es zu bemerken, und mit einem Mal wirkte sie nicht traurig, sondern sehr, sehr wachsam. Sie beobachteten sich beide stumm.
Gerade, als er nachgeben und als Erster Fragen stellen wollte, was sie von dem englischen Silber wusste, eilte eine Schar von Mägden und Hofdamen den Gang entlang auf das Gemach der Herzogin zu. Zwei von ihnen trugen einen Bronzetopf. Als sie Judith erblickten, zwitscherten sie: »Es hat etwas gedauert, um Andorn zu finden, aber es ist uns gelungen. Wir haben den Trank so bereitet, wie Ihr es gesagt habt.«
»Und der Honig?«, fragte Judith so sachlich, wie Mathilde die Wirtin nach dem Verbleib der Zeche zu fragen pflegte.
»Gewöhnlich ist nach dem Weihnachtsfest kaum noch welcher da«, entgegnete eine der Mägde, »aber in diesem Jahr gab es weniger Gastmähler.«
»Gut«, sagte Judith. »Dann bringt den Trank der Herzogin. Wenn sie ihn denn noch haben will.«
Die Magd, mit der sie gesprochen hatte, nieste, was sofort Husten und noch mehr Niesen bei den anderen nach sich zog. »Da braucht Ihr Euch keine Sorgen zu machen.« Die Schar verschwand in Richtung des herzoglichen Gemachs.
»Das war ein Heiltrank«, schlussfolgerte Walther.
Sie warf ihm einen gereizten Blick zu. »Glaubt Ihr etwa, in Salerno werden Studenten angenommen, die unwissend sind? Ich mag noch keine Magistra sein, aber mein Vater war mein Lehrer, und solche Kräutertränke sind wirklich das Einfachste, was er mich gelehrt hat.«
Traurig hatte sie ihm besser gefallen als jetzt in ihrem neu entflammten Zorn. »Um ehrlich zu sein, habe ich nie an die Geschichte von den weisen Frauen von Salerno geglaubt«, gab er zurück. »Ich hielt es immer für ein Gerücht, das Ärzte in die Welt gesetzt hatten, um offen mit ihren Konkubinen leben zu können.« Als sich ihr Gesicht weiter verdunkelte, dachte er an das englische Silber und fügte schnell hinzu: »Das war ein Scherz, um Gottes willen. Aber mir ist in meinem Leben noch keine Magistra begegnet, und ich bin nun einmal ein Mensch, der nicht alles glaubt, was man ihm erzählt, auch wenn es schöne Geschichten sind, wie die von Einhörnern. Denen bin ich auch noch nicht begegnet.«
»Die Schule von Salerno ist kein Einhorn«, sagte sie mit einer Miene, die hätte töten können. »Sie besteht seit über zweihundert Jahren.«
Diesem herablassenden Tonfall konnte er nicht widerstehen. »Ja, und sie wurde angeblich von zwei Christen, einem Juden und einem Araber gegründet. Das hört sich so unendlich wahrscheinlicher als die Geschichte von dem Einhorn an …«
»Was soll bitte daran unwahrscheinlich sein?«, fragte sie erbost.
»Geht ins Heilige Land und fragt. Warum um alles in der Welt sollten Christen von Juden und Moslems lernen wollen?«
»Weil Euer eigenes medizinisches Wissen so unendlich beschränkt ist!« Sie funkelte ihn verächtlich an. »Warum sollte sich also eine Jüdin die Mühe machen, mit Euch zu reden? Gehabt Euch wohl, Herr Walther von der Vogelwiese.«
Er sah ihr erstaunt hinterher. Walther war noch nie einer Jüdin begegnet, jedenfalls nicht wissentlich. Müsste sie nicht anders aussehen? Ihre Haut war nicht dunkler als die seine. Den Augenbrauen nach zu schließen, war ihr Haar dunkelrot; nun, das war das von Judas bei den Passionsspielen auch, aber trotzdem hatte er sich Juden immer dunkelhaarig vorgestellt. Das Kind in ihm, das Predigten über die Gottesmörder gehört hatte, schauderte unwillkürlich. Aber er war kein Kind mehr, und was sie auch sonst sein mochte, sie war eine Frau, die um ihren Vater fürchtete und die man nicht alleine lassen konnte.
