Kapitel 29

Eines steht fest«, sagte Judith zu Gilles, als sie weit genug entfernt waren, um die Pferde wieder etwas ruhiger traben zu lassen, »ich muss so schnell wie möglich mit der Königin sprechen.«

Gilles zögerte. »Und was, wenn … wenn es sie nicht kümmert?« Judith schaute ihn an. »Du kennst sie«, sagte er hastig. »Ich habe sie nur aus der Ferne gesehen. Aber wenn sie dich als Ärztin brauchte, dann hätte sie dich nicht nach Braunschweig gehen lassen, oder? Und vielleicht kümmert es sie auch nicht, was aus jemandem wird, den sie nicht braucht? Sie ist eine Fürstin. Fürsten sind … anders.«

Die Zweifel, die sie selbst plagten, halfen bei solchen Gedankengängen ganz und gar nicht. »Es geht nicht nur um mich. Was auch immer dieser Botho vorhat, er hat nicht von mir bekommen, was er wissen wollte. Wahrscheinlich lässt er seinen Groll darüber jetzt an Walther aus.«

»Du glaubst nicht, dass er sich zu verteidigen weiß, er und sein Freund?«

»Für eine kurze Weile vielleicht«, gab Judith zurück, »aber wenn sie hier in Bamberg ankommen, dann ist Botho der Neffe des Reichshofmarschalls, Walther mit etwas Glück ein beliebter Sänger, der aber ersetzbar wäre. Das ist nicht Schutz genug, vor allem, wenn er Botho noch wütender gemacht hat, und Walther ist so gut darin, Menschen wütend zu machen.«

Gilles klopfte seiner Mähre beruhigend auf den Hals. »Sprich für dich selbst«, sagte er neckend zu Judith. »Mich hat er noch nie wütend gemacht.«

»Du bist auch ein ausgesprochen geduldiger Mensch«, gab sie mit einem kleinen Lächeln zurück, dann wurde sie wieder ernst. »Gilles, es ist mir bitterernst. Ich muss erreichen, dass die Königin mit den Reichshofmarschall spricht. Wenn Botho auf jemanden hört, dann auf ihn. Und Heinz von Kalden wiederum hat nur den König und die Königin über sich.«

»Dann werde ich auf unserem Weg zurückkehren, um Walther und Markwart abzufangen, sobald klar ist, wo der König in Bamberg residiert, und wir wissen, ob du vorgelassen wirst«, fügte er hinzu, und wenn sie nicht auf zwei verschiedenen Pferden gesessen hätten, dann hätte sie ihn umarmt.

Bamberg stellte sich als Stadt auf mehreren Hügeln heraus. Bereits aus der Ferne konnte Judith eine Burg ausmachen, doch wie sich bereits bei der Stadtwache herausstellte, war Philipp nicht dort, sondern in der kaiserlichen Pfalz neben dem Dom zu Gast. Wegen all der Edlen, die ihm hierher gefolgt waren, und deren Gesinde war die Stadt bis zum Bersten gefüllt; Judith und Gilles stiegen bald ab und führten ihre Pferde zu Fuß durch die Straßen.

Die engen verschachtelten Gassen erinnerten Judith an Teile Kölns, und sie fühlte plötzlich einen Kloß in der Kehle, als ihr bewusst wurde, dass sie ihre Heimatstadt wohl nicht wiedersehen würde. Seltsam: Während der zwei Jahre in Salerno hatte sie kein Heimweh gehabt; damals waren ihre Erinnerungen an Köln überwiegend gute gewesen. Jetzt mischten sich der Ärger und die Enttäuschung über Stefan mit der Erinnerung an den Tod von Richildis und der Magd, die man auch wegen Judiths Versagen hingerichtet hatte. Und doch erschien es auf einmal wie eine nicht verheilte Wunde, dass sie Köln nie wiedersehen sollte. Wenn Otto besiegt ist, sagte Judith sich, dann vielleicht.

Vorerst musste sie jedoch herausfinden, ob sie hier am rechten Platz war, und Irene dazu bringen, Walther und ihr gegen diesen Botho zu helfen. Bereits auf dem Weg den Domberg hoch passierten sie immer wieder Wachen, die sie fragten, was für ein Geschäft sie hierherführte, und darauf hinwiesen, dass es in der Kaiserpfalz ganz gewiss keinen Platz mehr gebe.

»Die Königin erwartet mich«, sagte Judith, was immerhin halbwegs der Wahrheit entsprach, denn Irene und Philipp erhofften bestimmt baldmöglichst einen Bericht über den Pfalzgrafen und dessen Willen, die Seiten zu wechseln und seinen Bruder zu verraten. Ihre Erklärung wurde mit Misstrauen aufgenommen, bis sie Irenes Ring zeigte, was die Wache überzeugte. Auf diese Weise gelangte sie auf den Platz, wo Dom und Pfalz nebeneinanderstanden. Der Dom war von Baugerüsten umgeben und musste, so hörte sie von dem Kriegsknecht, der sie begleitete, nach einem Brand wieder aufgebaut werden, was noch eine Weile dauern würde.

»Sie hoffen hier auf neue Gelder«, fügte er hinzu, »vor allem, wenn sie demnächst eine Heilige in ihrer Gruft haben.«

Gilles legte Judith eine Hand auf die Schulter, und sie verabschiedete sich durch einen Kuss auf seine Wange von ihm. Im Stall der Pfalz war wirklich kein Platz mehr für ein weiteres Pferd. Sie opferte eine Kupfermünze, damit einer der Knechte das ihre zumindest tränkte und abrieb, bis sie mit der Königin gesprochen hatte.

Der geräumige Innenhof war gepflastert, was Judith nicht erwartet hatte, und sie brauchte nicht lange, um zu erkennen, wo man Irene untergebracht haben musste: auf der südlichen Seite, wo die Pfalz an die Domherrenhöfe grenzte. Während Judith zwei Treppen aus festem, stämmigem Eichenholz erklomm, hörte sie um sich die Betriebsamkeit vieler Menschen und dachte mit einem Anflug dunklen Humors, dass die Markgräfin Jutta es in Würzburg fürwahr besser getroffen hatte; die Feste war deutlich geräumiger gewesen. Aber Philipp hatte seine Gründe, hier abzusteigen und nicht in der Burg, welche die Stadt überragte: »Der König will zeigen, wie nahe er Gott ist«, hatte der Kriegsknecht vermutet. Judith wurde so daran erinnert, dass Philipp womöglich bereits gebannt war. Natürlich wollte er diesem Eindruck etwas entgegensetzen.

Das Erste, was sie registrierte, als sie vor der Königin stand, war, dass Irene erneut schwanger sein musste. Das Zweite, dass sie ein sternenbesticktes Brokatgewand trug, das ihr in diesem Zustand zu schwer sein dürfte; unwillkürlich öffnete Judith den Mund und sagte genau das.

»Ihr habt Euch nicht verändert, Magistra«, entgegnete Irene und lachte. »In Byzanz musste ich weit schwerere Gewänder und noch mehr Schmuck tragen, als ich weitaus kleiner und schwächer war als jetzt. Aber ganz unrecht habt Ihr trotzdem nicht. Es ist nur so, dass wir hier eine Kaiserin ehren wollen, die zur Heiligen erhoben wird – da dachte ich, es wäre gut, so kaiserlich wie möglich auszusehen, selbst wenn ich derzeit nur eine bald gebannte Königin bin.« Sie winkte Judith, näher zu kommen, und senkte die Stimme. »Wenn Philipp und ich so dem heiligen Herrscherpaar ähneln, das man hier verehrt, dann denkt man bei unserem Anblick weniger daran, dass der Papst ihn Eidbrecher und unwürdig genannt hat, das ist der Grund.«

»Dann bleibt der Bamberger Erzbischof weiter an Eurer Seite?«

»Mit seiner Gesundheit steht es nicht zum Besten, aber er will seine Bistumsgründerin als Heilige sehen, ehe er stirbt«, sagte Irene. »Natürlich liegt es am Papst, sie zur Heiligen zu erklären, doch Philipp ist derjenige, der für einen Schrein bezahlt und sie als Erster verehren wird. Ich glaube, der Erzbischof bleibt uns.«

»Und Ihr gewinnt den Pfalzgrafen Heinrich von Braunschweig«, sagte Judith, was ihr ein Strahlen und eine stürmische Umarmung einbrachte. Während sie das Zedernöl in Irenes Haar und auf ihrer Haut roch, das für die Königin aus ihrer Heimat gebracht wurde, und den kleinen, festen Körper mit der noch zarten Wölbung an dem ihren spürte, entschied Judith, dass Irene nun glücklich und gelöst genug war, um ihre Bitte vorzubringen.

»Euer Gnaden«, sagte sie und löste sich von der Königin, »ich wäre um ein Haar gar nicht aus Braunschweig fortgekommen, um Euch diese gute Nachricht zu überbringen, wenn nicht der Sänger Walther von der Vogelweide erschienen wäre, um meinem Gemahl und mir das Leben zu retten.« Das war nur eine leichte Verbiegung der Tatsachen, die gerechtfertigt war. Schließlich war Walther nach eigenem Bekunden ursprünglich erschienen, um sie zu retten, wenn es am Ende dann auch um Gilles gegangen war. Wenn Irene aus der Formulierung ihrer Worte etwas anderes schloss, war das nicht Judiths Schuld.

»Wirklich?«, fragte die junge Königin bestürzt. »Er hat so dringend nach Euch gefragt, als er in der Hagenauer Pfalz vorsprach, dass … nun, um offen zu sein, ich dachte, er würde Euch in Gefahr bringen, wenn ich ihm verriete, wo Ihr Euch befandet, nicht Euch erretten. Und ganz gewiss nicht Euren Gemahl. Wie hat er es denn herausgefunden, wo Ihr wart?«

Lucia hatte Judith nirgendwo erblicken können, als sie Irenes Gemach betrat, doch hütete sie sich trotzdem davor, ihre ehemalige Magd als Walthers Quelle zu nennen.

»Das hat er mir nicht erzählt, Euer Gnaden. Aber er ist gut darin, Dinge herauszufinden.«

»Wenn der Pfalzgraf sich von Euch für unsere Sache hat überzeugen lassen«, sagte Irene und bewies einmal mehr, dass sie alles andere als dumm war, indem sie sofort ihren Finger auf die Schwachstelle in Judiths Darstellung legte, »warum habt Ihr dann Walthers Hilfe gebraucht?«

Wenn Judith Irenes Schutz für Walther haben und verhindern wollte, dass Botho oder ein anderer der Leute des Bischofs, die in Braunschweig gewesen waren, später diese Anschuldigung aufbrachten, hatte sie keine andere Wahl, als Irene die Wahrheit über Gilles zu sagen. Nun, einen Teil der Wahrheit. Sie erinnerte sich, was Walther den Leuten des Kanzlers über den Grund der Flucht aus Braunschweig erzählt hatte, und formulierte ihre Aussage so, dass nichts an ihren Worten Walthers Geschichte widersprach.