Außerdem musste sie irgendetwas von dem englischen Silber wissen, nach ihrer Bemerkung vorhin …
Er lief ihr nach, stellte sich ihr in den Weg und schenkte ihr ein zaghaftes Lächeln. »Wenn Ihr mich beschimpft, dann tut es wenigstens mit meinem richtigen Namen: Meine Vögel nisten auf einer Weide, nicht in einer Wiese. Und wenn Ihr Euren Vater sucht, dann seid Ihr in die falsche Richtung unterwegs.«
* * *
Das einzig Vernünftige wäre, ihn zum Teufel zu schicken, dachte Judith. Doch sie wusste wirklich nicht, wo sich die Räume des Herzogs befanden, und sie bezweifelte, diese im Wirrwarr der Gänge zu finden. Bei dem Pech, das sie heute verfolgte, würde sie am Ende erneut diesem Otto in die Hände laufen, was sie unter allen Umständen vermeiden wollte. So war ein christlicher Dichter – selbst einer mit dem Talent, in jeden zweiten Satz erzürnende Dinge zu packen – die bessere Wahl; zumindest konnte er ihr den Weg zeigen. Sie wusste auch noch nicht, was sie tun sollte, wenn sie ihren Vater erst gefunden hatte. So schnell wie möglich zu verschwinden, würde ihren Vater erst recht verdächtig machen, und es wäre für die Leute des Herzogs ein Leichtes, sie zu finden. Immerhin hatte Salomon sie laut und deutlich als seine Verwandten vorgestellt. Und selbst wenn sie sofort Packesel auftrieben und aufbrachen, würden sie bei all den verschneiten Wegen und Pässen kaum weit kommen, ehe man sie einholte.
»Ich dachte, wir sind uns einig, dass Ihr ein blindes Huhn seid«, sagte sie, weil er sich nicht einbilden sollte, dass sie nach all den Beleidigungen erfreut über seine Begleitung war. Er grinste. Sie musste zugeben, dass sein Lächeln die höchst unangebrachte Wirkung hatte, ihn weniger als einen ohrfeigenwürdigen Laffen und mehr wie einen unreifen Jungen aussehen zu lassen. Nein, eher wie jemanden, dessen Lächeln man erwidern musste, was vielleicht auch daran lag, dass er über sich selbst lachen konnte, und das hatte sie nur sehr selten erlebt.
»Nicht doch«, gab er zurück. »Ich bin ein Wanderfalke. Auf meine Augen und meinen Richtungssinn ist immer Verlass.«
»Und ich dachte, Falken näht man die Augen zu, damit sie nicht fortfliegen«, murmelte sie, doch sie nahm seinen Arm, als er ihn ihr bot.
Man merkte, dass der Hofstaat des Herzogs schon länger in diesem Gebäude lebte; sie konnte den Urin in vielen Ecken riechen, wo sich Menschen erleichtert hatten, statt es draußen im Schnee zu tun. Aber die Mauern waren aus Stein, nicht aus Holz, und die Wandbehänge so dick und gut gewebt, dass es trotzdem wärmer war als in Vetter Salomons reinlicherem Haus.
»Wie steht die Herzogin zu Graf Otto?«, fragte sie, um seine Gutwilligkeit zu erproben.
»Nun, sie hat keine Töchter, die sie mit ihm verheiraten könnte. Außerdem glaube ich nicht, dass unser Herzog je mit den Welfen verbündet war. Er war immer auf der Seite der Staufer. Schließlich hat er sogar seinen ältesten Sohn nach dem alten Kaiser Friedrich genannt.« Walther hielt inne und verschluckte sich. Sie klopfte ihm auf den Rücken, als er hustete, ohne darüber nachzudenken. »Seht Ihr, ich habe Euch gesagt, dass meine Hände von Nutzen sind.«
»O mein Gott. Natürlich! Jetzt wird mir alles klar. Wie konnte ich nur die Zusammenhänge übersehen!«
»Und was ist das?«
Er betrachtete sie nachdenklich. »Ihr wisst nicht zufällig, wo das englische Silber steckt, hmm?«
»Ich kann es mir denken«, gab sie zurück, was keine Lüge war. »Und ich weiß, wer bestätigen kann, was ich vermute.«
»Ich bin mir nur nicht sicher, ob diese Auskunft meine Auskunft wert ist«, sinnierte er laut, und sie wusste nicht, ob sein Tonfall ein neckender oder herausfordernder war, ob er einen Handel anbot oder ablehnte. Vielleicht war, was auch immer ihm gerade klargeworden war, auch nur eine läppische Hofintrige, die ihr und ihrem Vater nicht helfen würde? Doch wenn man in unsicherem Wasser schwamm, konnte man kein noch so dünnes Tau ignorieren, das einem gezeigt wurde.
Wenn man einen Patienten dazu bringen wollte, über den Hergang seiner Krankheit zu sprechen und auch Dinge zu erzählen, die er lieber für sich behalten wollte, half es dem Arzt, so zu tun, als wisse er bereits das Wesentliche, das hatte ihr Vater Judith gelehrt. Gebrauche deinen Verstand, hatte er ihr eingeschärft, deine Beobachtungsgabe und alles, was du über die Menschen weißt.