»Man hat meinen Gemahl beschuldigt, sich mit einem anderen Mann vergnügt zu haben, und hätte ihn wohl hingerichtet. Dem Pfalzgrafen war die Angelegenheit peinlich, wegen irgendwelcher alten Gerüchte aus Aquitanien. Er konnte deshalb nicht offiziell einschreiten. Er wollte, dass wir beide vom Erdboden verschwanden, irgendwie. Das verhinderte Walther.«

Irene machte ein bestürztes Gesicht, nahm Judiths Hand und murmelte: »Als man mich nach Sizilien schickte, um vermählt zu werden, sagte mir meine Mutter, es sei weit besser für uns Frauen, wenn unsere Gatten die Ehe mit anderen Männern brächen. Zumindest hat man von diesen keine Bastarde zu erwarten, sie werden auch nie den Ehrgeiz besitzen, selbst die Gemahlin unserer Ehemänner werden zu wollen, und uns deswegen vergiften. Dennoch, es ist wohl nicht leicht, wenn einem so etwas zum ersten Mal geschieht.«

Offenbar waren in Byzanz die Sitten anders als im Reich. Gerade hier und jetzt war Judith erleichtert darüber.

»Euer Gnaden, um die Wahrheit zu sagen, haben Gilles und ich immer wie Bruder und Schwester zusammengelebt, in beiderseitigem Einvernehmen.«

Kopfschüttelnd meinte Irene: »Magistra, Ihr hättet bei mir bleiben sollen. Ich hätte einen besseren Gatten für Euch gefunden, wenn Ihr denn unbedingt heiraten wolltet.« Es war eine Spur dringlicher gesagt, als es reine Höflichkeit verlangt hätte. Judith fragte sich, ob ihr Irene den plötzlichen Abschied in Nürnberg doch noch nachtrug. Daher schluckte sie ihre erste Antwort hinunter, die daran erinnert hätte, dass sie nicht eines Gatten wegen gegangen war, und versuchte stattdessen, das Gespräch wieder auf den Grund ihres Hierseins zu lenken.

»Es ist nun einmal gekommen, wie es gekommen ist. Ich verspüre große Zuneigung für Gilles. Doch leider sind nicht alle Menschen so verständnisvoll wie Euer Gnaden. Walther, Gilles und ich reisten mit ein paar Leuten des Kanzlers nach Franken, und ihr Anführer hat uns alle drei wiederholt bedroht. Da es sich bei ihm um einen Neffen des Reichshofmarschalls handelt, ist er fest davon überzeugt, tun zu können, was er will.«

Die Königin ließ Judiths Hand los. »Ein Neffe des Reichshofmarschalls?«, wiederholte sie in einem undeutbaren Tonfall.

Bitte, dachte Judith. Bitte lass nicht all die Befürchtungen wahr sein. Es war weniger Angst um ihre Sicherheit, die sie plagte, sondern die Furcht, dass Irene sich als so erwies, wie es Stefan von allen Staufern und Walther von allen Fürsten glaubte. Wenn Irene, und mit ihr Philipp, nicht besser als Otto waren, dann waren Judiths Bemühungen bisher kleine Räder gewesen, die eine mörderische große Mühle aus Blut im Gang hielten, weil es keine gute Sache gab, für die man streiten, auf deren Sieg man hoffen konnte. Bitte!

»Ein Dienstmann namens Botho, Euer Gnaden. Er hat gedroht, dass seine Männer mir oder meinem Gatten Gewalt antäten. Und er hat mich mit dem Tod bedroht, falls ich nicht für ihn den Spitzel beim Bischof von Würzburg spiele.«

Die dunklen Augen der jungen Königin weiteten sich. Dann sagte Irene abrupt: »Ich werde mit dem Reichshofmarschall sprechen. Es kann nicht angehen, dass meine treuen Diener bedroht werden.« Noch ehe Judith die Gelegenheit hatte, erleichtert auszuatmen, fügte Irene hinzu: »Deswegen ist es ein Glück, dass Ihr mich nicht wieder verlassen werdet, Magistra, es sei denn, dass ich es wünsche.« Es war nicht laut gesprochen, nicht bedrohlich, sondern wie eine selbstverständliche Feststellung, und Irene lächelte. Doch Judith erkannte nun das verletzte Mädchen, das von dem ersten Menschen, zu dem es in einer verzweifelten Lage Zuneigung und ein gewisses Vertrauen gefasst hatte, verlassen worden war. Es war nicht so, wie Walther und Gilles befürchtet hatten, nicht so, dass sie Irene gleichgültig war, ganz im Gegenteil. Es war auch nicht so, dass die Königin ihr Böses wollte. Aber Irene hatte gelernt, Macht zu besitzen und Macht zu gebrauchen, und sie war nicht gewillt, ihren Schutz ohne Gegenleistung zu gewähren.

Es war ein eigenartiges Zwischending aus Erleichterung, Schuldgefühl und Resignation, das Judith erfasste.

»Zweifellos, Euer Gnaden … das ist ein Glück.«

* * *

Als Walther und Markwart in Bamberg eintrafen, wurden sie bereits erwartet. »Du hast es übertrieben«, brummte Markwart. »Dieser Botho wird beschlossen haben, dass er dich doch lieber in den Kerker werfen lässt, deine ominöse Liste hin oder her.«

»Abwarten«, gab Walther zurück, doch innerlich war er durchaus nicht so sicher.

Es stellte sich jedoch heraus, dass der Wächter, der sie in Empfang nahm, sie nicht zu Botho oder dessen Onkel brachte, sondern zu Philipp, der sich sehr viel umgänglicher zeigte als bei seiner letzten Begegnung mit Walther. Offenbar wusste er bereits, dass der Pfalzgraf zum Seitenwechsel bereit war, denn er bedankte sich bei Walther sogar für dessen Hilfe, diese gute Nachricht so rasch zu ihm gebracht zu haben. »Die Magistra Jutta ist voll des Lobes über Euch«, fügte Philipp hinzu.