Ihre Frage nach der Herzogin hatte Walther auf den richtigen Gedankengang gebracht. Von der Herzogin war er auf den Herzog gekommen, und dann … Judith dachte an das, was ihr vorhin aufgefallen war. »Wenn der Herzog stirbt, wird die Herzogin vielleicht trauern, aber sie wird nicht bedauern, dass er tot ist«, sagte sie langsam.
Walthers Augen weiteten sich. »Nein«, gab er zurück. »Nein, ich glaube, das wird sie nicht.« Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und schien eine Entscheidung für sich zu treffen. »Irgendwann im vorletzten Monat, auf dem Hoftag in Gelnhausen, muss der Herzog erfahren haben, dass sein Sohn Friedrich …«
Weiter kam er nicht, denn aus der Richtung, in der sie gingen, drang lautes Wehgeschrei aus vielen Kehlen. Judith brauchte keine Übersetzung: Es konnte nur einen Grund dafür geben. »Der Herzog ist tot«, sagte sie tonlos, und an Walthers grimmigem Schweigen erkannte sie, dass sie recht hatte.
Der Anblick, der sich ihnen bot, war genau so, wie Judith befürchtet hatte. Zwischen den klagenden und betenden Höflingen und Dienern, den beiden hohen Herren, die auf einen Mann im Bischofsgewand einsprachen und wohl die Söhne des Toten waren, hatte einer der anderen Ärzte bereits begonnen, laut zu lamentieren, dass nichts anderes zu erwarten war, wenn man einen Juden hinzuziehe, der nichts von einer ungünstigen Konstellation von Saturn und Jupiter zum Mars verstünde. Judiths Vater stand mit dem Rücken zu ihr, doch sie hörte ihn klar und deutlich sagen: »Nein, es war nichts anderes zu erwarten bei einem Wundbrand, der so schlecht behandelt wurde. Ihr hättet den Knochen in den Stumpf hinein abtrennen und die Haut darüber schließen müssen, aber nach dem, was ich hier sehe, wurde abgestorbenes Gewebe am Stumpf gelassen.«
»Das ist eine Verleumdung! Wir haben alles getan, was uns möglich war, und Gott hätte es gewiss gefallen, den Herzog wieder genesen zu lassen, bis Ihr gekommen seid mit Eurem jüdischen Hokuspokus! Wann hätte je ein Jude einem Christenmenschen etwas Gutes getan?« Der Jüngere der beiden Edelmänner schaute auf: »Ich war von Anfang an dagegen, den Juden hier hereinzulassen«, sagte er, und seine Stimme überschlug sich.
Erst als Walther leise bat, sie möge ihn gehen lassen, wurde Judith bewusst, dass sich ihre Finger um sein Handgelenk verkrampft hatten. »Mein Vetter Salomon weiß, was aus dem Silber geworden ist«, flüsterte sie, »aber wenn meinem Vater etwas geschieht …« Sie beendete den Satz nicht. Es war ohnehin ein dummes Druckmittel. Natürlich würde Salomon den Söhnen des Herzogs erklären, was geschehen war, ganz gleich, ob ihr Vater dabei im Kerker oder in seinem Lehnstuhl daheimsaß; sie waren seine Herren. Und welchen Grund sollte Walther haben, ihr zu helfen? Resignierend löste sie ihre Finger von seinem Arm.
»Wünscht mir einen guten Flug«, flüsterte er und drückte ihr seine Laute in die Hand, dann bahnte er sich durch die Trauernden, die mehr und mehr zu angriffslustigen Streitenden wurden, den Weg zum Älteren der Herzogssöhne.
* * *
Sich zu räuspern genügte nicht; Walther musste sich grob an Bischof Wolfger vorbeiquetschen, um sicherzustellen, dass ihn Friedrich bemerkte.
»Herr«, begann er, »ich beklage Euren Verlust, doch Seine Gnaden der Herzog ist nun von seinen Leiden erlöst.«
Friedrich runzelte die Stirn ob der Aufdringlichkeit. »Ihr hättet Euer Beileid auch später aussprechen können, Herr Walther.«
»Nein«, entgegnete er und meinte, das Blut in seinen Ohren rauschen zu hören; jetzt kam es darauf an. »Ihr wisst ja, wie die Muse der Dichtkunst ist; sie beflügelt uns und lässt uns keine Ruhe, bis wir verkünden, was sie uns aufgetragen hat.«
»Später«, sagte Friedrich ungehalten. »Jetzt kann ich Eure Verse kaum willkommen heißen.«
Aus den Augenwinkeln sah Walther, dass Leopold auf den jüdischen Arzt einredete. Für Schmeicheleien und subtile Versuche, Friedrich zur Seite zu ziehen, blieb keine Zeit.