Walther unterdrückte gerade noch rechtzeitig ein albernes Grinsen in seinem Gesicht und meinte, es sei ihm eine Freude gewesen, der Magistra behilflich sein zu können.

»Sagt, Herr Walther, habt Ihr ein paar neue Lieder verfasst, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben?«

Bei unserer letzten Begegnung sind Lieder überhaupt nicht zur Sprache gekommen, dachte Walther, aber sei’s drum. »Gewiss, Euer Gnaden. Es war sogar eine ausgesprochen fruchtbare Zeit für meine Muse.«

»Das tut gut zu hören. Wisst Ihr, es gibt eigentlich viel zu wenige Lieder, die den Menschen klarmachen, wie die Angelegenheiten der Kirche und die der Welt sich trennen lassen.«

Mit anderen Worten: Jetzt, da der Papst sich offen auf Ottos Seite gestellt hatte, konnte Philipp gar nicht genug scharfe Töne über Rom hören. Nun, Walther sollte es recht sein. Allerdings war er bei seiner letzten Begegnung mit Philipp abgekanzelt worden wie ein unwürdiger Diener, und er musste etwas klarstellen. »Selbst, wenn es mehr Lieder von dieser Art gäbe, wenn sie nicht von mir sind, Euer Gnaden, bestände die Gefahr, dass sie ungehört verhallen.«

Philipps Brauen zogen sich zusammen. Er wirkte immer noch jung, aber inzwischen zierte ein kurzer Bart sein Kinn, was ihn mehr als einen Fürsten und weniger als einen Knappen oder ehemaligen Mönch wirken ließ.

»Das mag sein, Herr Walther«, gab er gedehnt zurück, »doch bis es mir aus allen Ecken des Reiches entgegenschallt, dass der Papst zu jung für sein Amt ist und ich der einzig Richtige für meines bin, fehlt mir noch der Beweis, dass Eure Lieder so sehr gehört werden, wie Ihr das meint.«

Walther legte eine Hand auf die Brust. »Der Erzbischof von Köln hat sich in eigener Person über diese Lieder empört. Welch besseres Zeugnis für ihre Wirksamkeit kann man verlangen?«

»Wenn die Bischöfe sich nicht nur empören, sondern das Urteil des Heiligen Vaters so weit anzweifeln, dass sie auf meiner Seite bleiben, oder weitere kirchliche Würdenträger zu mir kommen, dann habt Ihr Eure Antwort«, entgegnete Philipp. »Fürs Erste jedoch soll es mir genügen, wenn Ihr für mich heute Abend spielt.«

»Nur heute Abend, Euer Gnaden?«, fragte Walther, entschlossen, einen weiteren Glückswurf zu wagen.

»Nun, ich plane, Weihnachten dieses Jahr in Magdeburg zu feiern, wie es sich für die Geburt unseres Herrn gebührt, wenn ein Jahrhundert zu Ende geht. Wie könnte ich das ohne einen guten Sänger?«

Es war keine Bitte, für immer an seinem Hof zu bleiben, doch es war in der Stimmung, in der sich Walther befand, Anerkennung genug. Am Ende war es doch nicht nötig, darauf hinzuweisen, dass er jederzeit nach Wien gehen konnte, denn es mochte sehr wohl sein, dass Judith recht hatte, was Leopold betraf.

Er hoffte, dass Botho genügend eingeschüchtert von der Lüge mit der Verräterliste war, um irgendwo eine gute Schlafstätte aufzutreiben, statt sich darauf zu besinnen, dass er Walther erdolchen und vorgeben konnte, verleumdet worden zu sein, sollten irgendwelche Listen auftauchen.

Die andere Möglichkeit war, dass Botho erst überprüfte, ob Judith wirklich die Leibärztin der Königin war, denn sonst stand es ihm frei, sein Mütchen an ihnen beiden zu kühlen. Diese Aussicht brachte Walther dazu, sein Vorsprechen bei Philipp zu beenden.

»Es wird mir eine Freude sein, für Euch zu singen, Euer Gnaden, und für Eure Gemahlin. Darf ich ihr meine Aufwartung machen?«

»Sie erwartet Euch bereits«, sagte Philipp zu Walthers Überraschung und nickte wohlwollend.

Irene befand sich nicht in dem Gemach, das man ihr zur Verfügung gestellt hatte; der Diener, der Walther zu ihr geleitete, führte ihn zu dem Garten hinter dem Haus des Erzbischofs von Bamberg, das sich auf der anderen Seite des Platzes befand, Dom und Kaiserpfalz gegenüber. Der Erzbischof selbst war krank und lag darnieder, teilte der Diener Walther mit, weswegen er nicht an Philipps Hoftagen teilnehmen konnte, aber es war ihm eine Freude gewesen, die Königin und ihre Damen in seinen Garten einzuladen, wo sie, statt vom Schweiß und der Pisse einer vollen Pfalz fast erstickt zu werden, Ruhe und Entspannung zwischen duftenden Blumen und Kräutern fanden. Die Sonne würde bald untergehen; da war es kein Wunder, wenn die Damen die letzten Abendstunden im Freien verbringen wollten.

Walther hatte den Verdacht, dass der Erzbischof von Bamberg seine Krankheit benutzte, ähnlich wie Adolf von Köln, um eine Entschuldigung zu haben, Philipp weder aus seinem Bistum zu werfen noch an seiner Seite gesehen zu werden, aber das kümmerte ihn nicht weiter. Er konnte Judith neben Irene ausmachen, unversehrt und gesund, und diesmal war es unmöglich, das Lächeln auf seinem Gesicht zu unterdrücken.