»Das solltet Ihr aber, Euer Gnaden. Ihr solltet mich willkommen heißen, denn der, der Euch Neues, Wichtiges zur Kenntnis bringt, der bin ich.« Dieses Eindringen in die Trauer, diese Unverschämtheit der Familie gegenüber ließ nun auch den Bischof empört starren. In Friedrichs Augen flackerte etwas. Er hob eine Hand – doch er schlug nicht zu, und er winkte auch keinem Diener, um Walther aus dem Raum zu werfen.
»Dann lasst uns vor die Tür gehen. Das Totenbett meines Vaters ist kein Ort für eitles Geschwätz.«
Walther spürte, wie sich der Blick des Bischofs in seinen Rücken bohrte. Doch selbst wenn Wolfger neugierig war oder gar von seinem Sohn erfahren hatte, wer ihn in den letzten Tagen zum redseligen Zechen verleitet hatte, konnte der Würdenträger jetzt nichts unternehmen.
Im Vorzimmer, das völlig leer war, weil alle Knappen und Höflinge in das Schlafgemach geeilt waren, packte Friedrich Walther bei den Schultern und stieß ihn gegen die Wand. »Ich hoffe, Ihr habt einen besseren Grund, mich in diesem Moment zu belästigen, als Eure Stellung hier bei Hofe!«
»Den habe ich.« Walthers Stimme klang belegt. Von einem Mann an eine Mauer gepresst zu werden, der seit früher Kindheit Kettenhemden und geschmiedetes Eisen trug und gelernt hatte, das Schwert zu führen, während Walther nichts Schwereres als Lauten und Fiedeln stemmte, war mehr als einschüchternd. »Ich will Euch eine Sage erzählen, Herr Friedrich, eine Geschichte aus alter Zeit …«
»Bube!«
»… die immer wieder neu ist. Glaubt mir, Ihr wollt sie hören. Dann mag sie zurück in den Schoß der Zeiten versinken.«
Friedrich ließ ihn los. »Nun denn«, knurrte er.
»Vor langer Zeit, da lebte im Reich eines Kaisers, der sein Auge auf den gesamten Erdkreis geworfen hatte, ein tapferer Herzog namens … Joringel. Er war ein treuer Weggefährte des Kaisers, und er hatte eine schöne Gemahlin namens Jorinde. Weil der Kaiser berühmt dafür war, sich selbst dem Papst zu widersetzen, wenn er etwas haben wollte, und es für ihn nichts gab, was sich nicht erobern ließ, da muss es wohl eine Stunde gegeben haben, in der die Dame Jorinde seinen Huldigungen nachgab. Was hätte sie auch tun sollen, war doch der Kaiser der oberste Lehnsherr ihres Gemahls und damit auch ihrer? Der Herzog entdeckte nichts, und auch die Dame bewahrte das Geheimnis.« Walther holte kurz Atem. »Der Kaiser hatte acht Söhne, doch starben mehr und mehr. Niemand wusste, warum Gott ihn so strafte. Vielleicht lag es daran, dass er noch einen weiteren Sohn hatte, einen, den er nicht anerkennen konnte, ohne sich als falscher Freund seines Waffengefährten zu erweisen. Das ging so lange, bis der Kaiser schließlich starb und sein ältester Sohn ihm auf den Thron folgte.«
Friedrichs Gesicht war versteinert. »Weiter.«
»Es kam jedoch eine Zeit des Unglücks für den Herzog Joringel, und als seien der Schicksalsschläge nicht genug, erfuhr er auch jenes alte Geheimnis. Was sollte er tun? Niemals hatte sein ältester Sohn ihm Grund zur Klage gegeben; ihn offen einen Bastard zu nennen, hätte Joringel überdies dem allgemeinen Spott preisgegeben. Außerdem hätte ihm das der neue, junge Kaiser übelgenommen, und Joringel brauchte den einzigen Verbündeten, der auch Einfluss auf den Papst nehmen konnte. Also beschloss er, mit der kaiserlichen Erlaubnis, das Herzogtum zu teilen, in Österreich und in die Steiermark, um sicherzustellen, dass etwas davon von seinem eigenen Fleisch und Blut regiert wurde. Außerdem hatte der edle Ritter, der sich für seinen älteren Sohn hielt, einen Kreuzzug gelobt. Was konnte dabei nicht alles geschehen! Da Joringel nicht mehr allein auf den Willen Gottes vertraute, schrieb er außerdem seinen Verwandten im fernen Byzanz, wohin jeder Kreuzfahrer zuerst seine Schritte wendet, wichtige Briefe über Vergangenheit und Zukunft. Er bestand darauf, sie trotz großer Schmerzen zu diktieren, in einer Sprache, die außer seinem Priester keinem Menschen an seinem Hof bekannt war. Doch Gott kennt alle Sprachen, und er hielt die Zeit für gekommen, um Joringels Qualen zu beenden und ihn zu sich zu nehmen.« Aus dem Gemach des Herzogs konnte Walther unheilvoll klingendes Gezänk hören. Er verbot sich, ihm zu lauschen; jetzt kam es darauf an, jede Regung Friedrichs zu beobachten.
»Und Jorinde?«, fragte dieser. Eine Ader pochte an seiner Schläfe und schwoll an, doch darüber hinaus hätte er eine Statue in der Kirche sein können.
»Jorinde war vor allem eine Mutter. Sie blieb dem Krankenbett ihres Gemahls fern, da sie nicht Gefahr laufen wollte, dass er in seinem Schmerz das Geheimnis ihres älteren Sohnes der ganzen Welt enthüllte, wenn er in ihr Antlitz schaute. Was dann geschah, davon weiß die Sage nichts.«
»Tut sie das nicht?«, sagte Friedrich tonlos. »Wie seltsam. Mir ist es, als ob da noch etwas über Jorindes Sohn vorkommen könnte, wie er in seinem Schmerz ob solcher Entdeckungen einem Vogel den Hals umdreht, um seine Stimme nicht mehr zu hören.« Seine Augen waren sehr, sehr kalt.
»Das würde Jorindinar nie tun«, sagte Walther. »Er ist ein edler Herr, der, gewarnt von dem aufmerksamen Vogel und gewappnet gegen alle Tücke, aus den Sünden der Vergangenheit das Heil der Zukunft gewinnen kann. Zumal die Vogelstimme nicht das Einzige ist, was ihm Glück verheißt. Der liebliche Klang von Silber tut desgleichen. Denn wisst, dass der Heilige Vater, als er den jungen Kaiser um Silber bat, von diesem hörte, es sei für die Rüstung eines neuen Kreuzzugs verwendet worden, und damit zufrieden war, was ein ehrwürdiger Bischof bezeugen kann. Da ist es schlechterdings unmöglich, die gleiche Entschuldigung nicht auch vom jungen Herzog anzunehmen, den der Kreuzzug ebenfalls nicht billig kommen wird.«
In Friedrichs Gesicht zuckte es. »Dieser Teil der Geschichte gefällt mir besser«, sagte er, doch seine Stimme klang immer noch rauh. »Warum aber sollte Jorindinar dem Vogel nicht trotzdem den Hals umdrehen?«
Walther spürte den Schweiß seinen Rücken hinunterrinnen und das harte Mauerwerk durch den Wandbehang hinter sich. »Weil ein Mann in seinem Schmerz niemals alle Vögel erwischt. Wenn einer entwischt, von dem er nichts weiß, und die Geschichte von Jorinde, Joringel und Jorindinar überall im Reich herumzwitschert, dann wäre das wahrlich ein schlechtes Ende für diese Erzählung. Nein, da gefällt mir ein anderes doch viel besser: In dem hat jeder Vogel sein Nest, in dem er zufrieden das Lob seines Herrn singt und ihn vor weiterem Unbill des Schicksals warnt, sollten sich solche Gelegenheiten bieten. Schließlich hat er bewiesen, was für scharfe Augen er hat. Außerdem ist das Geheimnis um das Silber noch nicht gelöst, obwohl sich auch dafür die Lösung abzeichnet.«
Wieder war in dem Schweigen zwischen ihnen der Lärm von nebenan zu hören und Walthers eigener Atem. Dann hob Friedrich eine Augenbraue. »Meint Ihr denn, dass so ein Vogel wirklich nicht mehr als das Nest will, das ihm ohnehin versprochen wurde?«
»Das, und ein glückliches Ende für alles andere Gefieder«, entgegnete Walther mit trockenem Mund. »Sogar die armen Krähen, die Joringel in seinen letzten Stunden umkreisten. Alle von ihnen, denn sie wollten nur helfen, so hässlich sie auch aussehen in ihrem schwarzen Gefieder. Jorindinar ist ein so edler Ritter, dass er jeden Einzelnen von ihnen in Frieden fortschickt, ohne Ausnahme. Das ist das richtige Ende.«