»Das Beste, was einem Mann geschehen kann«, sagte er und kniete vor Irene nieder, »ist, sich in einem Garten voller Rosen wiederzufinden – mit und ohne Dornen. Ich hoffe, Euer Gnaden befinden sich wohl?«

»Wie könnte es anders sein, mit meiner Ärztin an meiner Seite«, sagte Irene huldvoll und bedeutete Walther, sich zu erheben. »Es ist eine schöne Stadt«, sagte sie und zeichnete mit der Hand einen Halbkreis von dem mächtigen Klosterbau auf einem der Bamberger Hügel, der dem Domberg gegenüberlag, über die roten Ziegeldächer der Häuser hin, die sich zwischen die Hügel und das Flussufer schmiegten. »Ich glaube, sie wird uns Glück bringen, meinem Gemahl, mir und allen, die uns dienen.« Vielleicht hatte der Bischof doch erkennen lassen, dass er sich bald von seinem Krankenbett erheben würde, mit einer Predigt zu Philipps Gunsten? So klang diese Aussage jedenfalls für Walther.

»An so einem Tag«, sagte er und schob Kastrationsdrohungen und Ritter mit hochgestellten Verwandten zur Seite, »und in solcher Gesellschaft kann ich nichts anderes glauben.« Er schaute zu Judith und dachte daran, wie er vor genau zwei Tagen mit ihr unter einer Linde gelegen hatte. Sie hob ihre linke Hand, wie um ihre Kinnbinde zurechtzurücken, und ihre Finger legten sich wie ein Versprechen auf ihren Mund.

»Das habt Ihr sehr schön gesagt, Herr Walther«, gab Irene zurück. »Es tut mir leid, dass ich Euch bei unserer letzten Begegnung nicht anvertraut habe, wo die Magistra sich aufhielt, denn wie ich höre, wart Ihr dort ein Held. Nur eines wundert mich; wo ist denn nun der Gemahl, den Ihr dort unter Einsatz Eures Lebens gerettet habt?«

Die Frage verwunderte Walther; er machte sich nicht die Mühe, es zu verbergen. »Ist er denn nicht bei Euch?«, fragte er formell, jedoch an Judith gewandt. Sie schüttelte den Kopf, und ein beunruhigter Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht.

»Nachdem wir an der Kaiserpfalz ankamen, wollte er zurückkehren, um Euch den Weg zu sichern, Herr Walther«, sagte sie. »Schließlich gab es auf der Reise hierher … Vorkommnisse.«

Nun, das war sehr anständig von Gilles, dachte Walther, obwohl er nicht widerstehen konnte, darauf hinzuweisen, dass er seinen Kopf sehr gut selbst aus der Schlinge ziehen konnte. »Die gab es in der Tat, Magistra, doch glaubt mir, ich habe die Missverständnisse, die zu diesen Vorkommnissen führten, so gut geklärt wie alle anderen.« Jetzt schaute Judith nicht nur besorgt, sondern geradezu entgeistert drein, was an einem anderen Abend doch ein wenig kränkend gewesen wäre.

»Euer Gilles ist ein weitgereister Mann«, sagte die Königin zu Judith. »Er wird seinen Weg hierher bestimmt bald zurück finden. Vielleicht ist er einfach in der Stadt aufgehalten worden, oder die Wachen haben ihn allein nicht passieren lassen, nachdem er Herrn Walther nicht begegnet ist. Voll genug ist Bamberg ja dieser Tage.«

»Mag sein«, erwiderte Judith, »doch es wäre mir lieb, wenn er recht bald auftauchen würde. Euer Gnaden, könnte …«

»Herr Walther wird gehen«, sagte Irene bestimmt. »Ihr bleibt hier bei mir. Glaubt mir, ein Mann alleine kann sich sicherer und viel schneller den Weg durch die Gassen bahnen als eine Frau, und hat er Euch nicht schon einmal Euren Gatten zurückgebracht, Magistra?«

Auf diese Weise fand sich Walther nach einem sehr langen Tag auf einem Pferderücken statt in Judiths Armen oder bei der Vorbereitung für das nächtliche Festmahl, auf der Suche nach Gilles in den Gassen von Bamberg wieder. Er war darüber nicht glücklicher als Markwart, der ihm half. »Am Ende gibt es in dieser Stadt auch welche von denen«, knurrte Markwart. »Unter all den Kriegsknechten und Höflingen sind bestimmt welche. Und Gilles begeht irgendwo in einer dunklen Ecke die Sünde von Sodom, unter dem Vorwand, nach dir zu suchen.«

Walther schüttelte unwirsch den Kopf. Sie gingen den Weg vom Domberg zum Stadttor der Straße, die nach Würzburg führte, zweimal ab, dann zu den anderen Stadttoren, ohne Gilles zu finden.

»Vielleicht«, mutmaßte Markwart, »hat er das Weite gesucht.«

»Wie meinst du das?«

»Das würde ich an seiner Stelle tun: ein neues Leben anfangen, irgendwo, unter einem anderen Namen. Es ist ja nicht so, als ob dein Mädchen ihn noch braucht, oder er sie. Und wenn er bei ihr bleibt, dann kann er nicht mehr leben, wie er will.«

Das war, je länger Walther darüber nachdachte, gar nicht so unwahrscheinlich. Gewiss, Judith hatte mehrfach betont, dass sie und Gilles einander nie im Stich lassen würden. Jetzt war sie aber in Sicherheit. Judith als Leibärztin der Königin zurücklassen, konnte man keinesfalls als Verrat an ihr bezeichnen, und Gilles wusste gewiss alles, was es über Walther und Judith zu wissen gab. Wenn er, wie Markwart sich ausdrückte, das Weite gesucht hatte, dann konnte ihm Walther das nicht verdenken. Ihm selbst wäre es höchst unbehaglich zumute gewesen, das fünfte Rad am Wagen zu sein, und Gilles war als erfahrener Kriegsmann gewiss leicht in der Lage, irgendwo Brot und Unterkommen zu finden.

Nur etwas nagte an Walther, und das war, dass die Torwächter niemanden, auf den Gilles’ Beschreibung passte, durch eines der Tore hatten gehen sehen. »Das mag daran liegen, dass Gilles gar nicht auf die Straße nach Würzburg wollte«, mutmaßte Markwart. »Vielleicht ist er genau in die andere Richtung verschwunden, in der Gewissheit, dass ihn dort niemand vermuten wird. Oder er hat einen der Fischer oder Schiffer überzeugt, ihn ein Stück die Regnitz hinunter mitzunehmen.«

Inzwischen herrschte Dämmerlicht. Es war unwahrscheinlich, dass sie noch Bootsleute finden würden, um sie nach Gilles zu befragen. Walther entschied, dass genug genug war. Wenn Judith darauf bestand, konnten sie morgen ja weitersuchen. Doch gewiss würde auch sie erkennen, dass man Gilles seine Entscheidung treffen lassen musste.

Er war bereits auf dem Rückweg, denn er hatte ein paar Lieder vor dem König zu singen, als ihm zwei Männer entgegenkamen, die ihrer Kleidung nach Ritter waren, doch bestenfalls von niederem Adel. Etwas an ihnen war ihm vertraut, doch erst, als sie unmittelbar vor ihnen eine Schenke betraten, wobei einer von ihnen seinen Umhang raffte, löste die Bewegung eine Erinnerung in Walther aus. Das war Georg, jener Kreuzritter, der zu den Mördern von Judiths Vetter Salomon gehört hatte und der später ein Stück mit ihnen gen Westen geritten war.

Georg hatte Walther nicht erkannt, und Walther ging etwas schneller, was Markwart dazu veranlasste, zu grummeln, es gebe häufig auch zu eifrige Freier. Walther öffnete den Mund, um zu erklären, warum er schnell wegwollte, und schloss ihn wieder. Er hatte Markwart nie von jenen Ereignissen in Wien erzählt. Er wollte auch jetzt nicht darüber sprechen, jetzt, wo endlich alles zum Guten stand zwischen Judith und ihm, jetzt, wo sie die Vergangenheit endlich hinter sich lassen konnten.

Es war ein unglücklicher Zufall, dass jener Ritter aus Bamberg stammte und ihm hier wieder begegnete. Walther hörte Gelächter aus der Schenke und versuchte mit aller Gewalt, nicht daran zu denken, wie schnell eine frohe Runde Blut riechen konnte, oder bitter darüber zu sein, dass Friedrich von Österreich gestorben war, während weder Krankheit noch das Schwert eines Moslems den Ritter Georg von Bamberg zu seinem Schöpfer schickten.

Mit etwas Glück würde Philipp nicht lange in Bamberg bleiben. Schließlich hatte der König selbst erwähnt, dass er weiter nach Thüringen ziehen wollte. Deswegen brauchte Judith nie zu erfahren, dass einer jener Männer hier war.

»Warum machst du denn auf einmal ein Gesicht, als wäre dir eine Laus über die Leber gelaufen? Dem Gilles geht es gut, das schwör ich dir«, sagte Markwart. »Der atmet wahrscheinlich das erste Mal seit Wochen freier, weil er sich nicht mehr mit deinem liebeskranken Gesicht herumärgern muss.«

»Judith – die Magistra wird sich trotzdem noch Sorgen um ihn machen, das ist alles«, antwortete Walther.

»Dann sieh es als gute Gelegenheit an, sie zu trösten. Das kann sehr schön sein«, sagte Markwart und schauderte übertrieben. »Wenn sie sich trösten lässt. Dein Mädchen kommt mir manchmal wie ein Mann vor, bei dem es sich die Natur im letzten Augenblick anders überlegt hat. Kein Wunder, dass so ein Mannweib mit Gilles verheiratet wurde.«

»Ich kann dir versichern, dass sie in jeder Hinsicht eine Frau ist«, gab Walther zurück; der ungute Druck in der Magengegend, die üble Erinnerung an die Nacht in Wien wich der Gegenwart. Trotzdem entschloss er sich, morgen eine Kerze zu stiften und ein Lied zum Lobe Gottes zu schreiben, wenn Judith Georg nicht zu Gesicht bekam.

»Es wäre trotzdem besser gewesen, wenn Gilles irgendjemandem eine Botschaft anvertraut hätte«, sagte er.

»Walther, erinnerst du dich nicht, was er gesagt hat? Er träumte davon, noch einmal ein Abenteuer zu erleben – nur ein zimperlicher Dichter wie du würde da auf die Idee kommen, noch schnell einen Abschiedsbrief zu verfassen. Und jetzt genug davon. Was mich gerade mehr beschäftigt, ist: Müssen wir jetzt im Stall schlafen oder nicht?«, fragte Markwart. »Wenn nicht, dann werde ich noch einmal nach den Pferden sehen. Mich lässt man ohnehin nicht dabei sein, wenn du vor dem König singst.«

Jetzt musste sich zeigen, ob Walthers Lüge Botho gegenüber oder der Umstand, dass Philipp und Irene wegen der guten Nachricht aus Braunschweig dankbar waren, dazu beigetragen hatten, ihnen einen guten Schlafplatz zu sichern. Er fand nach einigem Suchen Philipps Haushofmeister, der in der Küche die letzten Vorbereitungen des Gastmahls überwachte, und hörte, dass Herr Botho bereits erklärt habe, sein Lager mit Walther und dessen Knappen teilen zu wollen.

»Und das ist Euer Glück, Herr Walther. Wirklich, Ihr hättet zu keinem ungünstigeren Zeitpunkt kommen können. Ich weiß nicht, wann hier zum letzten Mal ein Herrscher residiert hat, aber es muss ein Jahrhundert her sein. In dieser Pfalz ist alles zu knapp und zu klein, so schön die Stadt auch ist.«

Nun, mit diesem Schlafnachbar war es eigentlich nicht das, was Walther sich unter einer guten Schlafstätte vorgestellt hatte, obwohl der Neffe eines Heinz von Kalden gewiss nicht mit einem Strohsack vorliebnehmen musste. Er erkannte die Rache, welche darin lag: Botho rechnete bestimmt damit, dass Walther nicht viel Schlaf finden würde vor Angst, am nächsten Morgen nicht mehr zu erwachen. Auch Markwart machte ein Gesicht, als ob er just dies für die wahrscheinlichste Entwicklung hielt.

»Wenn er überzeugt wäre, er könne mir den Hals umdrehen, dann würde er sich selbst nicht danebenlegen«, beruhigte Walther sie beide. »Seinen eigenen Kopf will er ganz gewiss nicht verlieren, und als Mörder würde ihm genau das geschehen. Er will nur, dass die Nacht so ungemütlich wie möglich für uns ist.«

»Nun, ich werde bestimmt nicht schlafen«, sagte Markwart bedeutsam.

Es gab keine Möglichkeit, Judith vor dem Mahl noch zu sehen, um ihr das Ergebnis ihrer Suche nach Gilles mitzuteilen, also hoffte Walther, dass sie dort sein würde, und atmete erleichtert auf, als er sie hinter Irene stehend erspähte, zusammen mit zwei weiteren Damen. Er stellte mit Befriedigung fest, dass außer ihm zwar eine Menge Musikanten da waren, jedoch keine Sänger. Da der Erzbischof von Bamberg nicht anwesend war und Philipp erkannt hatte, dass es ihm nichts nützte, weiter den gehorsamen Klostersprössling zu geben, brauchte Walther keine Rücksicht zu nehmen, und sang »Sieh nur, wie christlich doch der Papst jetzt unser lacht!« mit allem Hohn, dessen er fähig war. Während die Gesellschaft noch dabei war, zu entscheiden, ob sie mehr entsetzt, belustigt oder wütend über das Lied war, ließ er die Reimerei folgen, die sich heute auf dem Weg von Würzburg hierher in seinem Kopf zusammengesetzt hatte, wenn er nicht gerade um sein Leben schwatzen musste.

Unter den Linden,
Bei der Haide,
Da unser beider Bette war.
Da könnet ihr finden
Wie wir beide
Die Blumen flechteten uns ins Haar.
Vor dem Wald in einem Tal,
Tandaradadei!
Sang so süß die Nachtigall,
War mit Lieb dabei.

Während er Strophe nach Strophe sang, war das Schweigen der Leute kein betretenes oder nur halb entzücktes wie bei dem Lied gegen den Papst; es war auch keine Gleichgültigkeit zu spüren, sondern es legte sich ein Samtmantel aus Wohlbefinden um Sänger und Zuhörer. Walther sah, dass Philipp die Hand Irenes ergriffen hatte, und das war ein schöner Tribut, aber nicht halb so gut wie Judiths Lächeln. Sein Lied über das Ende des Sommers, was er eigentlich noch geplant hatte, strich er; es hätte die Stimmung zwischen Judith und ihm nur verdorben. So überließ er die Empore den Gauklern und bahnte sich den Weg durch die Menge, was nicht so einfach war, weil ihn viele Gäste beglückwünschen wollten.

»Ein Lied aus der Sicht eines Mädchens«, sagte Philipps Schreiber, der ihm anerkennend auf die Schulter klopfte, »das erinnert mich an die alten Tagelieder, aber dieses besungene Mädchen ist doch bestimmt keine edle Dame. Und sagt, wenn Ihr Bett sangt, meintet Ihr tatsächlich …«

»Ein Lied muss für sich selbst sprechen, mein Freund«, gab Walther zurück und reckte den Hals, weil er Judith nicht mehr hinter Irene sah.

»Aber glaubt Ihr wirklich, dass …«

»Verzeiht, doch ich hörte, die Königin hat nach mir gesandt«, log Walther und ließ den Schreiber hinter sich. Wenn ihn Judith das nächste Mal wegen seiner Eitelkeit neckte, würde er darauf hinweisen, dass er ihretwegen auf Lob aus durchaus erfahrenem berufenem Mund verzichtet hatte. Nur konnte er sie immer noch nicht finden, und unglücklicherweise war der Nächste, der ihn aufhielt, kein anderer als Botho.

»Habt Ihr denn immer noch nicht genug?«, brummte dieser.

»Von was? Beifall? Werter Herr Botho, kein Mann hat je …«

»Davon, mir von meinem Onkel in die Eier treten zu lassen, du Hundsfott!«, knirschte Botho. »Ich habe getan, was du verlangt hast, also gab es keinen Grund, die Königin mit hineinzuziehen.«

Das war ein erfreulicher Hinweis darauf, dass Judith nicht nur von Irene wieder in Gnaden aufgenommen worden war, sondern auch erfolgreich um ihre Hilfe gebeten hatte, doch Walther hütete sich, Botho seine Schlussfolgerung erkennen zu lassen.

»Ja, ich habe gehört, dass Ihr und ich heute Nacht das Vergnügen haben werden, unser Zimmer zu teilen«, sagte er, »nachdem ich der Königin meine Aufwartung gemacht habe, nicht vorher.«

»Das wird kein Vergnügen für Euch werden«, gab Botho düster zurück, doch immerhin ließ er von Walther ab und beschränkte sich darauf, grimmig dreinzuschauen, statt weitere Drohungen auszustoßen, auch als Walther mit einem gespielten Seufzer hinzugefügt hatte, er fühle sich unter seinen Fittichen geborgen wie eine Seele im Himmel, bevor sie von den anderen Gästen getrennt wurden.

Er war erst drei Schritte weiter, als jemand von hinten die Hände auf seine Augen legte. Es waren kühle Hände inmitten des vollen Saales, der vor Menschen barst, langfingrige Hände wie die seinen, und daran erkannte er sie, während sie ihn nach hinten in eine ruhigere Ecke zog.

»Bin ich der Gefangene, dann müsst Ihr mir gestatten, mein Lösegeld zu bestimmen, Magistra«, sagte er auf seine höfischste Weise, doch er wusste, dass sie unter ihren Fingerspitzen fühlte, wie sich um seine Augen Lachfältchen bildeten.

»Ihr müsst mir ein Rätsel lösen. Wie wird aus einem Weinberg ein Wald und ein Tal?«, fragte sie.

»Nun, ganz so, wie aus einem Blatt eine Rose wird«, gab er zurück, drehte sich zu ihr um und küsste sie. Viele Menschen dürfte es ohnehin nicht geben, die zu ihnen schauten, und selbst wenn, dann war es ihm gleich. Jetzt gab es nichts mehr, das Judith und er befürchten mussten.

Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, bis sie sich von ihm löste.

»Ich bin sehr froh, dass du aus der Reichweite einer bestimmten Markgräfin bist, die dich missverstanden haben muss«, murmelte sie. »Es wäre eine Verschwendung von Gottes Gaben gewesen. Womit ich natürlich nur deine Dichtkunst meine.«

»Natürlich.« Er versuchte, einen weiteren Kuss zu stehlen, doch diesmal ergriff sie seine Schultern und hielt ihn zurück.

»Hast du Gilles gefunden, Walther?«

Erst in dem Moment, als er den Mund öffnete, um die Frage zu verneinen, traf Walther die Entscheidung, mit der er sich den ganzen Abend herumschlug, seit Markwart seinen Verdacht geäußert hatte. Wenn er ihr erzählte, was Markwart mutmaßte, dann war das immer noch keine Gewissheit, obwohl es mit größter Wahrscheinlichkeit stimmte. Doch es würde sie ruhelos lassen, und möglicherweise würde sie sich sogar verpflichtet fühlen, hier in Bamberg zu bleiben und weiter nach Gilles zu suchen, statt die Königin zu begleiten. In Bamberg, wo Ritter Georg und seine Freunde lebten, die es für eine Tat zu Ehren Christi hielten, Juden zu töten, egal wo sie diese fanden. In Bamberg, das der in Würzburg lebende Botho bestimmt öfter besuchte, der glaubte, dass Judith keine echte Christin war.

»Ja«, sagte Walther. »Aber er wird nicht zurückkommen. Er will ein neues Leben anfangen, nach allem, was geschehen ist. Das verstehst du gewiss. Er wünscht dir alles Glück der Welt.«

Judith trat einen Schritt zurück. Bestürzung, Schuldgefühl und Trauer traten in ihr Gesicht. »Aber – aber wohin …«

»Das hat er mir nicht verraten«, sagte Walther rasch, »doch ich hatte den Eindruck, dass er seine Heimat wiedersehen will.«

Sie biss sich auf die Lippen. »Ich hätte mehr für ihn da sein müssen«, sagte sie leise. In dem Festlärm verstand Walther sie beinahe nicht, doch als er begriff, schüttelte er den Kopf.

»Nein, nein. Du warst alles, was ihn noch hier gehalten hat, und er dankt dir für all das Gute«, spann er seine Lüge weiter, denn in der Kunst, zu wissen, was die Menschen hören wollten, war er sehr erfahren, »was du ihm durch deine Freundschaft in sein Leben gebracht hast. Doch nun, da er dich sicher und geliebt weiß, da fühlte er sich frei, zu gehen. Er hätte es dir selbst gesagt, doch der Abschied fiel ihm zu schwer.«

Judith blinzelte und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen, wie um eine Träne wegzuwischen, doch wenn sie weinte, dann ließ sie es nicht erkennen. Stattdessen blickte sie Walther in die Augen. »Das hat er gesagt?«

Er wusste, was auf dem Spiel stand. Er konnte nicht vorgeben, es nicht zu wissen; es hatte lange gedauert, doch nun vertraute ihm Judith, nun liebte sie ihn, nun war sie bereit, das auch zuzugeben. Wenn sie herausfand, dass er dieses gerade erst errungene Vertrauen so schnell benutzte, um sie anzulügen, würde sie ihm das nicht verzeihen.

Aber es ist keine Lüge, sagte sich Walther, nicht wirklich, denn es ist so gut wie die Wahrheit. Er war sich mittlerweile sehr sicher, dass Gilles es geradeso gehalten hatte. Außerdem war es zu Judiths Bestem. Am Ende rettete er sie mit dieser Lüge vor diesem Ritter Georg und somit ihr Leben. Walther unterdrückte die Stimme in seinem Herzen, die wie Judiths klang und ihn einen Lügner nannte. »Das hat er.«

»Ich kann hier nicht atmen«, sagte Judith und ergriff seine Hand.

»Und ich«, entgegnete er und schob alle Zweifel und Gewissensbisse endgültig von sich, »kann mir nichts Schöneres vorstellen, als mit dir draußen die Sterne zu betrachten.«

Das Spiel der Nachtigall
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